Achim Hahn: Und jetzt steht er im Mittelpunkt: Bruce Springsteen, denn der Boss hat Geburtstag. 70 Jahre wird er alt und da fällt ein Buch auf, das zum ersten Mal autorisiert die Lyrics von Springsteen auf Deutsch präsentiert, neben einem ausführlichen Begleittext, der Springsteens Songtexte als einen großen amerikanischen Roman versteht. "Bruce Springsteen - Like a Killer in the sun", heißt das überziegelsteingroße Mammutwerk, das 960 Seiten umfasst und mit einem akribisch recherchierten, wissenschaftlichen Apparat versehen ist. Geschrieben wurde das Buch von dem Romanautor und Springsteen-Fan Leonardo Colombati, und mitgewirkt daran hat auch Deutschrockpoet Heinz Rudolf Kunze - denn der hat die Springsteen-Texte ins Deutsche übersetzt. Hallo Herr Kunze.
Heinz Rudolf Kunze: Schönen, guten Tag.
Hahn: Welche Beziehung haben Sie zu Bruce Springsteen? Sie haben Ihre Übersetzung ja auch Peter Rüchel gewidmet, dem Rockpalast-Erfinder, der Sie offenbar erstmals auf Springsteen aufmerksam gemacht hatte.
Kunze: Ja, das ist richtig. Von Rüchel hab ich eine ganze Menge gelernt, und unter anderem hat er mich auf diesen wichtigen, amerikanischen Sänger aufmerksam gemacht. Ich hatte ihn bis daher nur so im Augen- und Ohrenwinkel wahrgenommen und habe mich dann mehr damit beschäftigt. Was halte ich von Springsteen? Wie schätze ich ihn ein? Na ja, ganz klar. Er ist eine der herausragenden, zentralen, elektrischen Erzähler-Persönlichkeiten in musikalischer Form, die uns Amerika gegeben hat. Er gehört in diese Reihe von Bob Dylan, Leonard Cohen, Neil Young, Paul Simon, Randy Newman und so weiter und so weiter - Tom Waits. Da gehört er schon zentral hinein, und er ist deswegen - finde ich - auch so interessant, weil er wohl von all diesen elektrischen Erzählern, wie ich sie immer nenne, es geschafft hat, den größten Breitenerfolg zu erzielen.
Er hat es tatsächlich geschafft, mit Inhalt und mit interessanter Musik sehr, sehr viele Menschen zu erreichen - also mehr als die anderen, auf jeden Fall, definitiv. Was sicherlich auch daran liegt, dass er eine so unglaubliche Live-Dynamik hat. Ich habe ihn nur - leider muss ich sagen - dreimal in meinem Leben live gesehen. Und er gehört sicherlich zu dem Explosivsten, zu dem Aufregendsten, was in der Rockmusik je auf Bühnen passiert ist. Er hat eine unglaubliche Bühnenpräsenz und schafft es, ein Fußballstadion nach wenigen Nummern in einen intimen Club zu verwandeln.
Ein Filmerzähler in musikalischer Form
Hahn: Was, glauben Sie, ist sein spezifischer großer Input für die Rockmusik? Was macht die Songtexte Springsteens so besonders?
Kunze: Also ihre größere Zugänglichkeit, würde ich sagen. Er ist nicht so verrätselt wie Cohen und Dylan und Neil Young. Er spricht sehr direkt. Er hat zwar auch eine bildkräftige und bildmächtige Sprache, aber er ist nicht so wortverliebt wie diese anderen Poeten, wo manchmal die Sprache sich mit sich selbst beschäftigt. Das meine ich in keiner Weise abwertend. Springsteen ist eher ein Filmerzähler in musikalischer Form. Diese Lieder, die er macht, das sind Kurzfilme, sehr häufig. Man sieht es richtig so Marlon Brando oder Robert Mitchum vor sich oder James Dean oder immer wieder auch Bruce Springsteen irgendwie selbst, kaum maskiert als Hauptdarsteller seiner Lieder. Das sind kleine Filme, die er uns erzählt. Und ich glaube, wenn Wim Wenders nicht Filme machen würde, sondern Songs, dann würde er sie so ähnlich machen.
Hahn: Aus welcher Lebenswelt spricht Springsteen denn zu uns?
Kunze: Springsteen kommt aus kleinen Arbeiterverhältnissen aus New Jersey. Er hat italienische und irische Wurzeln, und er spricht sehr stark, immer wieder von den einfachen Leuten. Deswegen ist er wahrscheinlich auch so geliebt von ganz vielen Menschen. Er spricht von den Arbeitern, von den Gescheiterten, von den Zu-kurz-Gekommenen, immer wieder natürlich auch von typisch amerikanischen Song- und Filmthemen: die endlosen Highways, die Motorräder, die Autos und die Girls, denen man hinterherjagt und immer wieder die verzweifelten Liebesenttäuschungen oder letzten Endes doch das Großseligmachende der Liebe, und das alles mit einem nicht zu überhörenden, dann auch religiösen Unterton. Er hat zwar - glaube ich - keine aktive Beziehung zum Katholizismus, in den er hineingeboren wurde, er ist aber auch nie ausgetreten. Und letzten Endes, wenn man genauer hinguckt, sind alle großen amerikanischen Singer-Songwriter irgendwo auch ein bisschen Gospelsänger. Und das ist bei ihm genauso.
"Sinnbild künstlerischer und moralischer Integrität"
Hahn: Er gilt "als Sinnbild künstlerischer und moralischer Integrität", wie Colombati schreibt, als einer, der die Normalmenschen versteht, wie Sie gerade erzählt haben. Wie überzeugend ist das noch im Amerika von heute und als Multimillionär, der ja ist?
Kunze: Ja, damit haben die Amerikaner ja kein Problem. Das ist ja keine Neidkultur wie bei uns, sondern eine Bewunderungskultur. Also Reichtum ist nicht automatisch ein Stigma, sondern er hat ja schließlich in den Augen der Leute das auch alles selbst verdient, in jedem Sinne des Wortes. Er hat es sich ja selber erschaffen, selber erarbeitet. Er ist ja auch kein böser Kapitalist, der irgendwelche Arbeiter ausbeutet und sich ihren Mehrwert aneignet. Nein, er ist ja Künstler, und das ist ja alles auf seinem Mist gewachsen. Da sind die Leute in Amerika sehr tolerant, und ich glaube, dass sie ihn aufgrund seiner Lieder doch immer noch als einen der ihren empfinden, als nicht abgehoben. Und er hat ja auch etwas sehr Natürliches in seinem Auftreten. Das sind natürlich alles Spekulationen. Ich kann nur über den Autor reden. Den Menschen kenne ich nicht. Ich bin ihm eben nie begegnet. Man hat aber doch den begründeten Verdacht, dass hinter diesem sehr humanistischen Autor auch an sehr liebenswerter Mensch stecken müsste.
Wir haben länger mit Heinz Rudolf Kunze gesprochen –
hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
Hahn: "Born in the USA" - vielleicht sein bekanntester Hit - ist der Song eines müden Vietnam-Veteranen und gilt doch als patriotische Hymne. Wie sehr wird denn der Boss eigentlich für nationalistische Zwecke benutzt?
Kunze: Es hat ihm schon ein müdes Lächeln ins Gesicht gezwungen damals, als Ronald Reagan sich als Fan dieses Liedes geoutet hat. Nun, Künstler sind - ich kenne das am eigenen Leib - nie gefeit vor Missverständnissen. Dieses Lied hat Reagan offenbar überhaupt nicht kapiert, denn da hätte er dann, wenn er auch nur eine weitere Zeile gelesen und verstanden hätte, nichts mehr zum Jubeln gefunden. Aber es kann natürlich auch sein, dass Bruce ein wenig kokettiert hat mit der Missverstehbarkeit dieser Titelzeile. Das wäre dann eine leicht mephistophelische Note an ihm, die ich ihm jetzt nicht unterstellen möchte. Aber eine Denkmöglichkeit ist es. Na ja, er ist auf jeden Fall jemand, der sich immer wieder deutlicher äußert, muss man schon ganz klar zu seinen Gunsten sagen, als die meisten anderen amerikanischen Musiker. Er ist ganz klar ein Anwalt der kleinen Leute, und seine Sympathien für die Demokratische Partei und für Obama und so weiter hat er niemals unter den Teppich gekehrt.
Hahn: Trump nennt er einen "giftigen, gefährlichen Narzissten". Ist er auch da ein Vorbild im politischen Aktivismus?
Kunze: Ich denke schon. Er ist jemand, der Haltung zeigt, und wenn man viele seiner Lieder hört, wo er sich Gedanken gemacht über das Geschick der betrogenen, ausgebeuteten kleinen Leute, dann fragt man sich schon, warum tun das nicht mehr Leute jenseits des Teiches? Es gibt da eigentlich eine große Resignation. Bob Dylan sagt schon lange nichts mehr in der Richtung. Neil Young drückt sich auch sehr rätselhaft aus. Da ragt er schon ziemlich heraus - zumindest was die klassische Generation der älter gewordenen Sänger betrifft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Leonardo Colombati: "Bruce Springsteen – Like a Killer in the Sun"
Deutsche Erstausgabe. Songtexte übersetzt von Heinz Rudolf Kunze.
Reclam Verlag Stuttgart 2019. 960 Seiten, 35 Euro.
Deutsche Erstausgabe. Songtexte übersetzt von Heinz Rudolf Kunze.
Reclam Verlag Stuttgart 2019. 960 Seiten, 35 Euro.