Archiv


Brunnen der Erinnerung

Die Annäherung zwischen Armeniern und Türken findet weniger auf der politischen als auf der persönlich-künstlerischen Ebene statt. Einen Beitrag dazu liefert auch die Restaurierung zweier armenischer Brunnen im türkischen Habab, die zu Orten der Begegnung werden sollen.

Von Jutta Schwengsbier |
    Hunderte sind aus der ganzen Türkei zum Fest in Habab gekommen. Denn das kleine Dorf feiert einen ganz besonderen Anlass. Als Zeichen der Aussöhnung hatte die Hrant-Dink-Stiftung hier mit muslimischen und christlichen Freiwilligen einen alten armenischen Brunnen renoviert. Zuvor hatte die Rechtsanwältin Fethiye Cetin in einem Buch erzählt, dass ihre Großmutter als kleines Mädchen einst von Türken vor dem Todesmarsch versteckt worden war. Erst in hohem Alter gab ihre Großmutter preis, eigentlich Armenierin zu sein. Das Buch kam einem mittleren Erbeben gleich. Seit seinem Erscheinen wollten viele ähnliche Schicksale öffentlich machen.

    "Vieles wurde in der Türkei totgeschwiegen. Die erste und auch die zweite Generation hat geschwiegen. Erst wir, die Enkel, haben angefangen darüber zu reden. Das war bei den Türken, aber auch bei den Armeniern so. Weder in der türkischen noch in der armenischen Geschichtsschreibung wurden die Frauen erwähnt, die hier zurückgeblieben waren. Ihre Geschichten wurden nie erzählt."

    Bis zu 200.000 Kinder sollen während des Genozids an den Armeniern in anatolischen Dörfern überlebt haben. Die wenigsten dieser Kinder trauten sich als Erwachsene darüber zu sprechen.

    Die Filmemacherin Dilek Aiden hat die Rekonstruktion der Brunnen in Habab dokumentiert. An Orten wie diesen Brunnen beginnen nun die Nachfahren von Tätern und Opfern darüber zu sprechen, was tatsächlich passiert ist.

    "Mir wurde bewusst, dass wir in unserer Kultur das Trauma von einer Generation auf die nächste Generation übertragen haben. Eine Frau erzählte mir zum Beispiel unter Tränen die sehr schmerzvolle Geschichte ihrer Großmutter. Erst wusste ich nicht, ob ich das filmen kann. Dann habe ich entschieden weiter zu filmen, musste aber gleichzeitig auch weinen."

    Auch Anush Suni, eine 25-jährige Studentin aus Michigan in den USA, hat beim Brunnenbau als Freiwillige mitgeholfen. Ihre Großväter hatten vor einhundert Jahren in der Region gelebt.

    "Ein Teil meiner Familie hat die Türkei nach einem Massaker im Jahr 1909 verlassen. Sie gingen noch vor 1915 nach Amerika. Der Rest meiner Familien, alle, die in der Osttürkei und in Anatolien geblieben waren, wurden während des Genozids getötet oder verschwanden. Ich habe mich immer gefragt, ob vielleicht einige überlebt haben und von arabischen, türkischen oder kurdischen Familien aufgenommen wurden. Ich fände es wunderbar, sie wiederzufinden. Deshalb lerne ich türkisch und kurdisch und versuche, mehr über diese Orte und diese Kulturen zu verstehen."

    Sie sei nicht gekommen, sagt Anush Suni, um darüber zu reden, was die Großeltern der heutigen Bewohner ihren Großeltern vor einhundert Jahren angetan haben.

    "Natürlich ist es sehr schmerzvoll darüber zu reden. Die Geschichten des Todesmarsches sind grauenvoll. Auch wenn meine eigene Familie davon betroffen war, betrachte ich das wie andere historische Ereignisse. Die Aufteilung in Täter und Opfer bricht völlig zusammen, wenn wir über unsere individuellen Geschichten reden."

    Um genau diese Familiengeschichten geht es auch der Sozialwissenschaftlerin Ayshe Gul Altinay. Für ihr Buch "Die Enkel" haben erstmals Nachfahren von Armeniern in der Türkei über ihr Schicksal erzählt.

    "Die historische Debatte in der Türkei hat sich inzwischen sehr verändert. Lange ging es nur darum, sich selbst zu verteidigen und die anderen der Lüge zu bezichtigen. Inzwischen haben wir viele neue Wege gefunden, unsere Erinnerungen zu teilen."

    Die Brunnen von Habab haben nun eine weitere Schleuse geöffnet. Hier können viele ihre Familiengeschichten erzählen und dazu beitragen, den Krieg um die historische Wahrheit in der Türkei zu beendet, glaubt Ayshe Gul Altinay.