Der 1956 in Bukarest geborene Mircea Cartarescu ist nicht nur ein Erbe dieser Erzähltraditionen, sondern der europäischen Literatur des Phantastischen überhaupt, die er eingehend studiert hat. Er debütierte zunächst als Lyriker, vor 20 Jahren erschien dann sein erstes Prosawerk "Der Traum", das allerdings erst in den 90-er Jahren ohne Zensureingriffe erscheinen konnte. Seitdem wurde einiges von Cartarescu ins Deutsche übersetzt, u.a. "Die Wissenden", der 1. Teil einer 1500 Seiten umfassenden Romantrilogie, zuletzt 2008 der Roman "Warum wir die Frauen lieben". In seinem soeben bei Suhrkamp wieder aufgelegten Prosadebüt "Nostalgia" beschwört der "Proust des Plattenbaus" (so der "Spiegel") in traumartigen Erzählungen Kindheit und Jugend im Bukarest der 60-er und 70-er Jahre herauf.
Der Titel des Prosabandes enthält schon das volle Programm: "Nostalgia". Die Gegenwart ist ein neuralgischer Ort. Nasskalte Straßen, Häuser, lepröse Backsteinmauern, rostiger Kram mit Menschen dazwischen. Leere Wolkenhimmel, sinnlose Plätze, die man in der kürzesten Geraden schneidet, und dann schnell in die Proust‘sche Horizontale!
"Ich will nur meine Vergangenheit zurückrufen, oder sie formen, eventuell auch erfinden- oder alles zusammen, denn mir geht es einzig und allein darum, eine Vergangenheit zu haben, eine Reihe von Bildern, die das jetzige Chaos entweder sind oder sich ihm substituieren. Wie vordem liege ich, verwirrt vor Einsamkeit und Erregung, auf dem Bett, und schmerzliche, herzzerreißende Erinnerungsbilder aus frühester Kindheit flitzen mir durch den Sinn."
Bilder von purpurnen Kindheitsnachmittagen, Plätzen im Abendlicht zwischen Häusern mit rosarot bröckelndem calcio vecchio. Hochherzigen Spielen in alten Backsteingemäuern, im Unkraut rostiger Geleise, auf Feuerleitern, die geradewegs in den Himmel führten. Der Autor scheint ganz und gar besessen von dieser Rekonstruktion, dieser Arbeit am Mythos, und wenn er stets durch einen Stellvertreter, einen Schriftsteller oder eine Gelegenheitserzählerin erzählen lässt, dann, weil die Nostalgie ein Imperium ist, das einer alleine ohne Angestellte gar nicht bewältigen kann.
Dieser hier hat über seine Liebe zu einem siebzehnjährigen "Ungeheuer" mit gelben Augen und dem "Gebiss einer boshaften Fledermaus" schon viele heiße Tränen geweint. Nun will er "das Unsagbare festhalten", nämlich dass die Schönheit abscheulich ist, und der Aufruhr der Liebe erst ein Ende hat, wenn beide eins geworden, das heißt, wenn einer den anderen verzehrt, parasitär überwuchert, ausgelöscht hat.
Schreiben als Exorzismus, als Versuch, sich von einer Obsession zu befreien, darum geht es auch in dem anderen großen Mittelstück des Erzählzyklus, der Erzählung REM. Wieder ist das Thema die Liebe. Dass sie ein Verhängnis sei und am Ende nur trockene Hülsen übrig bleiben, dafür sorgt hier ein kleiner "durchscheinender" Dämon mit Klauen, "aus denen das Gift tropft". Gierig hockt er zwischen obskuren Büchern im Regal und hofft, dass das Gift die beiden Liebenden endlich gesprächig macht und sie sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen. Denn vom süßen "Traubengeschmack" ihrer Träume ernährt sich der kleine Vampir: der Erzähler.
Und die beiden hier bewirten ihn wirklich fürstlich, mit tollen Kindheitsmärchen von genialen kleinen Spielern, die nach Schamanenart zu Knochen zerfallen und wieder auferstehen können. Die vom REM fantasieren, in das alle aufgenommen werden, die "zu träumen verstehen".
"Die einen behaupten, das REM sei ein unendlicher Apparat, ein kolossales Hirn, das nach einem bestimmten Plan die Träume aller Lebewesen steuert. Von den unfassbaren Träumen der Amöbe und des Krokus bis hin zu den Träumen der Menschen. Der Traum sei, ihnen zufolge, die eigentliche Wirklichkeit, worin sich der Wille der im REM verborgenen Gottheit kundtue. Andere sehen im REM eine Art Kaleidoskop, in dem sich das ganze Universum auf einmal zu erkennen gibt, mit allen Einzelheiten jedes Entwicklungsmoments, von der Genesis bis zur Apokalypse."
Ein kindlicher Guru namens Jegor, -der Name klingt schon ein bisschen nach Borges- führt die Liebenden an jenen heiligen Ort, sie betreten einen morschen Schuppen und siehe da, dort sitzt die verborgene Gottheit: Der Autor vor seiner alten "Erika", in der just die Geschichte steckt, die wir soeben lesen. Jeder Traum ist Traum in einem Traum, das ganze Universum ist Traum. Und ein Buch mit sieben Siegeln. Und jedes Buch eine unendliche Bibliothek. Und in dieser hier sirrt die Luft von den Klagen der unerlösten Seelen, die sich ins Leben zurücksehnen: Proust, Poe, Nerval, Hoffmann, Huysmans, Kafka, Rimbaud, Rilke, Céline, Borges. Alle drängeln sich hier, und wer weiß, wenn dies eine Reise zu den Jakuten geworden wäre (wie bei Cartarescus Landsmann, dem Schamanenforscher Mircea Eliade), wäre ihr Wunsch sicher in Erfüllung gegangen.
Mit Mircea Cartarescus preisgekrönter Prosa (von Gerhardt Csejka in klangvolles Deutsch übersetzt) hat die Postmoderne mit ihrem glamourösen Aufgebot an erzählerischen Illusions- und Pyrotechniken mächtig Einzug gehalten in Rumänien. Jedes Land, das in geschichtlicher Zeit sich schwertut, aus dem Elend herauszukommen und den Anschluss an die Moderne zu vollziehen, muss sich glücklich schätzen über einen solchen Ehrenretter, der den inneren Reichtum, die schöne mythische Seele eines Volkes so fleißig herausarbeitet.
Für den Außenstehenden mag da vieles wundersam unverständlich und einfach erstaunlich bleiben an diesem buntscheckigen Bukarester Traumbaedeker. Er kneift die Augen zu vor soviel Abendsonne, soviel Rot, soviel bröckelndem Putz und Geisterspuk, oder wenigstens ein Auge angesichts der märchenhaften Unbeholfenheiten, Scharlatanerien und metafiktionalen Trivialitäten. Ist aber auch betört von konkreten Schilderungen vor allem der kindlichen "Ungeheuer", ihren rührenden Fantastereien. Und vor allem von der ansteckenden Munterkeit des vielstimmigen und erfinderischen Erzählers, selbst und gerade in der melancholischen Beschwörung des "Nichts", in dem alles verschwindet, es sei denn das von der Literatur wie in Bernstein eingeschlossene Leben.
Möchte der Autor seine Prosa als ein ironisches Spiel, eine satirische "Abrechnung" mit der Nostalgie und Huldigung zugleich an ein volkseigenes Laster verstanden wissen? Woher, warum diese extreme Nostalgomania ? Einen noblen Hinweis gibt uns Borges:
"Weil nur eine verlorene Sache einen Gentleman interessieren kann."
Mircea Cartarescu: Nostalgia. Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka.
Suhrkamp Verlag 2009 416 S. 24,90
Der Titel des Prosabandes enthält schon das volle Programm: "Nostalgia". Die Gegenwart ist ein neuralgischer Ort. Nasskalte Straßen, Häuser, lepröse Backsteinmauern, rostiger Kram mit Menschen dazwischen. Leere Wolkenhimmel, sinnlose Plätze, die man in der kürzesten Geraden schneidet, und dann schnell in die Proust‘sche Horizontale!
"Ich will nur meine Vergangenheit zurückrufen, oder sie formen, eventuell auch erfinden- oder alles zusammen, denn mir geht es einzig und allein darum, eine Vergangenheit zu haben, eine Reihe von Bildern, die das jetzige Chaos entweder sind oder sich ihm substituieren. Wie vordem liege ich, verwirrt vor Einsamkeit und Erregung, auf dem Bett, und schmerzliche, herzzerreißende Erinnerungsbilder aus frühester Kindheit flitzen mir durch den Sinn."
Bilder von purpurnen Kindheitsnachmittagen, Plätzen im Abendlicht zwischen Häusern mit rosarot bröckelndem calcio vecchio. Hochherzigen Spielen in alten Backsteingemäuern, im Unkraut rostiger Geleise, auf Feuerleitern, die geradewegs in den Himmel führten. Der Autor scheint ganz und gar besessen von dieser Rekonstruktion, dieser Arbeit am Mythos, und wenn er stets durch einen Stellvertreter, einen Schriftsteller oder eine Gelegenheitserzählerin erzählen lässt, dann, weil die Nostalgie ein Imperium ist, das einer alleine ohne Angestellte gar nicht bewältigen kann.
Dieser hier hat über seine Liebe zu einem siebzehnjährigen "Ungeheuer" mit gelben Augen und dem "Gebiss einer boshaften Fledermaus" schon viele heiße Tränen geweint. Nun will er "das Unsagbare festhalten", nämlich dass die Schönheit abscheulich ist, und der Aufruhr der Liebe erst ein Ende hat, wenn beide eins geworden, das heißt, wenn einer den anderen verzehrt, parasitär überwuchert, ausgelöscht hat.
Schreiben als Exorzismus, als Versuch, sich von einer Obsession zu befreien, darum geht es auch in dem anderen großen Mittelstück des Erzählzyklus, der Erzählung REM. Wieder ist das Thema die Liebe. Dass sie ein Verhängnis sei und am Ende nur trockene Hülsen übrig bleiben, dafür sorgt hier ein kleiner "durchscheinender" Dämon mit Klauen, "aus denen das Gift tropft". Gierig hockt er zwischen obskuren Büchern im Regal und hofft, dass das Gift die beiden Liebenden endlich gesprächig macht und sie sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen. Denn vom süßen "Traubengeschmack" ihrer Träume ernährt sich der kleine Vampir: der Erzähler.
Und die beiden hier bewirten ihn wirklich fürstlich, mit tollen Kindheitsmärchen von genialen kleinen Spielern, die nach Schamanenart zu Knochen zerfallen und wieder auferstehen können. Die vom REM fantasieren, in das alle aufgenommen werden, die "zu träumen verstehen".
"Die einen behaupten, das REM sei ein unendlicher Apparat, ein kolossales Hirn, das nach einem bestimmten Plan die Träume aller Lebewesen steuert. Von den unfassbaren Träumen der Amöbe und des Krokus bis hin zu den Träumen der Menschen. Der Traum sei, ihnen zufolge, die eigentliche Wirklichkeit, worin sich der Wille der im REM verborgenen Gottheit kundtue. Andere sehen im REM eine Art Kaleidoskop, in dem sich das ganze Universum auf einmal zu erkennen gibt, mit allen Einzelheiten jedes Entwicklungsmoments, von der Genesis bis zur Apokalypse."
Ein kindlicher Guru namens Jegor, -der Name klingt schon ein bisschen nach Borges- führt die Liebenden an jenen heiligen Ort, sie betreten einen morschen Schuppen und siehe da, dort sitzt die verborgene Gottheit: Der Autor vor seiner alten "Erika", in der just die Geschichte steckt, die wir soeben lesen. Jeder Traum ist Traum in einem Traum, das ganze Universum ist Traum. Und ein Buch mit sieben Siegeln. Und jedes Buch eine unendliche Bibliothek. Und in dieser hier sirrt die Luft von den Klagen der unerlösten Seelen, die sich ins Leben zurücksehnen: Proust, Poe, Nerval, Hoffmann, Huysmans, Kafka, Rimbaud, Rilke, Céline, Borges. Alle drängeln sich hier, und wer weiß, wenn dies eine Reise zu den Jakuten geworden wäre (wie bei Cartarescus Landsmann, dem Schamanenforscher Mircea Eliade), wäre ihr Wunsch sicher in Erfüllung gegangen.
Mit Mircea Cartarescus preisgekrönter Prosa (von Gerhardt Csejka in klangvolles Deutsch übersetzt) hat die Postmoderne mit ihrem glamourösen Aufgebot an erzählerischen Illusions- und Pyrotechniken mächtig Einzug gehalten in Rumänien. Jedes Land, das in geschichtlicher Zeit sich schwertut, aus dem Elend herauszukommen und den Anschluss an die Moderne zu vollziehen, muss sich glücklich schätzen über einen solchen Ehrenretter, der den inneren Reichtum, die schöne mythische Seele eines Volkes so fleißig herausarbeitet.
Für den Außenstehenden mag da vieles wundersam unverständlich und einfach erstaunlich bleiben an diesem buntscheckigen Bukarester Traumbaedeker. Er kneift die Augen zu vor soviel Abendsonne, soviel Rot, soviel bröckelndem Putz und Geisterspuk, oder wenigstens ein Auge angesichts der märchenhaften Unbeholfenheiten, Scharlatanerien und metafiktionalen Trivialitäten. Ist aber auch betört von konkreten Schilderungen vor allem der kindlichen "Ungeheuer", ihren rührenden Fantastereien. Und vor allem von der ansteckenden Munterkeit des vielstimmigen und erfinderischen Erzählers, selbst und gerade in der melancholischen Beschwörung des "Nichts", in dem alles verschwindet, es sei denn das von der Literatur wie in Bernstein eingeschlossene Leben.
Möchte der Autor seine Prosa als ein ironisches Spiel, eine satirische "Abrechnung" mit der Nostalgie und Huldigung zugleich an ein volkseigenes Laster verstanden wissen? Woher, warum diese extreme Nostalgomania ? Einen noblen Hinweis gibt uns Borges:
"Weil nur eine verlorene Sache einen Gentleman interessieren kann."
Mircea Cartarescu: Nostalgia. Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka.
Suhrkamp Verlag 2009 416 S. 24,90