Jörg Münchenberg: Herr Brok, wie verfahren ist die Lage in Sachen Brexit? Oder ist das nicht vielleicht einfach ein ziemlich harter Poker, der da auf offener politischer Bühne gespielt wird?
Elmar Brok: Das ist sicherlich ein harter Poker. Es geht ja auch um viel. Aber wir müssen sehen, dass wir seit März 2017 verhandeln. Die Briten haben erstmalig ihre Position dargelegt im Juni/Juli mit dem Chequers-Papier. Wir haben fast anderthalb Jahre auf deren Position gewartet. Und nun sagen sie, mal deutlich gesagt, was Frau May in Salzburg vorgetragen hat: "Take and leave it", nimm das, was ich jetzt vorschlage, oder es gibt keinen Deal. Ich glaube, das ist nicht der richtige Weg. Wir müssen sehen, dass die Methodik, die Systematik, mit der die das machen wollen, für uns nicht machbar ist. Und in Wirklichkeit haben wir ja einen Austrittsvertrag fertig verhandelt, zu 85 Prozent. Es müsste da eigentlich nur noch die irische Frage geklärt sein. Dann hätten wir mit einer Übergangsregelung weitere zwei Jahre Zeit, die Regeln festzulegen für die zukünftigen Beziehungen.
Brok: Briten wollen "nur Rosinenpickerei betreiben"
Münchenberg: Was würden Sie sagen, wie ernst ist die Lage jetzt? Sie haben Salzburg schon angesprochen. Da haben die 27 ja ziemlich deutlich gemacht, dass sie eigentlich geschlossen dieses Chequers-Papier, diese Chequers-Ergebnisse ablehnen.
Brok: Die Briten haben immer verkündet: Wenn es ernst wird, werden genug Mitgliedsländer ihrer Auffassung sein. Sie wollen nicht den harten Brexit, denn den wollen wir auch nicht. BMW wird an Frau Merkel herangehen und dann werden diese Bürokraten in Brüssel schon auf den richtigen Weg hingewiesen.
Seit Salzburg müssen sie wissen, was wir ihnen immer gesagt haben, dass die Europäische Union der 27 zusammen bleibt, dass wir nicht bereit sind, den Binnenmarkt aufzulockern, weil sie hier nur Rosinenpickerei betreiben wollen, und dass wir diese Position beibehalten, auf die wir uns im Frühjahr 2017 geeinigt haben – auch das Europäische Parlament, das übrigens in dieser Frage das letzte Wort hat.
Wenn wir bis November diesen Austrittsvertrag nicht vereinigt haben, dann haben wir keine Zeit mehr, in den Parlamenten das zu beraten, und dann wird am 29. März 2019 automatisch der harte Brexit eintreten – mit schlechten Folgen für uns alle, aber mit dramatischen Folgen für das Vereinigte Königreich.
Münchenberg: Haben Sie trotzdem den Eindruck, die Briten haben das verstanden? Weil die britische Premierministerin hat ja gestern noch einmal ihre Position bekräftigt und hat dann ihrerseits betont, die EU müsse sich bewegen, und das hört sich ja nicht so an, als wenn die britische Regierung da jetzt sehr kompromissbereit wäre.
Brok: Mit dem, was wir ausgehandelt haben für den Austrittsvertrag, hat es Bewegung auf beiden Seiten gegeben. Wir bewegen uns auch in der irischen Frage. Das ist ein Verhandlungsgegenstand, bei dem auch eine Lösung möglich ist, wenn ein guter Wille vorhanden ist. Aber sie kann dies in der eigenen Regierung nicht durchsetzen. Es ist schwierig, einen Verhandlungspartner zu haben, wo der Chefverhandler, die Premierministerin selbst, in der eigenen Partei, in der eigenen Fraktion und im Parlament keine gesicherte Mehrheit hat.
Jetzt sagen die Briten manchmal, das müsst ihr doch verstehen, Frau May ist zu schwach, dann müsst ihr ihr doch helfen. Aber wir geben doch nicht Interessen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer auf, damit Frau May geschützt wird.
Münchenberg: Aber was kann die EU für ein Interesse haben, hier Maximalforderungen zu stellen, wenn sie genau weiß, dass May die innenpolitisch gar nicht durchsetzen kann?
Brok: Wir machen ja keine Maximalforderungen. Der Austrittsvertrag beinhaltet die Fragen, die mit den Geldzahlungen zu tun haben, …
Münchenberg: Das ist geklärt.
Brok: Das ist alles geklärt. Es geht hier in dieser Frage nur noch konkret um die Vermeidung der harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland.
"Das muss man jetzt in Großbritannien in den Griff bekommen"
Münchenberg: Vielleicht können Sie das noch mal erklären. Die Briten kann man ja ein Stück weit auch verstehen, dass sie sagen, wir wollen nicht eine Grenzverschiebung haben faktisch zwischen Nordirland und dem restlichen Großbritannien, aus nationalstaatlichen Gründen. Das ist doch aus britischer Sicht sehr nachvollziehbar.
Brok: Das ist nachvollziehbar. Aber sie haben erklärt im Dezember und dann eine Vereinbarung getroffen, dass sie bereit sind, dass für Nordirland immer regulatorische Anpassungen an den europäischen Binnenmarkt passieren, damit eine harte Grenze nicht notwendig wird, und das muss umgesetzt werden. Das haben sie mit unterzeichnet im Dezember bei diesen Zwischenvereinbarungen. Jetzt geht es darum, wie kann man das praktisch verwirklichen.
Wenn wir sehen, dass heute schon, um ein Beispiel zu nennen, bei bestimmten Fragen, die mit Gesundheitsfragen und Nahrungsmitteln, Tiertransporten und so etwas zu tun haben, Überprüfungen zwischen Irland und England stattfinden in Belfast und in Dublin, dann haben wir da, glaube ich, hier schon ein Instrumentarium, das man auch auf andere Waren ausdehnen könnte, ohne dass diese Kontrollstellen zu einer staatsrechtlichen Grenze werden, die das Problem hat.
Wir müssen aber auch sehen, dass ein weiterer Schwachpunkt jetzt dazugekommen ist. Durch die Wahlen im vorigen Jahr in Großbritannien hängt diese Regierung jetzt von den harten Nordiren ab, und dadurch ist die Knappheit der Mehrheit nicht nur ein Problem für May und die Zerspaltung der eigenen Partei, sondern die Rolle dieser nordirischen Fraktion, und das macht es für sie so ungeheuer schwierig und das muss man jetzt irgendwie in Großbritannien in den Griff bekommen, aber doch nicht zu unseren Lasten.
"Es besteht allerdings eine Hoffnung"
Münchenberg: Aber noch mal: Die Briten sind an diesem Punkt ja wirklich sehr hart und sagen, wir würden keiner faktischen Grenzverschiebung zustimmen. Sie sagen, das kann man technisch letztlich doch lösen?
Brok: Ja, man macht es heute schon. Deswegen ist das keine neue Erfindung. Das ist nur eine Erweiterung dessen, was man mit anderen Produkten bereits macht, und deswegen wäre es hier mit gutem Willen möglich, eine Lösung zu finden und hierüber müsste verhandelt werden. Aber da in Großbritannien mit der Zersplitterung der Konservativen Partei, zwischen Brexitiers und Gemäßigten und denjenigen, die eigentlich im Binnenmarkt bleiben wollten, keine einheitliche Haltung zustande kommt und, wenn Frau May sich in solchen Fragen bewegt, sie weg sein könnte, dann müssen wir sehen, dass das hier ein Problem ist.
Es besteht allerdings eine Hoffnung. Die haben Ende des Monats ihren Parteitag und wir hoffen, dass sie, wenn sie über den Parteitag kommen sollte, dann vielleicht doch noch mal Spielraum auf der britischen Seite bekommt, damit wir diesen Austrittsvertrag wegbekommen, um dann die eigentlichen Verhandlungen zu beginnen, bei denen wir uns wahrscheinlich schnell einig werden, was den europäischen Handelsvertrag angeht, was die Maßnahmen für innere und äußere Sicherheit angeht, Forschung und diese Bereiche. Ich glaube, da sind wir schon sehr viel weiter. Es geht nur um diese irisch-irische Frage.
Münchenberg: Aber ist das nicht letztlich – Sie haben es ja selber angesprochen – genau der Punkt, dass jetzt rein taktisch gesehen es für eine Einigung noch viel zu früh ist? Denn May muss erst mal diesen Parteitag überstehen, und dann macht es ja wenig Sinn, die Karten vorher schon auf den Tisch zu legen.
Brok: Ja, das sage ich ja. Deswegen war es auch nicht zu erhoffen, dass das in Salzburg schon kommt. Den Parteitag müssen wir abwarten. Aber am Ende ist Mitte November der Zeitplan abgelaufen, damit wir die Ratifikation hinbekommen vor dem März 2019. Deswegen gibt es hier Zeitdruck in dieser Frage, der vertraglich nicht veränderbar ist.
Münchenberg: Was würden Sie sagen, Herr Brok, wie ernst ist die Lage? Oder anders gefragt: Wie nahe sind wir einem No-Deal-Szenario?
Brok: Ich würde heute fifty-fifty sagen, aus purer Einschätzung der Abläufe, weil zu viel Ideologie im Spiel ist. Und Sie müssen auch sehen, dass auch viel Cleverness auf britischer Seite drin ist. Wenn wir Chequers übernehmen würden, hätten sie einen vollen freien Zugang zu unseren Märkten, wie als wären sie Mitglied, ohne den Preis dafür zu bezahlen, und sie hätten keine Sorgen, dass der Disinvestments im Industriebereich in Großbritannien stattfindet, aber bei den Dienstleistungen möchten sie nichts machen. Sie werden dann die Standards für die Finanzdienstleistungen heruntersetzen und über gegenseitige Anerkennung wollen sie dann haben, dass dieses dann vollen Zugang zum europäischen Binnenmarkt hat, und nachdem wir mühsam nach dieser Finanzkrise, nach 2008 Regeln festgelegt haben, dass der Finanzsektor uns nicht wieder in den Keller hineinziehen kann, macht man es dann über Großbritannien wieder hier, und wir selbst als Staat in Deutschland oder in anderen EU-Ländern als auch die europäischen Institutionen wie die Europäische Zentralbank sind dann hilflos. Dieses können wir nicht machen im Interesse der Bürger.
"Deutschland verliert dadurch viel Kraft im Rat"
Münchenberg: Herr Brok, noch eine andere Frage zu einem anderen Thema, wo wir gerade miteinander sprechen. Wieder gibt es eine Regierungskrise in Deutschland. Wie sehr treibt das die anderen Europäer um, dass Deutschland jetzt nach so kurzer Zeit innenpolitisch schon wieder in die nächste Krise schlittert?
Brok: Nicht alles wird so ernst genommen. Krisen hat man in anderen Ländern auch. Aber dennoch ist das Zeichen schlecht, und wenn man sieht, dass man bei wichtigen Fragen ja beim Gipfel vor der Sommerpause nicht weiterkam, weil wir die Seehofer-Probleme im Europäischen Rat zu lösen hatten, dann zeigt sich, dass Deutschland dadurch viel Kraft im Rat verliert, sich auf die Themen zu konzentrieren, die jetzt wirklich wichtig sind, wie die weitere Form der Europäischen Währungsunion und natürlich bestimmte wichtige Fragen der Außenbeziehungen im Zusammenhang mit der Migration und anderer Fragen. Dies schadet uns schon sehr.
Münchenberg: Aber es könnte ja auch durchaus schon wieder Neuwahlen geben.
Brok: Ja, das kann es geben. Aber das wäre dann in dieser Situation Europas eine Katastrophe, so wie man das betrachtet aus aller Herren Länder. Deswegen schaut man hier schon mit Sorge darauf, ob dieser, teilweise persönliche Kleinstreit, der da läuft, ein Grund sein könnte, dass das größte Mitgliedsland der Europäischen Union handlungsunfähig wird. Die Bundeskanzlerin hat bisher die Nerven behalten nach außen, das zu ignorieren, aber ich weiß nicht, wie lange das gut geht, und deswegen kann man hier nur an alle miteinander ausrufen, in diesen schwierigen Zeiten und beim Vorankommen der Antidemokraten in unseren Mitgliedsländern hier zur Vernunft zu kommen.
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