Ursula Mense: Professor Josef Hegger, sie sind Professor für Bauingenieurwesen und Massivbauweise an der RWTH Aachen. Was haben Sie gedacht, als die die Bilder der eingestürzten Brücke in Genua gesehen haben.
Josef Hegger: Also, als ich heute diese Bilder in der Zeitung gesehen habe, habe ich mich sofort an ein Bild in meiner Vorlesung erinnert. Denn, dort zeige ich die Maracaibo-Brücke in Venezuela, also ziemlich baugleich wie die Brücke in Genua.
Mense: Baugleich heißt genau?
Hegger: Also von der Konstruktionsart, Pylonen, mit Schrägseilen, Schrägseile, Betonstele eingepackt oder Spannstele eingepackt in Beton, und dann Einhängefelder zwischen diesen Pylonen als statische Systeme.
Mense: Und wo liegt das Problem dieser Konstruktion?
Hegger: Also diese Konstruktion war damals extrem innovativ. Die Konstruktion hat, aus meiner Sicht, weniger Redundanz als übliche Brücken.
Stabilität und Sicherheit
Mense: Das müssen Sie erklären, was bedeutet das?
Hegger: Redundanz heißt, was passiert, wenn ein Tragglied oder ein Element des Tragwerks ausfällt, sind dann die restlichen Tragglieder in der Lage, noch ein stabiles System herzustellen. Die Frage ist also, was passiert, wenn zum Beispiel der Einhängeträger abrutscht oder ein Schrägseil reißt, ob dann die restlichen Elemente die Stabilität der Brücke sichern können.
Mense: Kann man das denn im Vorhinein erkennen?
Hegger: Also ich gehe davon aus, dass man damals bei der Konstruktion diese Fälle alle durchgespielt hat. Jetzt ist die Brücke 50 Jahre alt, gealtert, sie hat höhere Verkehrslasten, hat also viele Verkehrslasten schon ertragen in 50 Jahren. Und es ist die Frage, ob jetzt diese Bauteile jetzt immer noch diese Redundanz, die mal da war, noch ermöglichen. Das müssen die Experten vor Ort klären.
Mense: Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, liegt schon das Problem eigentlich in dieser Konstruktion, dass eben ein zweites Element nicht den Fehler des ersten auffangen konnte.
Hegger: Ich würde das nicht als Problem bezeichnen. Das ist typisch für diese Konstruktion, und ich gehe davon aus, dass man damals bei dem Bau und bei dem Berechnen dieser Brücke, diese Dinge schon bedacht hat. Nur die Frage ist, ob jetzt alle Elemente, die damals vielleicht voll leistungsfähig waren, heute diese Leistungsfähigkeit noch hatten. Und wenn das nicht gegeben ist, dann kann vielleicht sowas passieren, was jetzt passiert ist.
Schrägseilbrücken in Deutschland sind kein Problem
Mense: Aber das könnte natürlich bei uns auch passieren, denn wir haben ja auch Brücken mit diesen Schrägseilkonstruktionen.
Hegger: Ja, aber bei unseren typischen Schrägseilbrücken, die wir am Rhein sehen, haben wir meistens mehrere Schrägseile. Diese Schrägseile sind außerdem mit Kunststoffversiegelungen versehen. Diese Schrägseile werden bei uns in ganz kurzen Abständen, alle drei bis sechs Jahre, regelmäßig überprüft. Jeder hat das ja schon mal gesehen, wenn diese Schutzgerüste an den Kabeln so langsam hochfahren, und dann wird mit Ultraschall und anderen Messmethoden untersucht, ob Brüche im Stahl vorhanden sind, und vor allen Dingen diese Tragglieder sind aufgeteilt in ganz viele einzelne Teile. Und dann ist es nicht so kritisch, wenn ein Kabel in diesem dicken Kabel dann versagt.
Mense: Nun ist ja auch diese Stahlbetonbauweise in die Kritik geraten. Inwiefern betrifft das denn auch unsere Brücken?
Hegger: Also da wird schnell pauschal geurteilt, dass Betonbrücken ein Problem haben. Man muss immer bedenken, das sind Bauwerke, die 50, 60 Jahre alt sind, die nicht für diese Belastungen berechnet wurden und ausgelegt wurden, wie sie heute erfahren, und auf der anderen Seite sind Stahlbeton- und Spannbetonbrücken die wirtschaftlichsten Konstruktionen. Man kann jetzt nicht sagen, dass Betonbrücken ein spezielles Problem haben. Wenn Sie die Nachrichten jeden Tag hören, Brücke Neuenkamp, Leverkusener Brücke, sind reine Stahlbrücken, die haben das gleiche Problem. Das ist ein Problem unserer gealterten Infrastruktur.
Belastung durch schwere Lkw
Mense: Das heißt, wir haben jetzt zu viel Verkehr, vor allen Dingen zu viel Schwerlastverkehr auf den Brücken?
Hegger: Ja, ganz eindeutig. Damals in den 60er-Jahren war ein 28-Tonner der größte Lastwagen, der auf der Straße fuhr. Heute fahren 44-Tonner, und die sind meistens 10, 20 Prozent überladen, das heißt, sie sind 50 Tonnen schwer, also doppelt so viel Belastung, und die Anzahl der Fahrzeuge ist drei- bis fünfmal so hoch auf den Brücken.
Mense: Das heißt also, wir diskutieren ja gerade darüber, dass man also mehr Geld braucht für die Sanierung dieser Brücken, für die Infrastruktur. Frage an Sie: Wäre es nicht vielleicht viel besser, darüber zu diskutieren, dass wir den Schwerlastverkehr von den Brücken runterkriegen? Also führen wir nicht vielleicht auch angesichts dessen die ganz falsche Diskussion?
Hegger: Also ich glaube, dann würde man unsere Wirtschaft abwürgen. Also rund drei Viertel des Güterverkehrs läuft über die Straße.
Mense: Das könnte man ja ändern.
Hegger: Das kann man nicht kurzfristig ändern. Dafür müssten die anderen Verkehrswege, Schiene und Wasser, entsprechend ausgebaut werden. Das läuft immer darauf hinaus, dass Sie mehr Geld für die Infrastruktur ausgeben müssen, und im Augenblick passiert ja schon viel. Im Augenblick gibt es ja so viele Baustellen auf Autobahnen wie nie zuvor. Man kann nur das, was man 20 Jahre vorher nichts in dem Maße gemacht hat, jetzt in fünf Jahren alles nachholen will, das geht nicht. Das wird noch 15 bis 20 Jahre dauern, bis wir auf dem Status sind, den wir vielleicht mal in den 70er-, 80er-Jahren hatten.
Umdenken in der Verkehrsplanung
Mense: Das heißt aber, 15 bis 20 Jahre, die man auch Zeit hätte, um vielleicht umzudenken und dann doch dafür zu sorgen, dass der Schwerlastverkehr nicht noch, wie es in den letzten Jahren ja passiert ist, zunimmt.
Hegger: Ja, ganz klar. Man muss die anderen Verkehrsmittel weiter ausbauen, das heißt Schiene und Wasser.
Mense: Abschließend vielleicht noch, Herr Professor Hegger, so wie ich Sie richtig verstehe, legen Sie da den Finger in die Wunde, dass da viel zu lange gewartet worden ist, etwas zu tun, aber Sie sehen jetzt akut eigentlich keine Gefahr, dass also bei uns so etwas über kurz oder lang auch passieren könnte, wie inzwischen ja von einigen Experten auch behauptet wird.
Hegger: Also ich glaube, akute Gefahr sehe ich im Augenblick nicht. Dafür ist das System der Überwachung sehr engmaschig. Also ausschließen kann man natürlich so ein Versagen nicht. Man hätte natürlich hier auch in den alten Bundesländern schon früher anfangen müssen, aber man muss eben bedenken, wir haben in den letzten 20 Jahren in den neuen Bundesländern sehr vieles neu gebaut, und da ist schon viel Geld ausgegeben worden, und man hätte sich natürlich gewünscht, dass auch die alten Bundesländer mehr von diesem Geld abbekommen hätten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.