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Bronzezeit
Das Reich der Himmelsscheibe

Gab es vor rund vier Jahrtausenden, zu Zeiten sumerischer Könige und ägyptischer Pharaonen, eine ähnlich entwickelte Kultur mitten in Europa? Noch vor einigen Jahren hätte man mit einem klaren Nein geantwortet. Doch die sogenannte Himmelsscheibe von Nebra lässt Anderes vermuten.

Von Christian Forberg |
    Eine antike grüne Scheibe mit Sternsymbolen steht in einer Vitrine.
    Die Himmelsscheibe ist ein Schlüsselfund aus der Bronzezeit (picture alliance / Soeren Stache)
    So weit Vorderer Orient und Europas Mitte voneinander entfernt lagen, so nah wart sich die ausschlaggebende natürliche Grundlage beider Gesellschaften: die Bauern beackerten sehr fruchtbaren Boden, der immense Überschüsse erbrachte. Mit diesen wurden Beamte, Gelehrte, Soldaten verpflegt und bezahlt, konnten die Herrscher Reichtümer anhäufen. Herrscher, vor vier Jahrtausenden sind das hierzulande zunächst Stammeshäuptlinge:
    "Die alle Helden sind. Die großartige Krieger sind, die sich mit goldenen Lockenringen schmücken. Jeder bekommt sein individuelles Hügelgrab mit einer Stele und ist ein ganz toller Krieger!"
    Der sich und die seinen nicht schont, die besten Ackerflächen zu erobern, fügt Professor Harald Meller an. Er ist der Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt.
    "Irgendwann mal kommt es zu einer Art institutionellen Herrschaft, wo der eine unter den hervorragenden – sagen wir mal – Kriegern sagt: Ich bin der Einzige, ich kann alles, ich bin der Vertreter des Gottes und mir müsst ihr alle huldigen!"
    Damit bezieht er sich auf das Konzept der 'charismatischen Herrschaft', wie sie Max Weber vor genau 100 Jahren veröffentlicht und der Hamburger Soziologe Stefan Breuer in neuerer Zeit angewendet hat. Kern ist die Herrschafts- oder Wechselbeziehung zwischen einem Charismaträger und den Charismagläubigen, dem Volk. Oder anders ausgedrückt:
    "Wieso akzeptieren die Menschen, dass einer oder wenige Vieles haben und die vielen weniges haben? Das ist eine Frage, die wir uns heute auch stellen müssen. Und das geschieht deshalb, weil der eine oder die wenigen die vielen glauben machen, dass sie über besondere Fähigkeiten und eine Art religiöse Legitimation verfügen. Das heißt, ohne Ideologie, ohne Religion, ohne Erklärung, warum das so ist, geht es nicht."
    Eine solche Erklärung braucht Wissen und Glauben, die sich im Mythos verbinden.
    "Der Mythos ist in diesen Gesellschaften immer vorhanden. Es gibt keine Trennung in eine rationale und eine irrationale Welt; es gibt keine Trennung in die Glaubenswelt und eine reale Welt."
    All das war in der Himmelsscheibe von Nebra verwoben, dem Glanzpunkt der frühbronzezeitlichen Aunjetitzer Kultur: Naturwissenschaftlich-astronomische Erkenntnis vermischte sich mit der Aura des Fürsten als Besitzer.
    Messen heißt auch Kontrollieren
    "Und das ist ja nicht so schlecht: Wenn man weiß, dass es in acht Tagen eine Mondfinsternis gibt, dann ist es vollkommen klar, dass man als Führer der Gemeinschaft mit den Göttern konspiriert, in einer göttlichen Sphäre ist und etwas kann, was niemand kann. Und das ist immer, dass am Beginn von großen Herrschaften – sei es in Ägypten, in Mesopotamien oder in Aunjetitz – die Kontrolle über die Zeit und die Kontrolle über die Gestirne liegt."
    Wobei man genauer in der Mehrzahl sprechen müsste: die Fürsten; schließlich ist die Himmelsscheibe in drei Phasen entstanden und in zwei Phasen nachbearbeitet worden.
    Das Wissen hätten sie sich sehr wahrscheinlich im Osten angeeignet, sagt Harald Meller. Was einfach an den natürlichen Gegebenheiten liege: Um das Programm der Himmelsscheibe zu entwickeln, brauchte es 40 Jahre Zeit für pausenlose Beobachtungen. Das war weit eher im sternenklaren Vorderen Orient als im bewölkten Europa möglich. Dort, auf den tempelartigen Himmelshügel, den Zikkurat, hatten die Astronomen den Himmel bereits sehr weit entschlüsselt. Dahin reisten die Fürsten - und verteilten unterwegs Geschenke.
    "In Mykene und an anderen Stellen finden wir Bernsteinketten, die verschenkt werden. Die Reise ist nicht ganz unproblematisch. Wenn sie aus Kreta losfahren an die Küste des Libanon, dann fahren sie im Frühjahr los und kommen frühestens im Herbst zurück; sie müssen die Winde abwarten. Das nächste: sie sitzen auf der Zikkurat, aber der Profi-Priester wird ihnen nicht so leicht die Regeln erklären. Sie sollten die Sprache können, sie sollten intellektuell sein. Und dann ist es aber immer noch so: Das Bild macht ihnen der nicht."
    Dafür besaß jener ja die Schrift. Insofern ist es die eigentliche intellektuelle Leistung des Reisenden, dass er das astronomische Kalendermodell chiffriert in einem einzigen Bild unterbringen ließ. Das betrifft auch seine Nachfolger: im zweiten Schritt wurden an den Seiten der Scheibe Horizontbögen eingelassen, die den Sonnenlauf wiedergeben. Zum ersten Mal wurde die Erde in einem hemisphärischen Weltbild erfasst.
    "Und jetzt wird’s noch verrückter: Wir haben plötzlich das Weltbild des Thales von Milet um 1000 Jahre vordatiert. Der nächste, der die Himmelsscheibe ändert, ist wieder ein äußerst begabter Mensch, denn er führt eine neue Religion ein. Er führt die Schiffsreligion ein, etwas, was es in Ägypten gibt: das goldene Schiff, das die Sonne transportiert. Etwas, das als religiöses Konzept bei uns fehlgeschlagen ist, weil wir einfach zu wenig Wasser, zu wenig Flüsse, zu wenig Meere haben..."
    Wie das Weltbild zum Glänzen gebracht wurde
    Für den Bogen des Schiffes sei Gold in einer anderen Zusammensetzung als für die zuerst aufgebrachten Sterne und Mondphasen verwendet worden, sagt der Chemiker Dr. Heinrich-Christian Wunderlich, Laborleiter am Vorgeschichtsmuseum Halle. Der erste Schmied verwendete sehr silberhaltiges Gold.
    "Wenn man das aber eine Zeit lang liegen lässt und nicht jeden Tag darüber putzt, dann läuft das ein bisschen an – das liegt an dem Silber. Und durch dieses Anlaufen wird die Farbe etwas rötlicher, goldener, feuriger. Und dann ist entschieden worden: wir fügen diese Barke ein. Da hat der Goldschmied ein neues Gold gesucht, das farblich dem alten Gold entsprach. Da musste er ein Gold nehmen, das weniger Silber enthielt, weil er offenbar über diesen Anlaufprozess, der Farbveränderung, nichts wusste. Er hat also das Neu-Gold dem farblich dem alten, angelaufenen Gold angepasst."
    Während die astronomischen Kenntnisse aus Südosten und das Kupfer aus dem südlichen Alpenraum kamen, exportierte man Gold, Zinn und Silber aus Nordwesten, aus Cornwall, dem südwestlichen Zipfel Englands. Das metallurgische Wissen gab es wohl gratis dazu.
    "Das wesentliche ist, wenn etwas zufällig irgendwo an einem Ende der Welt entdeckt wird und es ist erfolgreich, verbreitet es sich durch Kommunikation. Das ist das wichtige an einer Zivilisation, dass die Kommunikation funktioniert: Wenn jemand etwas zufällig entdeckt, also z. Bsp. die Zinn-Zugabe, dass sich das ganz schnell verbreitet."
    Was gleichzeitig anwuchs, war der Glanz der Himmelsscheibe, ihre Attraktivität, ihr symbolischer Wert: mit jeder Änderung erhöhte sich die Menge an Gold. Das sei der sichtbare Gradmesser der Macht schlechthin, sagt Harald Meller.
    Die Codes gesellschaftlicher Hierarchien
    "Wir haben anhand der Farbigkeit der Waffen festgestellt – und das ist relativ neu -, dass es eine ganz klare Farbcodierung gibt, wer Chef ist, wer in der Mitte ist und wer unten ist. Wie unsere Offiziersränge mit Sternen, die silbern oder golden sind, haben die verschiedenfarbige Waffen: Der Oberste hat eine goldene Waffe, der Nächste silberne Waffen, der Untere ganz einfache kupferne; also so, wie man sich die Olympiade vorstellen muss.. ."
    Und auch Frauen seien in ihrer Kleidung und deren Gewandnadeln sozial klar geordnet aufgetreten.
    Was zu Lebzeiten üblich war, wurde im Tod fortgesetzt und vollendet, da unterschieden sich die Herrscher der orientalischen wie mitteleuropäischen Gesellschaften nur gradual: dort steinerne Pyramiden, hier kegelförmige Grabhügel. Dort bis an die 150 m, hier mehr als 20 m hoch. Und im Inneren? Wieder eine Frage des Goldes.
    "Da hat die große Masse der Funktionseliten, der ehemaligen Häuptlinge, die haben einfach goldene Lockenringe – einen oder zwei. Die haben alle unter 10 g Gold im Grab. Die nächste Schicht ist die der Fürsten. Die haben 2-300 g im Grab, und der Super-Fürst hat mehr als 2 kg im Grab."
    Ein Gramm Gold aus dem Gestein zu extrahieren, habe damals rund einen Monat Arbeit gekostet, schätzt Harald Meller. Wären da nicht ein paar Goldnuggets gefunden worden, hätte es mehr als 150 Jahre gedauert, die Grabbeigabe zusammen zu bekommen!
    Es war nicht die einzige demonstrative Verschwendung, ließ sich aus den Resten des größten des "Super-Fürsten-Grabhügels", des sogenannten Bornhöck bei Halle an der Saale, ablesen.
    "Ich kann erzwingen, dass der beste Ackerboden in meinen Hügel gekippt wird. Ich kann erzwingen, dass die besten, tollsten, kostbarsten Mahlsteine in meinen Hügel kommen. Ich kann erzwingen, dass man eine alte Siedlung meiner Ahnen abträgt und in der Memoria an die Ahnen diese Siedlung auf mir aufhäuft. Meine Krieger müssen alle von mir verliehen Waffen opfern; Hunderte von Kilogramm Waffen werden geopfert und niedergelegt. Und der neue Fürst, wahrscheinlich der Sohn, muss neue Waffen ausgeben."
    Eine wehrhafte Allianz als Friedenssicherung
    Bei den Grabungsarbeiten kam auch eine weitere Parallele zu den orientalischen Hochkulturen zutage: es gab durchaus so etwas wie Schriftlichkeit. Auf einem ovalen Stück gebrannten Ton erkannte Grabungsleiter Torsten Schunke Zeichen.
    "Das sind Striche, das sind Punkte. Wir wissen nicht ganz genau, ob da etwas ganz Konkretes verschlüsselt ist, wie etwa eine Ware oder irgendeine Anzahl. Ich glaube eher: nein, wenn ich die Dinge so überblicke. Aber man sieht, dass man vielleicht mit dem Mittel Tontäfelchen irgendwelche Prozesse begleitet hat; vielleicht sind die eine Art Warenschein oder so etwas gewesen. Oder eine Art Zertifikat oder ein Beleg, dass etwas abgeliefert worden ist."
    Weit mehr als in Keramik hat man Informationen wahrscheinlich in sich zersetzendem Material wie Holz oder mittels Schnüren festgehalten, vermuten die Archäologen.
    Dennoch bleibt für uns Jetzt-Menschen die Frage offen, wieso das Volk diese Zwangsherrschaft oder Kleptokratie, wie es Jared Diamond bezeichnet, sehr lange mitgetragen hat. Man hätte auswandern können, was im Vorderen Orient oder Ägyptern durch die umliegenden Wüsten schwer möglich war. Hierzulande blieben sie, die Bauern, weil es, im Gegensatz zum Ende der Jungsteinzeit, friedliche Zeiten waren: keiner wagte es, den anderen zu vertreiben, und keiner wagte es einzudringen – dafür sorgte die Gemeinschaftsarmee. Eine Art Mini-EU sei entstanden, interpretiert es Professor Meller:
    "Das heißt, von Mitteldeutschland über Böhmen bis Polen, den ganzen nördlichen Mittelgebirgsbogen kann ich in Aunjetitz sichern – alle Passwege sind gesichert, dort stelle ich Armeen auf. Und keiner kommt von Nord nach Süden und von Süden nach Norden. Das hat einen riesigen Vorteil, denn im Norden gibt es Rohstoffe wie Bernstein und Felle und vieles andere, und Süden gibt’s Rohstoffe wie beispielsweise Kupfer."
    Zudem ergaben Untersuchungen an Skeletten jener Zeit, dass die meisten Menschen relativ gesund und größer gewachsen, also besser ernährt waren wie zuvor.
    "Also muss es für jeden, der im Staat bleibt, lohnender sein, dort zu sein zu bleiben als wegzugehen. Und das sehen wir an den Siedlungen, wenn wir uns die Häuser anschauen, dann sehen wir: Fast alle Häuser gleich. Und jetzt kommt das Allerinteressanteste: Fast alle Häuser wie in einem römischen Villensystem. Jeder würde in Mitteleuropa an seinem Acker siedeln. Jeder würde nicht gerne rausfahren zu seinen Äckern, möglichst weit, sondern direkt dort wohnen, wie man es mit einer römischen Villa macht, wo man weiß, man hat den Limes und die römische Arme, man wird nicht geplündert."
    Verteilungsgerechtigkeit in der frühen Bronzezeit
    Ergo: Man muss den einfachen Menschen nur genug lassen, dann stören auch die sozialen Unterschiede nicht gravierend.
    "In unserer Gesellschaft ist es auch so, da sind die Güter ja nicht gleich verteilt: Fünf Prozent haben ziemlich viel mehr als der Rest. Aber die stören uns nicht, solange wir uns ein Häuschen, ein Auto und Urlaub leisten können. Problematisch wird’s erst, wenn die fünf Prozent immer mehr nehmen und wenn die Unteren immer weniger haben - und wenn das bemerkt wird. Wir erleben das gerade in Frankreich, da wird’s bemerkt. Und dann wird’s schwierig."
    Wurde es wohl auch damals. Die Menschen kooperierten nicht mehr, das große Ganze zerfiel wieder in prähistorische Häuptlingstümer, die sich erneut bekämpften.
    "Das ist fast ein EU-Phänomen. Irgendjemand glaubt an einer Stelle, er braucht die anderen nicht mehr, er kann aus diesem Wirtschaftsbund ausscheren und cleverer direkt handeln. Das geschieht entlang der Oder. Und dann bricht das System zusammen."
    Immerhin – der Aunjetitzer Fürstenstaat der frühen Bronzezeit hielt vier Jahrhunderte lang. Wie viele Kriege, wie viel Elend gab es seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges vor 400 Jahren im jetzigen Mitteleuropa?
    Weiterführender Literatur:
    Harald Meller, Kai Michel: Die Himmelsscheibe von Nebra. Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas.
    Berlin 2018