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Bruno Jasieński: "Pest über Paris"
Klassenkampf und Seuche

Bücher zur Corona-Krise häufen sich. Aber auch Pandemie-Klassiker wie Albert Camus' "Die Pest" oder Daniel Defoes "Die Pest in London" finden derzeit guten Absatz. Das vielleicht erstaunlichste von allen schrieb jedoch der polnische Emigrant Bruno Jasieński 1928 mit seinem Roman "Je brûle Paris", zu deutsch "Pest über Paris".

Von Uli Hufen |
Bruno Jasieński: "Pest über Paris" Zu sehen ist das Buchcover, im Hintergrund eine historische Straßen-Ansicht von Paris
Bruno Jasieński zielte mit seinem Roman auf die soziale Ungerechtigkeit im Paris der 20er-Jahre (Cover: Verlag bahoe books / Foto: imago / Topfoto)
Bruno Jasieński verliert keine Zeit: Gleich auf der ersten Seite wird sein Held Pierre arbeitslos.
"Pierre hatte es von den Kollegen gehört: Wegen der schlechten Konjunktur in Frankreich kauften die Leute keine Autos mehr."
Auf Seite 7 muss Pierre seiner Freundin Jeannette sagen, dass er kein Geld für Essen hat.
"Sie warf ihm einen verwunderten, verständnislosen Blick zu."
Und nur wenige Zeilen weiter ist Pierre obdachlos. Er streift durch Paris, er verdingt sich nachts für ein paar Franc als Gemüseträger und er beobachtet. Da sind solche wie er, abgerissen, ohne Hoffnung. Ihre Zahl wächst, jeden Tag. Und dann sind da die Wohlgenährten und die Gutgekleideten, die sich in Automobilen durch Paris chauffieren lassen, von einem Restaurant zum nächsten Café und dann ins Cabaret. Oder zu einer Prostituierten. Das kann Pierres treulose Freundin Jeanette sein, es können aber auch Kinder sein. Moral hat im Paris der heraufziehenden Weltwirtschaftskrise keinen Platz mehr. Die einen können sie sich nicht mehr leisten, die andern wollen nicht.

Klare Fronten

Die sozialen und politischen Fronten in Europa waren klar gezogen für den 1901 im ländlichen Südpolen in eine polnisch-jüdische Familie geborenen Bruno Jasieński. Die künstlerischen ebenso. Jasieński war Kommunist, er war aber auch Mitglied diverser literarischer Avantgarde-Zirkel und gilt als einer der Köpfe des polnischen Futurismus. 1925 musste Jasieński Polen verlassen, 1926 entstand in Paris sein erstes Agitprop-Theaterstück, 1928 schließlich "Pest über Paris". Besonders im ersten Teil des Romans gelingt die Verbindung von politischer Agitation und literarischer Avantgarde eindrucksvoll. Auf jeder Seite findet Bruno Jasieński verblüffende, starke Bilder für das verkommene Paris, für Pierres' sozialen Abstieg und seine Radikalisierung. So wie hier: In einem fiebrigen Traum wird aus der Treppe zur Metro, auf der Pierre schläft, eine furchterregende, dystopische Rolltreppe:
"Aus dem gähnenden Erdspalt, aus dem offenen Rachen der Metro stieg dumpf und rhythmisch ratternd die endlose eiserne Harmonika der Rolltreppe empor. Nacheinander fuhren krachend immer neue Stufen herauf und auf ihnen nebeneinander die zerlumpten, willenlosen Körper. Das obere Ende der Treppe, auf dem Pierre lag, befand sich schon irgendwo hoch oben in den Wolken. Unten schrie das vieläugige Paris mit Milliarden Lichtern in das seelenlose Schweigen der Nacht."
Dann geht alles ganz schnell. Das unberechenbare Roulette des Zufalls, wie Jasieński schreibt, schlägt zu: Ein Bekannter zeigt ihm seinen Arbeitsplatz. Ein Laboratorium, in dem an Impfstoffen gegen Scharlach und Wundstarrkrampf, Typhus und Cholera geforscht wird. Und gegen Pest. Und Pierre hat eine Erleuchtung. Er hat zwar mittlerweile völlig überraschend wieder Arbeit gefunden als Wächter in einem Wasserturm, aber sein Hass auf die Verhältnisse ist unvermindert groß. Jetzt ist ein Ventil gefunden. Pierre stiehlt zwei Reagenzgläser und entleert sie in die Trinkwasserversorgung von Paris. Und so kommt die Pest nach Paris, am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag. Das große Sterben beginnt.
"Ein blasser, ungewisser und schwüler Tag zog herauf. Die Läden wurden nicht geöffnet. Die billigen Papierlampions schaukelten über den menschenleeren Straßen wie Blasen über einer versteinerten Flut. Die Hälfte der Zeitungen erschien nicht. Das Radio meldete, bis zum Mittag seien 160.000 Todesfälle registriert worden."
Allerdings: Bruno Jasieński wäre kein richtiger Kommunist gewesen, wenn er außer an Rache nicht auch an das kommende Himmelreich geglaubt hätte. Die Pest wütet unbarmherzig, sie bringt ans Licht, was faul war in der Gesellschaft. Aber dann, als das Sterben endet, steigt aus der Asche des alten, bürgerlichen Paris etwas Neues: eine utopische Kommune der Gerechtigkeit. Die Erinnerung an die Pariser Kommune von 1871 war wach, die russische Revolution erst zehn Jahre her.
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Ein Futurist wird Stalinist

Kurz nach Erscheinen seines Frontalangriffs auf die Französische Republik muss Bruno Jasieński wieder fliehen. Ob er wirklich wegen "Pest über Paris" des Landes verwiesen wurde oder doch eher wegen seiner Tätigkeit als kommunistischer Agitator unter Fabrikarbeitern: Es lässt sich nicht klären. Doch eins ist klar: Die Regierung betrachtete ihn als gefährlichen Aufrührer. Zuflucht bietet jetzt nur noch einer - Josef Stalin.
Und so spielt der letzte Akt in der großen Lebenstragödie des Bruno Jasieński in Moskau. Zunächst macht er eine steile Karriere. Aus dem abgerissenen Flüchtling und Kämpfer für die Rechte der Erniedrigten und Beleidigten wird ein hoher Literaturfunktionär mit Limousine und Salär. Und aus dem begabten Futuristen wird ein linientreuer sozialistischer Realist. 1934 gehört Jasieński zu jenen Schriftstellern, die die Erbauung des Weißmeer-Ostseekanals durch Gulag-Häftlinge als Freudenfest des Sozialismus besingen. Der Geheimdienstchef Genrich Jagoda zählt zu Jasieńskis Freunden. Und dann kommt es, wie kommen muss. Jagoda wird abgesetzt, Jasieński verhaftet, zu 15 Jahren Lager verurteilt und dann doch erschossen.

Nach dem großen Sterben

Der Roman war 1928 eine Sensation und wurde in viele Sprachen übersetzt. Ein Faustschlag ins Gesicht des bürgerlichen Anstands und des guten Geschmacks, wie man ihn damals offensichtlich sehr viel mehr goutierte als heute. Knapp 100 Jahre später, inmitten einer anderen Pandemie, fällt beim Lesen zunächst auf, wie Jasieński die Pariser auf den Ausbruch der Pest reagieren lässt – mit Panik, Quarantäne, Gerüchten, Verschwörungstheorien. Es gibt Profiteure und Hoffnung auf Impfung - all das kennen wir nun auch.
"Die in ihren Wohnungen … ungeduldig wartenden Pariser drängten am fünften Tag entgegen dem Verbot der Präfektur mit widerstreitenden Gefühlen auf die Straßen. Jemand streute die Losung aus, das beste Serum gegen die Pest sei der Alkohol. Die Bistros pulsierten. Die Korken knallten. Die Jazzbands spielten laut."
Doch je länger man liest, umso klarer wird: Der Kern der Sache liegt anderswo. Der Kern der Sache ist nicht die Beschreibung der Seuche. Der Kern ist die Frage nach dem Danach. Bruno Jasieński glaubte an die Zukunft und hielt eine bessere Welt nicht nur für wünschenswert, sondern für möglich.
Bruno Jasieński: "Pest über Paris"
Aus dem Polnischen von Klaus Staemmler
bahoe books, Wien, 334 Seiten, 20 Euro.