Die Aufklärung war nicht von Dauer, aber sie hat dauerhafte Wirkungen entfaltet. Das ist heute unter Kennern und Interessierten am 18. Jahrhundert ein Gemeinplatz. Dabei ist die Aufklärung unerledigt, unaufgehoben, unvollendet, ja unvollendbar geblieben in einem komplizierten Sinne – als konkretes Reformunternehmen, als selbstreflexiver Epochendiskurs und als ein übergreifendes Projekt der Menschheitsgeschichte.
Heute wissen wir, dass die Vernunftordnungen des Aufklärungszeitalters auch schon vor 200 Jahren als gefährdet betrachtet wurden, dass sie oft genug als dunkel und verworren, als regellos und zufällig erschienen, dass man sie vom Chaos oder von 'ungeordneter Mannigfaltigkeit' bestimmt glaubte, wie es bei Kant hieß. Besonders die Denker und Dichter des späten 18. Jahrhunderts haben erkannt, dass man vor der Selbstermächtigung des Rationalen, vor dem Mythos seiner Allgewalt auf der Hut sein musste, weil Aufklärung nicht allein in der Ausbildung der Verstandeskultur bestehen konnte, sondern eine "schwere und langsam auszuführende Sache" war, ging es doch darum, ein ganzes Zeitalter, ja eine ganze Zivilisation vernünftiger werden zu lassen.
Selbstdenken, hatte Kant gesagt, sei der Anfang vom Ende der Unmündigkeit, gewiss, aber das Denken allein konnte die Welt nicht besser, nicht moralischer, freier, lebbarer machen. Deshalb hat der Königsberger Philosoph dem Geistesüberschwang seines Jahrhunderts klare Grenzen des reinen Vernunftvermögens entgegen gehalten. Wenn der Verstand allein keine Emanzipation des Menschen garantiert, dann muss die so viel beanspruchte Vernunft zur moralischen Kraft, zu so etwas wie einer Herzenssache unter den Zeitgenossen werden.
Der kritische Kant-Schüler Johann Gottfried Herder hat damals den "aufgeklärten, unterrichteten, feinen, vernünftigen, gebildeten, tugendhaften, genießenden Menschen" als Erziehungsziel vor Augen, doch gerade deshalb beklagt auch er, dass Aufklärung "nie Zweck, sondern immer [nur] Mittel" sei. Sie drohe ständig zur theoretischen Kultur zu missraten, wie es bei Schiller heißt, weil sie sich allzu leicht zu "Letternkram", zur bloßen "Klügelei" verdünnt, diesem "Modegespenst" des 18. Jahrhunderts. Ja, die überfeinerte Kultivierung des Vernünftigen kann die Menschheit geradezu ins Verderben führen, schreibt Herder:
"Aufklärung! Wir wissen jetzt so viel mehr, hören, lesen so viel, dass wir so ruhig, geduldig, sanftmütig, untätig sind."
Der Mensch ist Kant zufolge ein "krummes Holz", ausgestattet mit "selbstsüchtigen, tierischen Neigungen" - wie soll man diesem Gattungswesen den Segen des Vernünftigen erteilen und es 'mündig' werden lassen? Das ist schon am Ende des 18. Jahrhunderts ein Kernproblem jeglicher Aufklärung. Es bleibt trotz umfassender Vernunft beim "Helldunkel" aller verflossenen und künftigen Geschichte, fürchten etliche Denker damals. Der "Zeitpunkt der höchsten Verfeinerung" sei immer auch einer der "äußersten sittlichen Verderbnis" gewesen. Und jede Epoche der Aufklärung werde weiterhin dazu führen, dass sich alle "Arten von Spekulation, Wahnsinn und praktischer Schwärmerei" verdächtig stark entfalten. Georg Forster, der Weltumsegler, Naturforscher und Revolutionär, schreibt:
"Das Ziel des Abenteuers Aufklärung besteht in der uneingeschränkten Herrschaft der Vernunft bei unverminderter Reizbarkeit des Gefühls. Diese Vereinigung ist das große, bis jetzt noch nicht aufgelöste Problem der Humanität."
Forster weiß sehr wohl, dass unter der dünnen Zivilisationsfolie der 'Vernunft' ein Laboratorium des "Unbestimmbaren" brodelt, "unabhängig von Erfahrung, Entwicklung und äußerer Kunde". Was bei Freud später als 'Es' aus den Seelenkammern des Unbewussten heraufdämmern wird, hier ist es längst schon erahnt worden. Nicht nur an den "Ausgeburten" des Verstandes hatte sich die künftige Evolution des Menschengeschlechts abzuarbeiten, sondern an einem tief sitzenden anthropologischen Phänomen, das der bloßen Vernunft kaum zugänglich sei:
Jenem unvorgreiflich Wirkenden in uns, dieser unbedingten Intension der Grundkräfte und Triebe.
Die Aufklärung hat es also auch und immer wieder mit dem 'Anderen' der Vernunft zu tun, mit der "tierischen Natur" des Geisteswesens Mensch, wie Schiller sagte. Aufklärung ist ein anstrengendes Geschäft, weil sie die gesamte humane Gattung im Blick behalten muss. Und weil sie für ihr Kultivierungsgeschäft einen langen Atem und grenzenlose Geduld benötigt.
Eben dieses optimistische Aufbruchs- und Erziehungsunternehmen möchte Manfred Geier an seiner europaweiten philosophischen Ausdehnung jetzt noch einmal im Überblick vorstellen. Ja, es ist wahr, im 18. Jahrhundert gab es eine grenzüberschreitende Republik der Gelehrten, ein brillierendes "Commercium der Geister", das auf einem erstaunlich modern wirkenden, teils untergründigen, teils offenen Lese- und Diskursgeflecht beruhte.
Unabsehbar sind die Hin- und Herströme zwischen den europäischen Dichtern und Denkern. Nicht nur korrespondierten die Philosophen und Staatstheoretiker, die Künstler und Wissenschaftler miteinander, sie besuchten sich wechselweise in ihren Werkstätten und Gesprächszirkeln, sie lasen, übersetzten, kommentierten und diskutierten ihre jüngsten Geisteserrungenschaften. Sie wetzten ihre Geistesschärfe an unterschiedlichsten Überzeugungen, Ideen und Theorien und fochten nicht selten gewitzte Kontroversen aus.
Aber sie alle waren sich einig in gewissen Axiomen und Kerngedanken der Aufklärung als eines europäischen Projekts zur Zivilisierung der künftigen Menschheit. Aufklärung – das ist seit dem 18. Jahrhundert, nach Renaissance und Humanismus, die große Erzählung, mit welcher der alte Kontinent die frühe Neuzeit in die Moderne hinüber zu retten sich aufmacht.
Manfred Geier traut solchen großen Erzählungen nicht besonders, er möchte stattdessen sieben ausgewählte Lebens- und Werkgeschichten erzählen. Und das unter dem Gesichtspunkt der Aktualität von Aufklärung:
"Jeder einzelne Fall exemplifiziert auf seine besondere Weise eine allgemeine Intention, sei es der politische Liberalismus, die jüdische Emanzipation oder die Gleichberechtigung der Frau, sei es die Naturalisierung des Menschen, seine humorvolle Moralisierung oder seine Erziehung zur Mündigkeit. Es sind unterschiedliche Charaktere, denen wir begegnen, vom nüchternen Denker bis zur libertinen Frauenrechtlerin, vom gebildeten Juden bis zum atheistischen Freigeist. Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, ohne einen festen Typus identifizieren zu können; und folgen Diskursen, in denen sich die Gedanken vielstimmig überschneiden und kreuzen, gegenseitig stabilisieren oder aneinander reiben. Es geht uns nicht um ein Lehrbuch, sondern um dramatische Geschichten von Menschen und Büchern, die uns zum Nachdenken und Mitmachen im Geist der Aufklärung einladen."
Weil für Manfred Geier die Aufklärung in England ihren Ausgang nimmt, nämlich exakt im Jahre 1689 mit der Glorreichen Revolution, und weil sie genau 1789 endet mit der Französischen Revolution, geraten als Initialfiguren zunächst die Moral- und Staatsphilosophen Locke und Shaftesbury in den Blick des Autors, danach die französischen Enzyklopädisten, denen Kant und Mendelssohn folgen, welche wiederum abgelöst werden von der Revolutionärin Olympe de Gouges und dem deutschen Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt. Karl Popper und Hannah Arendt bilden für Geier die beiden intellektuellen Bezugsgrößen, an denen die Frage der Aktualität des Aufklärerischen entfaltet werden soll.
John Locke, einer der maßgeblichen Begründer der modernen Naturrechtsidee, ist nicht nur als Staatsdenker, sondern zugleich als Erkenntnis- und Moralphilosoph von epochaler Bedeutung für die Geschichte der europäischen Aufklärung. In Zeiten des noch weithin herrschenden Ancien régimes, konfessioneller Streitereien und abstruser Gottesbeweisdebatten wirbt dieser besonnene, politisch belehrte Mann für eine selbstreflexive und moderate Form der Aufklärungskultur:
"Die Leuchte, die in uns entzündet ist, strahlt für alle unsere Zwecke hell genug. Die Entdeckungen, die wir mit ihrer Hilfe machen können, müssen uns genügen. Und wir gebrauchen unseren Verstand dann richtig, wenn wir alle Objekte in der Weise und in dem Maße betrachten, wie es unseren Fähigkeiten entspricht. Und wenn wir sie auf solche Gründe hin untersuchen, die uns zugänglich sind, nicht aber unbedingt in maßloser Weise einen Beweis verlangen und Gewissheit fordern, wo nur Wahrscheinlichkeit zu erlangen ist, die ausreicht, um alle unsere Angelegenheiten zu besorgen."
Immanuel Kant wird dem englischen Kollegen John Locke, auf dem Gipfel der transzendentalen Reflexion, in manchem folgen. Keine kirchliche Glaubensdogmatik mehr, sondern klar eingegrenzter, differenzierter Menschenverstand, ausgehend von den sinnlichen Gewissheiten, immer im Maßverhältnis mit dem gesellschaftlich Zuträglichen und Vernünftigen.
Aber vor allem Lockes liberale Theorie der Menschenrechte und sein Plädoyer für die selbstbestimmte Bürgergesellschaft finden im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer mehr begeisterte Anhänger. Der Bürger als Gentleman, als tugendhafte und lebenskluge, als witzige und gesellige Sozialfigur – das hat die europäische Aufklärung von Denkerköpfen wie Locke und Shaftesbury gelernt, die gesamte Empfindsamkeitsbewegung der damaligen Zeit wäre ohne diese beiden Protagonisten nicht denkbar.
Manfred Geier sieht hier zu Recht einen erstrangigen britischen Exportartikel in Sachen Aufklärung für ganz Europa, zunächst für Frankreich, wo bald die bösen Philosophen ihr kritisches Wesen treiben:
"Es waren französische Philosophen, welche die englischen Anregungen aufnahmen und auf ihre Weise weiterentwickelten. Sie waren schärfer, kritischer, kühner und respektloser als ihre englischen Vorläufer. An die Stelle des gebildeten und gut erzogenen Gentleman traten die kämpferischen 'bösen Philosophen'. Sie neigten mit unterschiedlicher Strenge zum Atheismus und Materialismus. Sie versuchten, die Welt ohne übersinnliche Transzendenz und religiöse Sinngebung zu begreifen. Sie liebten das Diesseits mit seinen natürlichen Reichtümern. Sie wollten tugendhaft sein ohne sicheres Gottesvertrauen und ohne Hoffnung auf einen Lohn im ewigen Jenseits. Sie lenkten ihre Aufmerksamkeit auf das, was Menschen tun, wenn sie ihren Leidenschaften folgen, das gesellige Leben genießen wollen und ihre Gedanken mit- und gegeneinander entwickeln."
Eine tiefgreifende Krise des europäischen Geistes und eine dramatische Veränderung der Sozial- und Staatenwelt ziehen nun herauf, die alte Feudalaristokratie und ihr absolutistisches Machtsystem geraten zunehmend unter Legitimationsdruck, denn eine vielfältig schillernde bürgerliche Oppositionsintelligenz macht in neuen Formen und Medien der Öffentlichkeit von sich reden. Diese Freidenker und Libertins, versammelt in Salons und Kaffeehäusern, in Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen, bald auch in der berühmten 'Enzyklopädie', wollen alles vor den Richterstuhl der Vernunft ziehen, alles beurteilen und debattieren, die überkommene Herrschaftswelt genau so wie die Kirchen, den Glauben nicht weniger als das Wissen und das Gehorchen.
Ludwig XIV. will eine neue Gegenreformation einleiten und jede Religionstoleranz vergessen machen, er treibt die Hugenotten aus dem Land und gebärdet sich als autokratischer Sonnenkönig. Gerade damit jedoch wird er zum Geburtshelfer des brillanten und kritischen Oppositionsgeistes jener Voltaire und Rousseau, der Diderot, La Mettrie, Hélvetius, Holbach und d' Alembert:
"Die französische Metropole wurde zum Zentrum einer libertinen und frei denkenden Gesellschaft von Individuen, die einen eigenwilligen Stil des Denkens, Debattierens und Schreibens erprobten. 'Le philosophe' entwickelte sich zu einem neuen sozialen Typus und einer neuen Kraft in der Geschichte. Für sie war die Vernunft keine in sich ruhende Weisheit mehr, sondern kritische Kühnheit. Gegen die Idee der Pflicht, die den Menschen in Hierarchie, Disziplin, autoritär gesicherte Ordnung und religiöse Dogmatik eingliederte, setzten sie eine Kultur der Kritik, die sich auf die Idee des Rechts zu gründen versuchte: auf das Recht des persönlichen Geschmacks und Urteilsvermögens, des zwanglosen Räsonierens und freien Verstandesgebrauchs, der religiösen Glaubensfreiheit und der politischen Natur- und Menschenrechte. 'Ich denke frei' wurde zur magischen Formel von Philosophen, die nur ihrem eigenen Willen und der logischen Kraft ihrer eigenen Vernunft folgen wollten."
Manfred Geier zeigt in einlässlichen Studien, wie sehr die biografischen Verwerfungen und politischen Konflikte dieser Denker im Zusammenhang mit ihrem Vernunft-, Natur- und Freiheitsdenken zu sehen sind. Mehrfach sitzt der satirische Freigeist, Poet, Kirchen- und Staatsprovokateur Voltaire in der Bastille ein, dräuend werden die glaubenskritischen Schriften des Bohémien Diderot verbrannt und er selber eingekerkert, man jagt den ätzenden Kulturkritiker Rousseau außer Landes, der im Namen des natürlichen freien Menschen kein gutes Haar lässt an Kirche, Staat und Aristokratie, an Wissenschaft und Fortschritt. Und man verfolgt schließlich das große Vernunftwerk der 'Enzyklopädie', das sich anmaßt, den gesamten Wissensstand der Zeit - jenseits von Offenbarung und Glauben - auf vernünftige Begriffe zu bringen. In über 70.000 Artikeln nehmen die Enzyklopädisten den Kampf auf mit der Obrigkeit, mit allen Dogmatikern des Glaubens und des Wissens, sie ziehen sich bald den Zorn der Kirche und des Königs zu, ihre Arbeiten werden verketzert, verboten und verbrannt, sie selbst geschmäht und verfolgt. Eines ihrer schlimmsten Vergehen lautet: die Naturalisierung des Menschen. Statt der Gotteskindschaft aller Individuen, statt der christlich verbürgten Dualität von Leib und Seele nun ein wahrer Exorzismus des Glaubens, die unselige Experimentalphysik von Geist und Moral, als handele es sich dabei um bloße Naturphänomene:
"Nur wenn der Mensch sich als Teil der Natur versteht, kann er sich von den Gespenstern befreien, mit denen politische Despoten und religiöse Tyrannen die Menschen irreführen, erschrecken und kontrollieren. Sein Glück kann er nur finden, wenn er über sein eigenes natürliches Wesen aufgeklärt ist."
Dass die Dialektik der Aufklärung aber auch in Fanatismus, Wahn und wahre Mordlust ausarten kann, zeigt Geier am Beispiel der Frauenrechtlerin Olympe de Gouges, die wegen des kompromisslosen Eintretens für die Mündigkeit der Weiber und gegen jede Form von Sklaverei auf dem Schafott des Glücksdiktators Robespierre ihr Leben lassen musste. Kant hatte geschrieben:
"Jeder Mensch hat den Anspruch, selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt, und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden. Hierin, und nicht in der Vernunft, wie sie bloß als ein Werkzeug zur Befriedigung der mancherlei Neigungen betrachtet wird, steckt der Grund der so unbeschränkten Gleichheit des Menschen."
Doch so viel Egalität wird den Frauen noch lange nicht zugestanden. Als Olympe de Gouges damals fragt: 'Mann, bist du fähig, gerecht zu sein'? haben sich nur wenige Stimmen für sie erhoben. Selbst Kant, der dem weiblichen Geschlecht in der Theorie jede Gleichheit zugesprochen hat, glaubt vor ihren allzu waghalsigen Mutproben in der Praxis warnen zu müssen.
Überhaupt, die Aufklärung in Deutschland, auch sie ist ein Teil dieses europaweiten bürgerlichen Aufbruchs- und Reformprojekts gewesen, allerdings weniger radikal als in Frankreich und nicht so stark mit politischem Pragmatismus aufgeladen wie in England. An dem jüdisch-deutschen Philosophen Moses Mendelssohn und an Wilhelm von Humboldt möchte Geier den deutschen Traum von der Aufklärung nachvollziehbar machen.
Der kleine, verwachsene Jude aus Dessau bringt es im friderizianischen Berlin nach mühevollen Arbeitsjahren zum wohlhabenden Geschäftsmann und europaweit geachteten Denker und Vermittler in der vertrackten deutsch-jüdischen Kultursymbiose. Als ein 'deutscher Sokrates' plädiert Mendelssohn für religiöse und geistige Toleranz, für ein vernünftiges Verhältnis von Wissen und Glauben, und sucht immer wieder den ausgleichenden, gelegentlich auch polemischen Diskurs mit vielen Aufklärern seiner Zeit. Obwohl mehrfach provoziert, Moses Mendelssohn, der jüdische Weltweise aus Berlin, lässt sich nicht zum christlichen Proselyten machen. Wenn Kant gefragt hatte: "Was ist Aufklärung?" - so antwortet ihm Mendelssohn, dass der bloßen Verstandesentwicklung unbedingt die kulturelle Zivilisierung der Menschen zur Seite treten müsse, die Macht der Vorurteile und der sozialen Stigmatisierung hatte er in seinem eigenen Leben hinreichend erfahren:
"Wir träumten von nichts als Aufklärung. Und glaubten durch das Licht der Vernunft die Gegend so aufgehellt zu haben, dass die Schwärmerei sich gewiss nicht mehr zeigen werde. Allein wie wir sehen, steiget schon, von der andern Seite des Horizonts, die Nacht mit all ihren Gespenstern wieder empor. Das Fürchterlichste dabei ist, dass das Übel so tätig, so wirksam ist. Die Schwärmerei 'tut', und die Vernunft begnügt sich zu 'sprechen'."
Die Erfahrung einer allzeit gefährdeten Aufklärung, deren Vernunft- und Friedensideen dennoch bis ins 21. Jahrhundert herüberreichen. An der heutigen Kant-Debatte, auch an traditionsbewussten Denkern wie Karl R. Popper und Hannah Arendt sieht Geier diesen Zusammenhang bestätigt. Aufklärung als der Versuch, jene 'ungesellige Geselligkeit' der Menschheit in einen weltbürgerlichen Zustand umzugestalten, den 'ewigen Frieden' auf der Basis eines anerkannten Völkerrechts zu erlangen - das sind nach Kant Vorstellungen, die sich in der Geschichte niemals wieder verlieren werden. Aufklärung lässt sich nur durch Aufklärung weiter erhellen und durchdringen, kritisch relativieren und fortentwickeln, das ist auch bei Wilhelm von Humboldt zu lernen, dem letzten Protagonisten in diesem Buch. Manfred Geier möchte seine Leser zu Aufklärern machen, er schafft es, uns erzählend und referierend auf eine inspirative Reise durch das 18. Jahrhundert mitzunehmen.
Infos zum Buch:
Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt. Rowohlt Berlin 2012, 415 Seiten, 24,95 Euro
Heute wissen wir, dass die Vernunftordnungen des Aufklärungszeitalters auch schon vor 200 Jahren als gefährdet betrachtet wurden, dass sie oft genug als dunkel und verworren, als regellos und zufällig erschienen, dass man sie vom Chaos oder von 'ungeordneter Mannigfaltigkeit' bestimmt glaubte, wie es bei Kant hieß. Besonders die Denker und Dichter des späten 18. Jahrhunderts haben erkannt, dass man vor der Selbstermächtigung des Rationalen, vor dem Mythos seiner Allgewalt auf der Hut sein musste, weil Aufklärung nicht allein in der Ausbildung der Verstandeskultur bestehen konnte, sondern eine "schwere und langsam auszuführende Sache" war, ging es doch darum, ein ganzes Zeitalter, ja eine ganze Zivilisation vernünftiger werden zu lassen.
Selbstdenken, hatte Kant gesagt, sei der Anfang vom Ende der Unmündigkeit, gewiss, aber das Denken allein konnte die Welt nicht besser, nicht moralischer, freier, lebbarer machen. Deshalb hat der Königsberger Philosoph dem Geistesüberschwang seines Jahrhunderts klare Grenzen des reinen Vernunftvermögens entgegen gehalten. Wenn der Verstand allein keine Emanzipation des Menschen garantiert, dann muss die so viel beanspruchte Vernunft zur moralischen Kraft, zu so etwas wie einer Herzenssache unter den Zeitgenossen werden.
Der kritische Kant-Schüler Johann Gottfried Herder hat damals den "aufgeklärten, unterrichteten, feinen, vernünftigen, gebildeten, tugendhaften, genießenden Menschen" als Erziehungsziel vor Augen, doch gerade deshalb beklagt auch er, dass Aufklärung "nie Zweck, sondern immer [nur] Mittel" sei. Sie drohe ständig zur theoretischen Kultur zu missraten, wie es bei Schiller heißt, weil sie sich allzu leicht zu "Letternkram", zur bloßen "Klügelei" verdünnt, diesem "Modegespenst" des 18. Jahrhunderts. Ja, die überfeinerte Kultivierung des Vernünftigen kann die Menschheit geradezu ins Verderben führen, schreibt Herder:
"Aufklärung! Wir wissen jetzt so viel mehr, hören, lesen so viel, dass wir so ruhig, geduldig, sanftmütig, untätig sind."
Der Mensch ist Kant zufolge ein "krummes Holz", ausgestattet mit "selbstsüchtigen, tierischen Neigungen" - wie soll man diesem Gattungswesen den Segen des Vernünftigen erteilen und es 'mündig' werden lassen? Das ist schon am Ende des 18. Jahrhunderts ein Kernproblem jeglicher Aufklärung. Es bleibt trotz umfassender Vernunft beim "Helldunkel" aller verflossenen und künftigen Geschichte, fürchten etliche Denker damals. Der "Zeitpunkt der höchsten Verfeinerung" sei immer auch einer der "äußersten sittlichen Verderbnis" gewesen. Und jede Epoche der Aufklärung werde weiterhin dazu führen, dass sich alle "Arten von Spekulation, Wahnsinn und praktischer Schwärmerei" verdächtig stark entfalten. Georg Forster, der Weltumsegler, Naturforscher und Revolutionär, schreibt:
"Das Ziel des Abenteuers Aufklärung besteht in der uneingeschränkten Herrschaft der Vernunft bei unverminderter Reizbarkeit des Gefühls. Diese Vereinigung ist das große, bis jetzt noch nicht aufgelöste Problem der Humanität."
Forster weiß sehr wohl, dass unter der dünnen Zivilisationsfolie der 'Vernunft' ein Laboratorium des "Unbestimmbaren" brodelt, "unabhängig von Erfahrung, Entwicklung und äußerer Kunde". Was bei Freud später als 'Es' aus den Seelenkammern des Unbewussten heraufdämmern wird, hier ist es längst schon erahnt worden. Nicht nur an den "Ausgeburten" des Verstandes hatte sich die künftige Evolution des Menschengeschlechts abzuarbeiten, sondern an einem tief sitzenden anthropologischen Phänomen, das der bloßen Vernunft kaum zugänglich sei:
Jenem unvorgreiflich Wirkenden in uns, dieser unbedingten Intension der Grundkräfte und Triebe.
Die Aufklärung hat es also auch und immer wieder mit dem 'Anderen' der Vernunft zu tun, mit der "tierischen Natur" des Geisteswesens Mensch, wie Schiller sagte. Aufklärung ist ein anstrengendes Geschäft, weil sie die gesamte humane Gattung im Blick behalten muss. Und weil sie für ihr Kultivierungsgeschäft einen langen Atem und grenzenlose Geduld benötigt.
Eben dieses optimistische Aufbruchs- und Erziehungsunternehmen möchte Manfred Geier an seiner europaweiten philosophischen Ausdehnung jetzt noch einmal im Überblick vorstellen. Ja, es ist wahr, im 18. Jahrhundert gab es eine grenzüberschreitende Republik der Gelehrten, ein brillierendes "Commercium der Geister", das auf einem erstaunlich modern wirkenden, teils untergründigen, teils offenen Lese- und Diskursgeflecht beruhte.
Unabsehbar sind die Hin- und Herströme zwischen den europäischen Dichtern und Denkern. Nicht nur korrespondierten die Philosophen und Staatstheoretiker, die Künstler und Wissenschaftler miteinander, sie besuchten sich wechselweise in ihren Werkstätten und Gesprächszirkeln, sie lasen, übersetzten, kommentierten und diskutierten ihre jüngsten Geisteserrungenschaften. Sie wetzten ihre Geistesschärfe an unterschiedlichsten Überzeugungen, Ideen und Theorien und fochten nicht selten gewitzte Kontroversen aus.
Aber sie alle waren sich einig in gewissen Axiomen und Kerngedanken der Aufklärung als eines europäischen Projekts zur Zivilisierung der künftigen Menschheit. Aufklärung – das ist seit dem 18. Jahrhundert, nach Renaissance und Humanismus, die große Erzählung, mit welcher der alte Kontinent die frühe Neuzeit in die Moderne hinüber zu retten sich aufmacht.
Manfred Geier traut solchen großen Erzählungen nicht besonders, er möchte stattdessen sieben ausgewählte Lebens- und Werkgeschichten erzählen. Und das unter dem Gesichtspunkt der Aktualität von Aufklärung:
"Jeder einzelne Fall exemplifiziert auf seine besondere Weise eine allgemeine Intention, sei es der politische Liberalismus, die jüdische Emanzipation oder die Gleichberechtigung der Frau, sei es die Naturalisierung des Menschen, seine humorvolle Moralisierung oder seine Erziehung zur Mündigkeit. Es sind unterschiedliche Charaktere, denen wir begegnen, vom nüchternen Denker bis zur libertinen Frauenrechtlerin, vom gebildeten Juden bis zum atheistischen Freigeist. Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, ohne einen festen Typus identifizieren zu können; und folgen Diskursen, in denen sich die Gedanken vielstimmig überschneiden und kreuzen, gegenseitig stabilisieren oder aneinander reiben. Es geht uns nicht um ein Lehrbuch, sondern um dramatische Geschichten von Menschen und Büchern, die uns zum Nachdenken und Mitmachen im Geist der Aufklärung einladen."
Weil für Manfred Geier die Aufklärung in England ihren Ausgang nimmt, nämlich exakt im Jahre 1689 mit der Glorreichen Revolution, und weil sie genau 1789 endet mit der Französischen Revolution, geraten als Initialfiguren zunächst die Moral- und Staatsphilosophen Locke und Shaftesbury in den Blick des Autors, danach die französischen Enzyklopädisten, denen Kant und Mendelssohn folgen, welche wiederum abgelöst werden von der Revolutionärin Olympe de Gouges und dem deutschen Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt. Karl Popper und Hannah Arendt bilden für Geier die beiden intellektuellen Bezugsgrößen, an denen die Frage der Aktualität des Aufklärerischen entfaltet werden soll.
John Locke, einer der maßgeblichen Begründer der modernen Naturrechtsidee, ist nicht nur als Staatsdenker, sondern zugleich als Erkenntnis- und Moralphilosoph von epochaler Bedeutung für die Geschichte der europäischen Aufklärung. In Zeiten des noch weithin herrschenden Ancien régimes, konfessioneller Streitereien und abstruser Gottesbeweisdebatten wirbt dieser besonnene, politisch belehrte Mann für eine selbstreflexive und moderate Form der Aufklärungskultur:
"Die Leuchte, die in uns entzündet ist, strahlt für alle unsere Zwecke hell genug. Die Entdeckungen, die wir mit ihrer Hilfe machen können, müssen uns genügen. Und wir gebrauchen unseren Verstand dann richtig, wenn wir alle Objekte in der Weise und in dem Maße betrachten, wie es unseren Fähigkeiten entspricht. Und wenn wir sie auf solche Gründe hin untersuchen, die uns zugänglich sind, nicht aber unbedingt in maßloser Weise einen Beweis verlangen und Gewissheit fordern, wo nur Wahrscheinlichkeit zu erlangen ist, die ausreicht, um alle unsere Angelegenheiten zu besorgen."
Immanuel Kant wird dem englischen Kollegen John Locke, auf dem Gipfel der transzendentalen Reflexion, in manchem folgen. Keine kirchliche Glaubensdogmatik mehr, sondern klar eingegrenzter, differenzierter Menschenverstand, ausgehend von den sinnlichen Gewissheiten, immer im Maßverhältnis mit dem gesellschaftlich Zuträglichen und Vernünftigen.
Aber vor allem Lockes liberale Theorie der Menschenrechte und sein Plädoyer für die selbstbestimmte Bürgergesellschaft finden im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer mehr begeisterte Anhänger. Der Bürger als Gentleman, als tugendhafte und lebenskluge, als witzige und gesellige Sozialfigur – das hat die europäische Aufklärung von Denkerköpfen wie Locke und Shaftesbury gelernt, die gesamte Empfindsamkeitsbewegung der damaligen Zeit wäre ohne diese beiden Protagonisten nicht denkbar.
Manfred Geier sieht hier zu Recht einen erstrangigen britischen Exportartikel in Sachen Aufklärung für ganz Europa, zunächst für Frankreich, wo bald die bösen Philosophen ihr kritisches Wesen treiben:
"Es waren französische Philosophen, welche die englischen Anregungen aufnahmen und auf ihre Weise weiterentwickelten. Sie waren schärfer, kritischer, kühner und respektloser als ihre englischen Vorläufer. An die Stelle des gebildeten und gut erzogenen Gentleman traten die kämpferischen 'bösen Philosophen'. Sie neigten mit unterschiedlicher Strenge zum Atheismus und Materialismus. Sie versuchten, die Welt ohne übersinnliche Transzendenz und religiöse Sinngebung zu begreifen. Sie liebten das Diesseits mit seinen natürlichen Reichtümern. Sie wollten tugendhaft sein ohne sicheres Gottesvertrauen und ohne Hoffnung auf einen Lohn im ewigen Jenseits. Sie lenkten ihre Aufmerksamkeit auf das, was Menschen tun, wenn sie ihren Leidenschaften folgen, das gesellige Leben genießen wollen und ihre Gedanken mit- und gegeneinander entwickeln."
Eine tiefgreifende Krise des europäischen Geistes und eine dramatische Veränderung der Sozial- und Staatenwelt ziehen nun herauf, die alte Feudalaristokratie und ihr absolutistisches Machtsystem geraten zunehmend unter Legitimationsdruck, denn eine vielfältig schillernde bürgerliche Oppositionsintelligenz macht in neuen Formen und Medien der Öffentlichkeit von sich reden. Diese Freidenker und Libertins, versammelt in Salons und Kaffeehäusern, in Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen, bald auch in der berühmten 'Enzyklopädie', wollen alles vor den Richterstuhl der Vernunft ziehen, alles beurteilen und debattieren, die überkommene Herrschaftswelt genau so wie die Kirchen, den Glauben nicht weniger als das Wissen und das Gehorchen.
Ludwig XIV. will eine neue Gegenreformation einleiten und jede Religionstoleranz vergessen machen, er treibt die Hugenotten aus dem Land und gebärdet sich als autokratischer Sonnenkönig. Gerade damit jedoch wird er zum Geburtshelfer des brillanten und kritischen Oppositionsgeistes jener Voltaire und Rousseau, der Diderot, La Mettrie, Hélvetius, Holbach und d' Alembert:
"Die französische Metropole wurde zum Zentrum einer libertinen und frei denkenden Gesellschaft von Individuen, die einen eigenwilligen Stil des Denkens, Debattierens und Schreibens erprobten. 'Le philosophe' entwickelte sich zu einem neuen sozialen Typus und einer neuen Kraft in der Geschichte. Für sie war die Vernunft keine in sich ruhende Weisheit mehr, sondern kritische Kühnheit. Gegen die Idee der Pflicht, die den Menschen in Hierarchie, Disziplin, autoritär gesicherte Ordnung und religiöse Dogmatik eingliederte, setzten sie eine Kultur der Kritik, die sich auf die Idee des Rechts zu gründen versuchte: auf das Recht des persönlichen Geschmacks und Urteilsvermögens, des zwanglosen Räsonierens und freien Verstandesgebrauchs, der religiösen Glaubensfreiheit und der politischen Natur- und Menschenrechte. 'Ich denke frei' wurde zur magischen Formel von Philosophen, die nur ihrem eigenen Willen und der logischen Kraft ihrer eigenen Vernunft folgen wollten."
Manfred Geier zeigt in einlässlichen Studien, wie sehr die biografischen Verwerfungen und politischen Konflikte dieser Denker im Zusammenhang mit ihrem Vernunft-, Natur- und Freiheitsdenken zu sehen sind. Mehrfach sitzt der satirische Freigeist, Poet, Kirchen- und Staatsprovokateur Voltaire in der Bastille ein, dräuend werden die glaubenskritischen Schriften des Bohémien Diderot verbrannt und er selber eingekerkert, man jagt den ätzenden Kulturkritiker Rousseau außer Landes, der im Namen des natürlichen freien Menschen kein gutes Haar lässt an Kirche, Staat und Aristokratie, an Wissenschaft und Fortschritt. Und man verfolgt schließlich das große Vernunftwerk der 'Enzyklopädie', das sich anmaßt, den gesamten Wissensstand der Zeit - jenseits von Offenbarung und Glauben - auf vernünftige Begriffe zu bringen. In über 70.000 Artikeln nehmen die Enzyklopädisten den Kampf auf mit der Obrigkeit, mit allen Dogmatikern des Glaubens und des Wissens, sie ziehen sich bald den Zorn der Kirche und des Königs zu, ihre Arbeiten werden verketzert, verboten und verbrannt, sie selbst geschmäht und verfolgt. Eines ihrer schlimmsten Vergehen lautet: die Naturalisierung des Menschen. Statt der Gotteskindschaft aller Individuen, statt der christlich verbürgten Dualität von Leib und Seele nun ein wahrer Exorzismus des Glaubens, die unselige Experimentalphysik von Geist und Moral, als handele es sich dabei um bloße Naturphänomene:
"Nur wenn der Mensch sich als Teil der Natur versteht, kann er sich von den Gespenstern befreien, mit denen politische Despoten und religiöse Tyrannen die Menschen irreführen, erschrecken und kontrollieren. Sein Glück kann er nur finden, wenn er über sein eigenes natürliches Wesen aufgeklärt ist."
Dass die Dialektik der Aufklärung aber auch in Fanatismus, Wahn und wahre Mordlust ausarten kann, zeigt Geier am Beispiel der Frauenrechtlerin Olympe de Gouges, die wegen des kompromisslosen Eintretens für die Mündigkeit der Weiber und gegen jede Form von Sklaverei auf dem Schafott des Glücksdiktators Robespierre ihr Leben lassen musste. Kant hatte geschrieben:
"Jeder Mensch hat den Anspruch, selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt, und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden. Hierin, und nicht in der Vernunft, wie sie bloß als ein Werkzeug zur Befriedigung der mancherlei Neigungen betrachtet wird, steckt der Grund der so unbeschränkten Gleichheit des Menschen."
Doch so viel Egalität wird den Frauen noch lange nicht zugestanden. Als Olympe de Gouges damals fragt: 'Mann, bist du fähig, gerecht zu sein'? haben sich nur wenige Stimmen für sie erhoben. Selbst Kant, der dem weiblichen Geschlecht in der Theorie jede Gleichheit zugesprochen hat, glaubt vor ihren allzu waghalsigen Mutproben in der Praxis warnen zu müssen.
Überhaupt, die Aufklärung in Deutschland, auch sie ist ein Teil dieses europaweiten bürgerlichen Aufbruchs- und Reformprojekts gewesen, allerdings weniger radikal als in Frankreich und nicht so stark mit politischem Pragmatismus aufgeladen wie in England. An dem jüdisch-deutschen Philosophen Moses Mendelssohn und an Wilhelm von Humboldt möchte Geier den deutschen Traum von der Aufklärung nachvollziehbar machen.
Der kleine, verwachsene Jude aus Dessau bringt es im friderizianischen Berlin nach mühevollen Arbeitsjahren zum wohlhabenden Geschäftsmann und europaweit geachteten Denker und Vermittler in der vertrackten deutsch-jüdischen Kultursymbiose. Als ein 'deutscher Sokrates' plädiert Mendelssohn für religiöse und geistige Toleranz, für ein vernünftiges Verhältnis von Wissen und Glauben, und sucht immer wieder den ausgleichenden, gelegentlich auch polemischen Diskurs mit vielen Aufklärern seiner Zeit. Obwohl mehrfach provoziert, Moses Mendelssohn, der jüdische Weltweise aus Berlin, lässt sich nicht zum christlichen Proselyten machen. Wenn Kant gefragt hatte: "Was ist Aufklärung?" - so antwortet ihm Mendelssohn, dass der bloßen Verstandesentwicklung unbedingt die kulturelle Zivilisierung der Menschen zur Seite treten müsse, die Macht der Vorurteile und der sozialen Stigmatisierung hatte er in seinem eigenen Leben hinreichend erfahren:
"Wir träumten von nichts als Aufklärung. Und glaubten durch das Licht der Vernunft die Gegend so aufgehellt zu haben, dass die Schwärmerei sich gewiss nicht mehr zeigen werde. Allein wie wir sehen, steiget schon, von der andern Seite des Horizonts, die Nacht mit all ihren Gespenstern wieder empor. Das Fürchterlichste dabei ist, dass das Übel so tätig, so wirksam ist. Die Schwärmerei 'tut', und die Vernunft begnügt sich zu 'sprechen'."
Die Erfahrung einer allzeit gefährdeten Aufklärung, deren Vernunft- und Friedensideen dennoch bis ins 21. Jahrhundert herüberreichen. An der heutigen Kant-Debatte, auch an traditionsbewussten Denkern wie Karl R. Popper und Hannah Arendt sieht Geier diesen Zusammenhang bestätigt. Aufklärung als der Versuch, jene 'ungesellige Geselligkeit' der Menschheit in einen weltbürgerlichen Zustand umzugestalten, den 'ewigen Frieden' auf der Basis eines anerkannten Völkerrechts zu erlangen - das sind nach Kant Vorstellungen, die sich in der Geschichte niemals wieder verlieren werden. Aufklärung lässt sich nur durch Aufklärung weiter erhellen und durchdringen, kritisch relativieren und fortentwickeln, das ist auch bei Wilhelm von Humboldt zu lernen, dem letzten Protagonisten in diesem Buch. Manfred Geier möchte seine Leser zu Aufklärern machen, er schafft es, uns erzählend und referierend auf eine inspirative Reise durch das 18. Jahrhundert mitzunehmen.
Infos zum Buch:
Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt. Rowohlt Berlin 2012, 415 Seiten, 24,95 Euro