Christiane Kaess: EU-Chefunterhändler Michel Barnier und Großbritanniens Brexit-Minister David Davis kommen heute wieder in Brüssel zusammen. Die Verhandlungen über die Trennung Großbritanniens von der EU sollen einen möglichst reibungslosen Austritt des Königreichs im März 2019 aus der EU ermöglichen. In zentralen Punkten liegen beide Seiten aber noch weit auseinander. Darüber möchte ich jetzt sprechen mit dem britischen Politikwissenschaftler Anthony Glees. Guten Morgen, Herr Glees.
Anthony Glees: Guten Morgen, Frau Kaess.
Kaess: Aus Ihrer Sicht, wer ist schuld, dass die Verhandlungen so zäh verlaufen?
Glees: Ich glaube, die britische Regierung und die Ahnungslosigkeit über die große Politik vom Brexit. Wissen Sie, die britische Regierung will einfach nur in eine Position kommen, wo sie zu den britischen Wählern sagen kann, wir lassen uns jetzt nichts mehr von Herrn Juncker sagen, wir lassen uns nichts mehr vom Europäischen Gerichtshof sagen, alle Entscheidungen machen wir jetzt in London.
Wähler hätten den Brexit gewollt, wollten aber nicht ärmer werden
Kaess: Das wollten die Wähler ja auch.
Glees: Das wollten die Wähler. Aber die Wähler wollten auch nicht ärmer werden. Die wollen auch immer noch mit der Europäischen Union handeln, und das ist für die britische Regierung das große, große Problem. Es war natürlich eine große Ahnungslosigkeit von den Konsequenzen vom Brexit für Großbritannien, und das sehen wir nicht nur in den wirtschaftlichen Sachen, nicht nur in den Fragen über Nordirland, sondern auch, was die Sicherheit angeht. Was wir in Barcelona gesehen haben, war wieder, dass wir gemeinsamen Feinden in Europa gegenüberstehen, und es ist unsinnig, aus Europol und dem allem rauszufliegen, wenn wir sagen, wir wollen den Europäischen Gerichtshof nicht anerkennen. Also wir waren darüber ahnungslos, das war das Problem.
Brexit-Minister: Verhandlungsposition "konstruktive Mehrdeutigkeit"
Kaess: Herr Glees, bleiben wir noch ein bisschen bei der Taktik der Verhandlungen. Wir haben jetzt gerade gehört, Brexit-Minister David Davis, der spricht von konstruktiver Mehrdeutigkeit, die die Verhandlungen bräuchten. Verstehen Sie das?
Glees: Das ist ein reiner Blödsinn. Was er damit meint ist, dass es verschiedene Optionen gibt für die Tories im Unterhaus, damit sie gerade das sagen können, was ich schon gesagt habe, dass nichts mehr von Herrn Juncker angeboten werden. Das ist eigentlich die Grundposition. Das ganze andere ist eigentlich von einer Sinnlosigkeit geprägt, die wohl in der Geschichte seinesgleichen sucht.
"Corbyn ist seit 50 Jahren Feind der EU"
Kaess: Woher kommt das denn? Wie kann das sein?
Glees: Wie kann das sein? Das kommt von jahrelangen Problemen innerhalb der konservativen Partei mit Europa, wo auch von David Cameron Europa ständig angeschimpft worden war und die Vorteile und auch die Konsequenzen nie eigentlich richtig in der Öffentlichkeit diskutiert wurden. Und jetzt haben wir auch die Änderung, wie Sie richtig berichtet haben, in der Labour Party. Corbyn ist seit 40 Jahren Feind der Europäischen Union. Sein Vize McDonnell ist auch aus sehr links liegenden politischen Gründen gegen die Marktwirtschaft. Aber die Mehrzahl der Labour-Mitglieder wollen nicht aus der Europäischen Union fliegen. Die Wähler, das ist eine andere Sache, aber die Mitglieder, die sind europafreundlich, und jetzt sieht Jeremy Corbyn seine Chance, damit groß zu taktieren, und es kann ihm auch gelingen, dass er demnächst in Downing Street einzieht. Frau May, von der hört man überhaupt nichts.
Premier May unter "sehr, sehr heißem Druck"
Kaess: Aber das wäre jetzt genau meine Frage gewesen. Dieser Vorschlag jetzt von der Labour-Partei, längere Übergangsfrist, der Binnenmarkt bleibt so, wie er ist, wie sehr setzt das Premierministerin May tatsächlich denn unter Druck?
Glees: Unter sehr, sehr heißen Druck. Es kann für sie sehr, sehr schwierig sein, denn besonders in Großbritannien dauert nichts so lange wie eine Übergangslösung. Es gibt viele Anzeichen dafür, wenn David Davis von Herrn Barnier irgendwie eine Übergangszeit angeboten bekommt, dass dann diese Übergangszeit auf Jahre hinausgehen kann.
EU solle sich bei den Verhandlungen nicht selbst verletzen
Kaess: Das wäre dann gar kein Brexit mehr, oder wie würden Sie das interpretieren?
Glees: Das ist kein richtiger Brexit und so wie schon gleich nach dem 17. Januar dieses Jahres, wo Theresa May noch sehr stark war und ihre große Rede in Lancaster House gab, wenn man genau hinhörte, was sie sagte, war es auf der einen Seite ein Brexit, aber auf der anderen Seite soll alles so weiter verlaufen wie bisher. Deswegen sage ich, es ist eigentlich ein Blödsinn. Die Scheidung soll sachlich sein. Es wird eine Scheidung geben. Aber was am wichtigsten ist, ist, dass durch die Verhandlungen die EU sich selber nicht verletzt. Das ist jetzt sehr wichtig.
Kaess: Das würden Sie offenbar der EU raten. Aber diese Verhandlungen gestalten sich ja wirklich schwierig. Jetzt will die britische Regierung den EU-Austritt und die künftigen Beziehungen gleichzeitig besprechen, obwohl es einen Fahrplan gibt, der das ganz anders vorsieht, erst das eine und dann das andere. Was will die britische Regierung mit dieser Taktik erreichen?
Glees: Wenn man die Phrase konstruktiver Mehrdeutigkeit als Verhandlungsposition ansieht, dann versteht man sofort, warum es für Herrn Barnier so wahnsinnig schwierig sein muss. Wie kann man mit Mehrdeutigkeit irgendwie zu einer Position kommen?
Brexit-Folgen seien in Pfund-Entwertung schon spürbar
Aber Großbritannien ist zurzeit in einer Phase, wo die Leute radikal sprechen, radikal denken, ohne eigentlich zu spüren. Bis jetzt ist das Einzige, was sie gespürt haben vom Brexit, die Entwertung des Pfundes um 18 Prozent dem Euro gegenüber. Das ist schon arg für die Briten, besonders natürlich für die, die gerade nach Spanien gereist sind, und es kann sein, dass sie doch noch zu Sinnen kommen. Es ist möglich, Frau Kaess.
Kaess: Das heißt, Herr Glees, Sie würden sagen, die Folgen des Brexits sind durchaus jetzt schon richtig zu spüren?
Glees: Durchaus richtig zu spüren. Das wird von der Boulevard-Presse wohl anders beschrieben, aber diese harte Zahl, die Entwertung des Pfundes von 18 Prozent, das wird wohl die Gemüter enthebeln und für Frau May ist es sehr, sehr schwierig. Ich habe gemeint, sie würde erst einige Tage noch Premierministerin bleiben nach Juni, aber die Stärke von Jeremy Corbyn und die Stärke von Labour haben komischerweise ihre Position von Machtlosigkeit gestärkt. Und die Tories wollen vor allen Dingen Labour aus 10 Downing Street halten und das wird auch die Verhandlung in Brüssel prägen müssen.
"Es kann jeden Tag zu Neuwahlen kommen"
Kaess: Aber, Herr Glees, wenn ich Sie jetzt so reden höre, dann frage ich mich: Sehen Sie denn schon wieder Neuwahlen voraus?
Glees: Es kann jeden Tag zu Neuwahlen kommen. Die Mehrheit, die Frau May im Unterhaus hat, durch diese sehr rechts liegende protestantische Partei aus Nordirland, ist jederzeit mit zehn Tory-Stimmen zu neutralisieren. Es brauchen nur zehn Tories zur Position von Jeremy Corbyn hinüberzulaufen, und das werden wir in den nächsten Tagen sehen, wo es eine Wahl über den Europäischen Gerichtshof geben wird. Dann ist Frau May fertig, dann gibt es Neuwahlen und ich glaube, Jeremy Corbyn kommt dann in Downing Street. Es scheint unglaublich, aber die Politik bei uns ist schon seit einiger Zeit sehr labil, und mit Sicherheit ist nichts vorauszusagen.
Brexit-Minister könnte unter Druck der Tory-Rechen zumachen
Kaess: Eine interessante Vorhersage ist das. Wir werden das natürlich weiter verfolgen. – Noch zum Schluss kurz, Herr Glees. Halten Sie es für möglich, dass die Verhandlungen mit Brüssel komplett eskalieren, vielleicht auch schon diese Woche, und das Verhältnis dann noch mehr zerrüttet ist?
Glees: Es ist sehr möglich, dass David Davis von den Rechten in seiner eigenen Partei unter so großen Druck gesetzt wird, dass er einfach zu Brüssel Nein sagt. Aber dann sinkt Großbritannien endlich. Das wäre der größte Fehler in der britischen Politik seit dem zweiten Weltkrieg, vielleicht seit dem Verlust der amerikanischen Kolonien durch George III.
Kaess: Die Meinung des britischen Politikwissenschaftler Anthony Glees. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen.
Glees: Gerne, Frau Kaess.
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