"In Deutschland gibt es Lebensmittel im Überfluss, und dennoch haben nicht alle Menschen ihr täglich Brot."
So heißt es auf der Internetseite des Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V. Der Grundgedanke der Lebensmitteltafeln ist einfach: Was in Supermärkten oder Bäckereien aus den Regalen genommen wird, weil es zwar noch verwendbar ist, aber als nicht mehr verkaufbar gilt - Milchprodukte, deren Mindesthaltbarkeitsdatum bald erreicht ist genauso wie Brot vom Vortag oder eine Kiste Obst, in der sich ein Apfel mit Druckstelle befindet - wird an die weitergegeben, die oft mit geringen Mitteln auskommen müssen: Alleinerziehende, Hartz IV-Empfänger, Migranten, Rentner. Gesammelt und verteilt werden die Lebensmittel von rund 50.000 Ehrenamtlichen, die sich in gut 2.000 Tafelläden und -ausgabestellen engagieren.
So unterschiedlich die Tafeln in Deutschland auch organisiert sind - manche als eingetragener Verein, andere in Trägerschaft einer gemeinnützigen Organisation, manche geben die Lebensmittel umsonst ab, andere verlangen einen symbolischen Beitrag - eines ist allen gemeinsam: "Die Arbeit ist grundsätzlich ehrenamtlich." So steht es in den Grundsätzen, denen sich alle Initiativen, die sich Tafel nennen wollen, verpflichten müssen. Doch was von Politik und Medien oft als vorbildlich gepriesen wird, ist für Stefan Selke grundsätzlich fragwürdig.
"Tafeln deuten an, dass es hinter dieser Fassade der wohlanständigen zivilgesellschaftlichen, bürgerschaftlichen Hilfe ein System gibt, an dem Armut gut aufgehoben ist. Und wenn man sich mit diesem ersten Blick zufrieden gibt, hat das langfristig katastrophale Folgen, weil dann Handlungsbedarfe einfach verschwinden aus der Politik."
Selke ist Soziologe an der Fachhochschule in Furtwangen und durch drei Bücher, die er in den letzten zwei Jahren zu den Tafeln veröffentlicht hat, so etwas wie die treibende Kraft in der Tafelforschung. Einer von denen, die er mit seinem Engagement angesteckt hat, ist Rudolf Martens. Als Leiter der Forschungsstelle des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands hat er sich viel mit Armut in der Bundesrepublik beschäftigt.
Der Erfolg der Tafeln, so Martens, sei vor allem der Tatsache geschuldet, dass Armutsphasen in Deutschland heute viel länger anhalten als vor 20 Jahren. Wer früher ein paar Monate mit Sozialhilfe überbrücken konnte, weil er die Reparatur des Kühlschranks oder den Kauf eines neuen Paars Schuhe auf später verschob, merkt jetzt, dass die Regelsätze von Hartz IV auf Dauer nicht reichen. Hier kommen die Tafeln ins Spiel.
"Ein Drittel des Verbrauchs der Hartz IV Haushalte geht für Nahrungsmittel drauf, das heißt wenn ich eine Institution habe wie die Tafeln, die für sehr preiswert Lebensmittel zur Verfügung stellen können oder auch kostenlos, wird dieser Posten sehr stark reduziert, was dazu führt, dass man durch regelmäßiges Gehen zu den Tafeln letztlich ein Sonderbudget bekommt, was ich benutzen kann, um den Bedarf, den ich über Hartz IV oder Sozialhilfe nicht gedeckt bekomme, dass ich den plötzlich befriedigen kann."
Das Engagement der Tafeln sei deswegen gesellschaftlich klar zu begrüßen:
"Was man aber sagen muss und was man kritisch sehen muss, wenn die Politik sich damit schmückt, wenn man es gewissermaßen dazu missbraucht zu sagen in unserem Sozialstaat ist doch alles in Ordnung, wir haben die Tafeln, und die Tafeln sorgen dafür, dass die Lebensmittel an die richtigen Personen kommen. Das ist ein völlig schiefes und falsches Bild, weil was wir bräuchten, sind Regelsätze, die bedarfsgerecht sind, der aktuelle Regelsatz beträgt 359 Euro, er soll im neuen Jahr auf 364 Euro erhöht werden und das ist völlig ungenügend."
Nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes müsste ein angemessener Regelsatz mindestens 50 Euro höher liegen, Geld, das in vielen Hartz IV-Haushalten fehlt und zum Teil durch den Tafelbesuch eingespart werden kann. Doch der materielle Vorteil der Tafeln sei nur die eine Seite, betont Selke.:
"Der Gewinn ist vielleicht, dass ich ein paar Euro spare, die ich woanders reinvestieren kann, aber dafür gibt's auch Kosten und das wird bei der Diskussion ganz schnell verschwiegen. Es gibt emotionale und psychische Kosten, die das mit sich bringt, wenn jemand längerfristig vor allem zur Tafel geht, und ich hab mit Leuten gesprochen, die seit fünf, zehn Jahren zur Tafel gehen und die deutlich machen, dass es nicht nur eine Gewinn-Seite gibt, sondern auch eine Kostenseite, aber sie sehen keine Alternative, und das ist das Problem."
Wenn es um die Kostenseite der Tafeln geht, taucht vor allem ein Begriff immer wieder auf: Scham. Fast jeder Nutzer und jede Nutzerin muss sich - zumindest beim ersten Mal - überwinden, zur Tafel zu gehen. Eine Erfahrung, von der viele Mitarbeiter der Tafeln berichten und die Jens Becker von der Universität Frankfurt bestätigt. Der Sozialwissenschaftler hat Interviews mit Tafelnutzern im Raum Offenburg geführt und ist dabei auf etwas gestoßen, was er "verdeckte" Scham nennt:
"Man geht zur Tafel, um da noch etwas zu bekommen, das wird ja nicht offen ausgesprochen, und das nenne ich jetzt mal verdeckt, indem man eben nicht drüber redet, indem man möglichst auch seiner Umwelt nicht offensiv zeigt, dass man ein Tafelnutzer oder ein Tafelkunde eben ist."
Das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland kommt in einer Studie über Armut in ländlichen Regionen Niedersachsens zu ähnlichen Ergebnissen. Der Titel der Studie, "Nähe, die beschämt", spielt auf die hohe soziale Kontrolle auf dem Land an, wo jeder jeden kennt. Die Interviewten berichten übereinstimmend von der Angst, vor der Ausgabestelle einer Tafel von den Nachbarn gesehen und damit als arm "geoutet" zu werden. Dennoch bleibt die Frage, was beschämender ist: Hilfe von privater Seite wie den Tafeln oder von staatlicher wie dem Jobcenter oder der Arge, die für das umgangssprachlich Hartz IV genannte Arbeitslosengeld II zuständig sind. Becker:
"Der Gang zum Sozialamt, wie es immer heißt oder heute zur Agentur, ist für die Menschen auf jeden Fall 'erniedrigender' oder schwieriger, wollen wir es mal vorsichtiger formulieren, schwieriger, als wenn sie zur Tafel gehen. Das ist doch ein kleiner Unterschied, weil sie sind in der Behörde, so wird das aufgefasst, im Gang wartend und dann von dem Sachbearbeiter dann ja auch viel stärker abhängig oder von der Sachbearbeiterin, als wenn sie zur Tafel gehen, dort ihren Berechtigungsschein vorlegen und entsprechend dort Ware bekommen."
Allerdings, auch das macht Becker deutlich, stehen die Aussagen zu Armut und Scham unter einem großen Vorbehalt: Es handelt sich sowohl in seiner Arbeit als auch bei der Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD um einzelne qualitative Interviews, die in die Tiefe gehen, aber keine Repräsentativität beanspruchen können. Für verallgemeinerbare Aussagen auf wissenschaftlicher Grundlage müssten 1000 bis 1.500 Menschen - Tafelnutzer und Nichtnutzer - befragt werden. Eine solche Studie aber gibt es noch nicht.
Ein weiterer Schwerpunkt der sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ist die Instrumentalisierung der Tafeln durch die Politik. Gerd Häuser, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel skizziert das Problem:
"Die Gefahr besteht ständig, im Rahmen der Sozialpolitik, als Teil der Sozialpolitik vereinnahmt zu werden, oder dass zum Beispiel die Daseinsvorsorge teilweise an uns abgetreten wird, das kann und darf nicht sein, denn wir können eigentlich auch nur ergänzende Nahrungsmittel liefern und eine Planung, das ist fast nicht möglich. Sie wissen nicht, was Sie morgen haben."
Der Verband hat die Bundesregierung erst vor Kurzem aufgefordert, eine armutssichere Grundsicherung in Deutschland zu gewährleisten und in diesem Kontext auf die zu geringen Regelsätze bei Hartz IV hingewiesen. "Die solidarische Hilfe der Zivilgesellschaft", heißt es in der Pressmitteilung, "darf von der Politik nicht zum Lückenbüßer für eine unzureichende Grundsicherung gemacht werden". Solch kritischen Worte an die Politik sind allerdings eher die Ausnahme, betont der Jenaer Soziologe Stephan Lorenz, der sich in den vergangenen zwei Jahren in einem DFG-Projekt mit den Tafeln beschäftigt hat:
"Wenn die Tafeln nicht missbraucht werden wollten, müsste man irgendwie erkennen, dass sie sich dagegen engagieren, dass sie sozusagen vorgezeigt werden, dass man kooperiert mit ihnen, aber davon ist eigentlich nichts zu erkennen, sondern es geht eher: Diese Kooperation, dieses Sich-Zeigen mit der Politikprominenz, das ist eigentlich das, was die dominante Tendenz ist, während politische Initiativen nicht bekannt sind, dass man sozusagen für eine Stärkung der sozialen Rechte eintritt oder für Erhöhung der Sätze usw. und eben tatsächlich an dem eigenen Überflüssigwerden arbeiten würde, davon ist eigentlich nicht viel zu sehen."
Lorenz benennt damit einen Widerspruch, den nicht nur die Tafelmacher selbst sehen, sondern den letztlich auch die Politik immer wieder betont. Ursula von der Leyen war bis zum Frühjahr vergangenen Jahres als Familienministerin Schirmherrin des Bundesverbandes der Tafeln:
"Die Tafeln füllen genau eine Lücke, wo wir merken, dass Menschen zum Teil mit dem, was sie zum Lebensunterhalt haben, nicht selber zurechtkommen. Dennoch bleibt die Mahnung im Raum stehen: Wir müssen alles dafür tun, dass es im Prinzip solche Tafeln nicht mehr gibt."
Mit ihrem Wechsel ins Arbeitsministerium hat ihre Nachfolgerin als Familienministerin, Kristina Schröder, das Amt übernommen. Der Dachverband der Tafeln schmückt sich gern mit ihr - zuletzt bei der diesjährigen Lebensmittel-Sammelaktion vor Weihnachten. Dass ihre Vorgängerin inzwischen vehement für eine möglichst geringe Erhöhung der Regelsätze von Hartz IV kämpft, ist dem Bundesverband dagegen nicht der Rede wert. Ebenso problematisch wie die Nähe zur Politik ist für viele Forscher die Nähe der Tafeln zur Wirtschaft. Die Sozialwissenschaftlerin Britta Grell, die am Wissenschaftszentrum Berlin im Bereich Integration und soziale Ungleichheit forscht, hat sich mit der Geschichte der Tafeln in den USA, dem Mutterland der Tafelbewegung, beschäftigt. Als Beispiel nennt Grell den Lebensmittelkonzern Wal Mart:
"Wal Mart ist ja auch hier in Deutschland oder Europa bekannt geworden gerade dadurch, dass sie ihren eigenen Mitarbeitern Hungerlöhne bezahlen. Also Wal Mart ist ein ganz wichtiger Spender und ein ganz wichtiges Unternehmen, wo niemand anscheinend Berührungsängste hat von Seiten der Tafeln, auch sich mit diesen Konzernen, die zum Teil gegen Arbeitsrecht und gegen Menschenrechtliche Bestimmungen verstoßen, zusammen Werbekampagnen zu machen und diese auch besonders hervorzuheben als positive Beispiele."
Auch in Deutschland ist von Berührungsängsten der Tafeln mit Großkonzernen wenig zu spüren. In Pressemitteilungen oder auf der Homepage des Bundesverbandes werden die Sponsoren der Tafel in der Regel als bloße Wohltäter dargestellt - auch wenn das keineswegs alle bei den Tafeln so sehen. Die Vorsitzende und Gründerin der Berliner Tafel, Sabine Werth, bringt die Sache auf den Punkt:
"Ich fürchte auch, dass es inzwischen zu einem Interessenkonflikt kommen würde, wenn wir gegen unsere großen Unterstützungsfirmen allzu massiv vorgehen würden, und das ist natürlich ein ganz großes Problem. Am Anfang tolles Gefühl, zu wissen, riesige Firmen unterstützen uns, da kriegen wir das her, da das, ja und alle Tafeln in ganz Deutschland haben jetzt die Möglichkeit, diese und jene Vorzüge zu bekommen, aber es schafft natürlich Abhängigkeiten, ganz klar."
Werth hat die Berliner Tafel 1993 als erste Tafel in Deutschland gegründet - nach amerikanischem Vorbild. In den USA sind die so genannten "food banks" bereits über 40 Jahre alt und operieren- in einer Mischung aus Privatinitiative und staatlichen Zuschüssen - wie große Dienstleistungsunternehmen in Sachen Versorgung mit Lebensmitteln.
Die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland sind groß: Während die Tafeln in Deutschland prinzipiell nur die gespendeten Lebensmittel verteilen, kaufen die amerikanischen "food banks" Lebensmittel in großem Stil dazu, um ihren Nutzern eine Grundversorgung garantieren zu können. In den USA greift deswegen auch jeder Achte regelmäßig auf die Hilfe der Tafeln zurück, während es in Deutschland nur rund jeder Achtzigste ist. Dass sich der Sozialstaat vollkommen aus der Existenzsicherung seiner Bürger zurückzieht, ist hierzulande kaum denkbar. Doch das rasante Wachstum der Tafeln könnte auf eine ähnliche Tendenz zur Privatisierung der Armenversorgung hindeuten. Die Sozialwissenschaftlerin Britta Grell:
"Es gibt meiner Meinung nach so was wie eine Wachstums- und Professionalisierungsfalle, in die man auch in Deutschland tappen könnte, indem man meint, man muss sich immer mehr anstrengen, immer größer werden, um diese Lücken zu füllen."
Die Tafeln sind von den Ergebnissen der Tafelforschung nicht gerade begeistert, so der Soziologe Stefan Lorenz.
"Es gibt sozusagen auch Tafeln und Initiativen bei den Tafeln, die sind recht offen dafür, auch für die sozialwissenschaftliche Kritik, die wollen das sozusagen hören, wollen hören, was gibt es für Hinweise für uns und was können wir vielleicht anders machen, aber das ist nicht die dominante Tendenz. Die dominante Tendenz ist dann tatsächlich doch die des Weitermachens und des Etablierens, und da ist sozialwissenschaftliche Kritik dann eher unangenehm und weniger erwünscht."
Sein Kollege Jens Becker hat ähnliche Erfahrungen gemacht:
"Es ist ja auch immer schwierig, wenn man glaubt, Gutes zu tun oder wenn man wirklich auch Gutes tut und dann kommen andere und legen dann so ein bisschen den Finger in die Wunde oder zeigen auch bestimmte Schwächen auf, da fühlt man sich ja auch ein Stück weit angegriffen."
Genauso empfindet es Sabine Werth:
"Mir geht es jetzt seit Monaten viel zu sehr immer mit dieser Erhobener-Zeigefinger-Geschichte von wegen 'Ihr Tafeln, Ihr seid so böse, und wenn Ihr nicht existieren würdet, dann würde es kein Hartz IV geben'. Hahaha - dann würde es keine armen Menschen geben - Hähä - das ist absolut lächerlich! Diese ganze Angriffsnummer, die jetzt seit ewigen Zeiten läuft, ist einfach meiner Meinung nach völlig an der Realität vorbei."
Doch die Gründerin der Berliner Tafel weiß auch, dass sie und ihre Mitstreiter sich weiter entwickeln müssen - hin zu mehr politischem Engagement:
"In unserer Gesellschaft verlassen sich inzwischen sehr viele auf die Tafeln, und wir Tafelleute könnten es uns ja auch nicht mehr anders vorstellen, als dass wir diese Arbeit machen. Und deswegen glaube ich, dass es unendlich wichtig ist, dass wir selber überlegen, wo wollen wir hin, und dass wir uns selber ernster nehmen und selber Positionen entwickeln, die wir zum Teil noch gar nicht haben, und das ist, glaub ich, ein ganz, ganz wichtiger Punkt, den wir gerade als Tafeln im Augenblick selber angehen müssen."
Ob das innerhalb der Strukturen der Tafelarbeit möglich ist, ist fraglich. Das Interesse der Organisationen an einer Selbsterhaltung und Vergrößerung scheint wichtiger als eine Neubestimmung der Ziele, das macht die Tafelforschung deutlich. Vielleicht müssen die Impulse deshalb von außen kommen, so wie in den USA. Dort sind, so die Berliner Forscherin Britta Grell, einige Gründer von Lebensmitteltafeln inzwischen ausgestiegen und haben sich kritisch mit ihrem einstigen Engagement auseinandergesetzt:
"Die sagen: Wir haben an so was wie 'nem Wohltätigkeitsmythos auch festgehalten, den haben wir auch mit geschürt, weil wir haben uns immer mehr angestrengt, wir wurden immer größer, und jetzt müssen wir einfach feststellen, dass das Grundproblem Armut, Armutserscheinung, wir damit nicht in den Griff bekommen, und dass wir noch mal eine neue Diskussion über Strategien der Armutsbekämpfung führen müssen, also es gibt eine kritische Diskussion von einigen auch recht prominenten früher Advokaten von Lebensmitteltafeln, die sagen nicht Schluss, macht alle Lebensmitteltafeln zu, aber die dazu aufrufen, das Grundprinzip in Frage zu stellen."
So heißt es auf der Internetseite des Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V. Der Grundgedanke der Lebensmitteltafeln ist einfach: Was in Supermärkten oder Bäckereien aus den Regalen genommen wird, weil es zwar noch verwendbar ist, aber als nicht mehr verkaufbar gilt - Milchprodukte, deren Mindesthaltbarkeitsdatum bald erreicht ist genauso wie Brot vom Vortag oder eine Kiste Obst, in der sich ein Apfel mit Druckstelle befindet - wird an die weitergegeben, die oft mit geringen Mitteln auskommen müssen: Alleinerziehende, Hartz IV-Empfänger, Migranten, Rentner. Gesammelt und verteilt werden die Lebensmittel von rund 50.000 Ehrenamtlichen, die sich in gut 2.000 Tafelläden und -ausgabestellen engagieren.
So unterschiedlich die Tafeln in Deutschland auch organisiert sind - manche als eingetragener Verein, andere in Trägerschaft einer gemeinnützigen Organisation, manche geben die Lebensmittel umsonst ab, andere verlangen einen symbolischen Beitrag - eines ist allen gemeinsam: "Die Arbeit ist grundsätzlich ehrenamtlich." So steht es in den Grundsätzen, denen sich alle Initiativen, die sich Tafel nennen wollen, verpflichten müssen. Doch was von Politik und Medien oft als vorbildlich gepriesen wird, ist für Stefan Selke grundsätzlich fragwürdig.
"Tafeln deuten an, dass es hinter dieser Fassade der wohlanständigen zivilgesellschaftlichen, bürgerschaftlichen Hilfe ein System gibt, an dem Armut gut aufgehoben ist. Und wenn man sich mit diesem ersten Blick zufrieden gibt, hat das langfristig katastrophale Folgen, weil dann Handlungsbedarfe einfach verschwinden aus der Politik."
Selke ist Soziologe an der Fachhochschule in Furtwangen und durch drei Bücher, die er in den letzten zwei Jahren zu den Tafeln veröffentlicht hat, so etwas wie die treibende Kraft in der Tafelforschung. Einer von denen, die er mit seinem Engagement angesteckt hat, ist Rudolf Martens. Als Leiter der Forschungsstelle des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands hat er sich viel mit Armut in der Bundesrepublik beschäftigt.
Der Erfolg der Tafeln, so Martens, sei vor allem der Tatsache geschuldet, dass Armutsphasen in Deutschland heute viel länger anhalten als vor 20 Jahren. Wer früher ein paar Monate mit Sozialhilfe überbrücken konnte, weil er die Reparatur des Kühlschranks oder den Kauf eines neuen Paars Schuhe auf später verschob, merkt jetzt, dass die Regelsätze von Hartz IV auf Dauer nicht reichen. Hier kommen die Tafeln ins Spiel.
"Ein Drittel des Verbrauchs der Hartz IV Haushalte geht für Nahrungsmittel drauf, das heißt wenn ich eine Institution habe wie die Tafeln, die für sehr preiswert Lebensmittel zur Verfügung stellen können oder auch kostenlos, wird dieser Posten sehr stark reduziert, was dazu führt, dass man durch regelmäßiges Gehen zu den Tafeln letztlich ein Sonderbudget bekommt, was ich benutzen kann, um den Bedarf, den ich über Hartz IV oder Sozialhilfe nicht gedeckt bekomme, dass ich den plötzlich befriedigen kann."
Das Engagement der Tafeln sei deswegen gesellschaftlich klar zu begrüßen:
"Was man aber sagen muss und was man kritisch sehen muss, wenn die Politik sich damit schmückt, wenn man es gewissermaßen dazu missbraucht zu sagen in unserem Sozialstaat ist doch alles in Ordnung, wir haben die Tafeln, und die Tafeln sorgen dafür, dass die Lebensmittel an die richtigen Personen kommen. Das ist ein völlig schiefes und falsches Bild, weil was wir bräuchten, sind Regelsätze, die bedarfsgerecht sind, der aktuelle Regelsatz beträgt 359 Euro, er soll im neuen Jahr auf 364 Euro erhöht werden und das ist völlig ungenügend."
Nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes müsste ein angemessener Regelsatz mindestens 50 Euro höher liegen, Geld, das in vielen Hartz IV-Haushalten fehlt und zum Teil durch den Tafelbesuch eingespart werden kann. Doch der materielle Vorteil der Tafeln sei nur die eine Seite, betont Selke.:
"Der Gewinn ist vielleicht, dass ich ein paar Euro spare, die ich woanders reinvestieren kann, aber dafür gibt's auch Kosten und das wird bei der Diskussion ganz schnell verschwiegen. Es gibt emotionale und psychische Kosten, die das mit sich bringt, wenn jemand längerfristig vor allem zur Tafel geht, und ich hab mit Leuten gesprochen, die seit fünf, zehn Jahren zur Tafel gehen und die deutlich machen, dass es nicht nur eine Gewinn-Seite gibt, sondern auch eine Kostenseite, aber sie sehen keine Alternative, und das ist das Problem."
Wenn es um die Kostenseite der Tafeln geht, taucht vor allem ein Begriff immer wieder auf: Scham. Fast jeder Nutzer und jede Nutzerin muss sich - zumindest beim ersten Mal - überwinden, zur Tafel zu gehen. Eine Erfahrung, von der viele Mitarbeiter der Tafeln berichten und die Jens Becker von der Universität Frankfurt bestätigt. Der Sozialwissenschaftler hat Interviews mit Tafelnutzern im Raum Offenburg geführt und ist dabei auf etwas gestoßen, was er "verdeckte" Scham nennt:
"Man geht zur Tafel, um da noch etwas zu bekommen, das wird ja nicht offen ausgesprochen, und das nenne ich jetzt mal verdeckt, indem man eben nicht drüber redet, indem man möglichst auch seiner Umwelt nicht offensiv zeigt, dass man ein Tafelnutzer oder ein Tafelkunde eben ist."
Das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland kommt in einer Studie über Armut in ländlichen Regionen Niedersachsens zu ähnlichen Ergebnissen. Der Titel der Studie, "Nähe, die beschämt", spielt auf die hohe soziale Kontrolle auf dem Land an, wo jeder jeden kennt. Die Interviewten berichten übereinstimmend von der Angst, vor der Ausgabestelle einer Tafel von den Nachbarn gesehen und damit als arm "geoutet" zu werden. Dennoch bleibt die Frage, was beschämender ist: Hilfe von privater Seite wie den Tafeln oder von staatlicher wie dem Jobcenter oder der Arge, die für das umgangssprachlich Hartz IV genannte Arbeitslosengeld II zuständig sind. Becker:
"Der Gang zum Sozialamt, wie es immer heißt oder heute zur Agentur, ist für die Menschen auf jeden Fall 'erniedrigender' oder schwieriger, wollen wir es mal vorsichtiger formulieren, schwieriger, als wenn sie zur Tafel gehen. Das ist doch ein kleiner Unterschied, weil sie sind in der Behörde, so wird das aufgefasst, im Gang wartend und dann von dem Sachbearbeiter dann ja auch viel stärker abhängig oder von der Sachbearbeiterin, als wenn sie zur Tafel gehen, dort ihren Berechtigungsschein vorlegen und entsprechend dort Ware bekommen."
Allerdings, auch das macht Becker deutlich, stehen die Aussagen zu Armut und Scham unter einem großen Vorbehalt: Es handelt sich sowohl in seiner Arbeit als auch bei der Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD um einzelne qualitative Interviews, die in die Tiefe gehen, aber keine Repräsentativität beanspruchen können. Für verallgemeinerbare Aussagen auf wissenschaftlicher Grundlage müssten 1000 bis 1.500 Menschen - Tafelnutzer und Nichtnutzer - befragt werden. Eine solche Studie aber gibt es noch nicht.
Ein weiterer Schwerpunkt der sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ist die Instrumentalisierung der Tafeln durch die Politik. Gerd Häuser, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel skizziert das Problem:
"Die Gefahr besteht ständig, im Rahmen der Sozialpolitik, als Teil der Sozialpolitik vereinnahmt zu werden, oder dass zum Beispiel die Daseinsvorsorge teilweise an uns abgetreten wird, das kann und darf nicht sein, denn wir können eigentlich auch nur ergänzende Nahrungsmittel liefern und eine Planung, das ist fast nicht möglich. Sie wissen nicht, was Sie morgen haben."
Der Verband hat die Bundesregierung erst vor Kurzem aufgefordert, eine armutssichere Grundsicherung in Deutschland zu gewährleisten und in diesem Kontext auf die zu geringen Regelsätze bei Hartz IV hingewiesen. "Die solidarische Hilfe der Zivilgesellschaft", heißt es in der Pressmitteilung, "darf von der Politik nicht zum Lückenbüßer für eine unzureichende Grundsicherung gemacht werden". Solch kritischen Worte an die Politik sind allerdings eher die Ausnahme, betont der Jenaer Soziologe Stephan Lorenz, der sich in den vergangenen zwei Jahren in einem DFG-Projekt mit den Tafeln beschäftigt hat:
"Wenn die Tafeln nicht missbraucht werden wollten, müsste man irgendwie erkennen, dass sie sich dagegen engagieren, dass sie sozusagen vorgezeigt werden, dass man kooperiert mit ihnen, aber davon ist eigentlich nichts zu erkennen, sondern es geht eher: Diese Kooperation, dieses Sich-Zeigen mit der Politikprominenz, das ist eigentlich das, was die dominante Tendenz ist, während politische Initiativen nicht bekannt sind, dass man sozusagen für eine Stärkung der sozialen Rechte eintritt oder für Erhöhung der Sätze usw. und eben tatsächlich an dem eigenen Überflüssigwerden arbeiten würde, davon ist eigentlich nicht viel zu sehen."
Lorenz benennt damit einen Widerspruch, den nicht nur die Tafelmacher selbst sehen, sondern den letztlich auch die Politik immer wieder betont. Ursula von der Leyen war bis zum Frühjahr vergangenen Jahres als Familienministerin Schirmherrin des Bundesverbandes der Tafeln:
"Die Tafeln füllen genau eine Lücke, wo wir merken, dass Menschen zum Teil mit dem, was sie zum Lebensunterhalt haben, nicht selber zurechtkommen. Dennoch bleibt die Mahnung im Raum stehen: Wir müssen alles dafür tun, dass es im Prinzip solche Tafeln nicht mehr gibt."
Mit ihrem Wechsel ins Arbeitsministerium hat ihre Nachfolgerin als Familienministerin, Kristina Schröder, das Amt übernommen. Der Dachverband der Tafeln schmückt sich gern mit ihr - zuletzt bei der diesjährigen Lebensmittel-Sammelaktion vor Weihnachten. Dass ihre Vorgängerin inzwischen vehement für eine möglichst geringe Erhöhung der Regelsätze von Hartz IV kämpft, ist dem Bundesverband dagegen nicht der Rede wert. Ebenso problematisch wie die Nähe zur Politik ist für viele Forscher die Nähe der Tafeln zur Wirtschaft. Die Sozialwissenschaftlerin Britta Grell, die am Wissenschaftszentrum Berlin im Bereich Integration und soziale Ungleichheit forscht, hat sich mit der Geschichte der Tafeln in den USA, dem Mutterland der Tafelbewegung, beschäftigt. Als Beispiel nennt Grell den Lebensmittelkonzern Wal Mart:
"Wal Mart ist ja auch hier in Deutschland oder Europa bekannt geworden gerade dadurch, dass sie ihren eigenen Mitarbeitern Hungerlöhne bezahlen. Also Wal Mart ist ein ganz wichtiger Spender und ein ganz wichtiges Unternehmen, wo niemand anscheinend Berührungsängste hat von Seiten der Tafeln, auch sich mit diesen Konzernen, die zum Teil gegen Arbeitsrecht und gegen Menschenrechtliche Bestimmungen verstoßen, zusammen Werbekampagnen zu machen und diese auch besonders hervorzuheben als positive Beispiele."
Auch in Deutschland ist von Berührungsängsten der Tafeln mit Großkonzernen wenig zu spüren. In Pressemitteilungen oder auf der Homepage des Bundesverbandes werden die Sponsoren der Tafel in der Regel als bloße Wohltäter dargestellt - auch wenn das keineswegs alle bei den Tafeln so sehen. Die Vorsitzende und Gründerin der Berliner Tafel, Sabine Werth, bringt die Sache auf den Punkt:
"Ich fürchte auch, dass es inzwischen zu einem Interessenkonflikt kommen würde, wenn wir gegen unsere großen Unterstützungsfirmen allzu massiv vorgehen würden, und das ist natürlich ein ganz großes Problem. Am Anfang tolles Gefühl, zu wissen, riesige Firmen unterstützen uns, da kriegen wir das her, da das, ja und alle Tafeln in ganz Deutschland haben jetzt die Möglichkeit, diese und jene Vorzüge zu bekommen, aber es schafft natürlich Abhängigkeiten, ganz klar."
Werth hat die Berliner Tafel 1993 als erste Tafel in Deutschland gegründet - nach amerikanischem Vorbild. In den USA sind die so genannten "food banks" bereits über 40 Jahre alt und operieren- in einer Mischung aus Privatinitiative und staatlichen Zuschüssen - wie große Dienstleistungsunternehmen in Sachen Versorgung mit Lebensmitteln.
Die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland sind groß: Während die Tafeln in Deutschland prinzipiell nur die gespendeten Lebensmittel verteilen, kaufen die amerikanischen "food banks" Lebensmittel in großem Stil dazu, um ihren Nutzern eine Grundversorgung garantieren zu können. In den USA greift deswegen auch jeder Achte regelmäßig auf die Hilfe der Tafeln zurück, während es in Deutschland nur rund jeder Achtzigste ist. Dass sich der Sozialstaat vollkommen aus der Existenzsicherung seiner Bürger zurückzieht, ist hierzulande kaum denkbar. Doch das rasante Wachstum der Tafeln könnte auf eine ähnliche Tendenz zur Privatisierung der Armenversorgung hindeuten. Die Sozialwissenschaftlerin Britta Grell:
"Es gibt meiner Meinung nach so was wie eine Wachstums- und Professionalisierungsfalle, in die man auch in Deutschland tappen könnte, indem man meint, man muss sich immer mehr anstrengen, immer größer werden, um diese Lücken zu füllen."
Die Tafeln sind von den Ergebnissen der Tafelforschung nicht gerade begeistert, so der Soziologe Stefan Lorenz.
"Es gibt sozusagen auch Tafeln und Initiativen bei den Tafeln, die sind recht offen dafür, auch für die sozialwissenschaftliche Kritik, die wollen das sozusagen hören, wollen hören, was gibt es für Hinweise für uns und was können wir vielleicht anders machen, aber das ist nicht die dominante Tendenz. Die dominante Tendenz ist dann tatsächlich doch die des Weitermachens und des Etablierens, und da ist sozialwissenschaftliche Kritik dann eher unangenehm und weniger erwünscht."
Sein Kollege Jens Becker hat ähnliche Erfahrungen gemacht:
"Es ist ja auch immer schwierig, wenn man glaubt, Gutes zu tun oder wenn man wirklich auch Gutes tut und dann kommen andere und legen dann so ein bisschen den Finger in die Wunde oder zeigen auch bestimmte Schwächen auf, da fühlt man sich ja auch ein Stück weit angegriffen."
Genauso empfindet es Sabine Werth:
"Mir geht es jetzt seit Monaten viel zu sehr immer mit dieser Erhobener-Zeigefinger-Geschichte von wegen 'Ihr Tafeln, Ihr seid so böse, und wenn Ihr nicht existieren würdet, dann würde es kein Hartz IV geben'. Hahaha - dann würde es keine armen Menschen geben - Hähä - das ist absolut lächerlich! Diese ganze Angriffsnummer, die jetzt seit ewigen Zeiten läuft, ist einfach meiner Meinung nach völlig an der Realität vorbei."
Doch die Gründerin der Berliner Tafel weiß auch, dass sie und ihre Mitstreiter sich weiter entwickeln müssen - hin zu mehr politischem Engagement:
"In unserer Gesellschaft verlassen sich inzwischen sehr viele auf die Tafeln, und wir Tafelleute könnten es uns ja auch nicht mehr anders vorstellen, als dass wir diese Arbeit machen. Und deswegen glaube ich, dass es unendlich wichtig ist, dass wir selber überlegen, wo wollen wir hin, und dass wir uns selber ernster nehmen und selber Positionen entwickeln, die wir zum Teil noch gar nicht haben, und das ist, glaub ich, ein ganz, ganz wichtiger Punkt, den wir gerade als Tafeln im Augenblick selber angehen müssen."
Ob das innerhalb der Strukturen der Tafelarbeit möglich ist, ist fraglich. Das Interesse der Organisationen an einer Selbsterhaltung und Vergrößerung scheint wichtiger als eine Neubestimmung der Ziele, das macht die Tafelforschung deutlich. Vielleicht müssen die Impulse deshalb von außen kommen, so wie in den USA. Dort sind, so die Berliner Forscherin Britta Grell, einige Gründer von Lebensmitteltafeln inzwischen ausgestiegen und haben sich kritisch mit ihrem einstigen Engagement auseinandergesetzt:
"Die sagen: Wir haben an so was wie 'nem Wohltätigkeitsmythos auch festgehalten, den haben wir auch mit geschürt, weil wir haben uns immer mehr angestrengt, wir wurden immer größer, und jetzt müssen wir einfach feststellen, dass das Grundproblem Armut, Armutserscheinung, wir damit nicht in den Griff bekommen, und dass wir noch mal eine neue Diskussion über Strategien der Armutsbekämpfung führen müssen, also es gibt eine kritische Diskussion von einigen auch recht prominenten früher Advokaten von Lebensmitteltafeln, die sagen nicht Schluss, macht alle Lebensmitteltafeln zu, aber die dazu aufrufen, das Grundprinzip in Frage zu stellen."