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Brüssel
Die wiedergefundene Stadt

Offiziell gilt immer noch die zweithöchste Terrorwarnstufe. Aber der Alltag ist nach Brüssel zurückgekehrt. Rockkonzerte sind ausverkauft, auf dem zentralen Boulevard Anspachlaan flanieren am Samstagabend hunderte junge Leute, die Bars sind gut besucht. Alles wieder gut? Ein Erlebnisbericht.

Von Jörg-Christian Schillmöller |
    Zu sehen ist der Boulevard "Anspachlaan" im Herzen von Brüssel - mit kitschiger Beleuchtung.
    Zu sehen ist der Boulevard "Anspachlaan" im Herzen von Brüssel - mit kitschiger Beleuchtung. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Um 22.30 Uhr tobt die Menge im "Ancienne Belgique" - eine der großen Konzerthallen in der Brüsseler Innenstadt. Der Saal ist bis auf den letzten Platz ausverkauft, wir stehen mitten drin. Gerade hat zweieinhalb Stunden lang Steven Wilson gespielt, britisches Multitalent, früher Sänger der Rockband Porcupine Tree. Seine Musik ist kraftvoll, es sind Metal-Passagen dabei, melodiöse Passagen, die Menge schwelgt, im Hintergrund laufen aufwändig produzierte Videos. Toller Saal, grandioses Konzert.
    Alles in einer Stadt, in der offiziell noch immer die Terrorwarnstufe drei gilt - nachzulesen auf der Seite des Auswärtigen Amtes. Doch davon ist an diesem Samstagabend, dem 23. Januar 2016, nichts zu spüren. Wir sind am Nachmittag aus Köln angereist, es sind genau zwei Stunden Fahrt. Vor dem Konzert haben wir Zeit für einen Bummel, eine Portion Pommes und ein kaltes Bier. Wir bewegen uns im Herzen der Stadt: Grand-Place, Börse und die breite Anspachlaan sind unsere Orientierungspunkte.
    Viel Security, alle freundlich
    Die Anspachlaan ist gesperrt und umfunktioniert zur Flaniermeile, über der kitschig die glitzernden Beleuchtungen in Schleifenform hängen. Menschen spazieren auf und ab, Polizei sehen wir keine. Vor dem Konzertsaal "Ancienne Belgique" steht eine lange Schlange, die Steven-Wilson-Fans sind schon da, ein Bettler gestikuliert und ruft. Wir reihen uns ein, warten auf die Einlasskontrollen. Es ist viel Security da, aber freundlich werden wir dann doch mehr oder weniger durchgewinkt: Das war alles? Wir reiben uns die Augen. Brüssel wirkt normal, keine Spur von Ausnahmezustand.
    Unser Korrespondent Jörg Münchenberg erlebt das genauso. Er ist am gleichen Abend auf dem Flagey-Platz auf einem Jazzkonzert. "Ich habe mich schon gewundert", sagt er: Keine Polizei, kein Militär, keine nennenswerten Kontrollen am Eingang. "Ich kenne das anders", erzählt er. "Noch vor vier Wochen war ich auf einem Konzert, da war noch richtig Militär präsent." Wie empfindet er die Bedrohungslage in Brüssel? "Es ist eine trügerische Sicherheit", sagt er. "Die Razzien laufen ja im Hintergrund weiter, im Europaviertel steht noch immer das Militär, in der Metro sind die Sicherheitskräfte ebenso präsent."
    Andere Deutsche sehen das ähnlich. Julia lebt seit 2006 mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Brüssel. Sie hat die Zeit im November nach den Anschlägen von Paris selbst miterlebt - die Zeit als Geisterstadt. "Danach habe ich mich zum ersten Mal gefreut, dass es wieder eine Rushhour gab", sagt sie uns. Wie geht es ihr im Januar 2016? "Es ist noch alles sehr unausgegoren", erzählt sie. "Sicher, das Leben ist wieder normaler, aber ich denke schon, dass nochmal was passieren wird. Trotzdem: es ist nicht mehr diese Schockstarre. Die Angst ist jetzt eher im Hinterkopf. Aber ich gehe noch nicht wieder in die Fußgängerzone zur Rue Neuve oder ins Einkaufszentrum City 2."
    "Was ist denn bei euch in Köln los?"
    Julia hat mittlerweile auch eine andere Sicht auf die Dinge erlebt: An Silvester hatte sie Besuch aus Köln - und wenn vorher die Menschen bei ihr anriefen und fragten, was denn in Brüssel los sei, dann war es nach den Übergriffen in der Silvesternacht sie selbst, die fragte: Was ist denn bei euch in Köln los? "Wir sitzen inzwischen alle in einem Boot", sagt sie.
    Zu sehen ist eine Straßenecke in Brüssel abends, die Menschen sind verschwommen zu erkennen.
    Die Innenstadt von Brüssel (imago / Reporters)
    Zurück bei Steven Wilson. In der Konzertpause stehen wir draußen vor dem "Ancienne Belgique", ein Bier in der Hand. Ich komme mit einem Belgier ins Gespräch, der acht Monate in Düren beim Militär war. Wir sprechen über das Konzert, über seine Zeit in Deutschland - und erst hinterher fällt mir auf, dass wir kein Wort über den Terror gesprochen haben. Nach dem Konzert gibt es stehende Ovationen, und dann strömt die Menge hinaus in die Brüssler Nacht. Auf der Anspachlaan ist jetzt richtig was los, ich denke an Berlin, an Paris, an eine Metropole eben. Es ist immer noch keine Polizei zu sehen. Aber ich fühle mich auch nicht unsicher.
    Vielleicht hat Brüssel endlich wieder etwas Normalität gefunden. Einfach hinzufahren, in ein Konzert zu gehen, in einer großen Menge zu stehen, Rockmusik zu hören und sich wohl dabei zu fühlen: Das geht wieder. Wir fahren durch die nächtliche Stadt in Richtung Osten, erreichen die Autobahn nach Lüttich und Aachen und sind in zwei Stunden wieder in Köln. Es war einfach ein schöner Abend. Ein normaler Abend.
    Ich frage auch unseren Korrespondenten Jörg Münchenberg, ob er noch Angst hat in diesen Wochen? Er verneint ebenfalls. Aber das Handy hat er immer noch griffbereit, falls etwas passiert und er in kürzester Zeit wieder berichten muss für unsere Programme.