Der Mensch ist ein ziemlicher Neuling auf der Erde. Lange vor ihm waren die Bakterien da. Die ersten Lebewesen überhaupt. Es gibt sie seit gut dreieinhalb Milliarden Jahren. Die meiste Zeit davon blieben sie auch die einzigen Erdbewohner. Danach kamen die Einzeller und erst sehr viel später die Reptilien und die Säugetiere. Im Verlauf der Erdgeschichte sind viele Lebewesen neu entstanden. Viele sind auch wieder verschwunden. Und selbst wenn sie sich über eine längere Zeit fortpflanzen können, besonders alt werden die meisten Exemplare nicht. Das älteste, noch lebende Bakterium ist immerhin zweihundertfünfzig Millionen Jahre alt. Entdeckt wurde es bei einer Bohrung in einer Höhle in New Mexico, die als eine mögliche Endlagerstätte für Atommüll dienen sollte. Bis zur Übersiedlung ins Labor hatte es einsam in einer Salzlake vor sich hin gelebt.
Den Menschen dagegen gibt es überhaupt erst seit rund dreihunderttausend Jahren. Aber in dieser kurzen Zeit hat er sich zahllos fortgepflanzt, andere Lebewesen verdrängt und über die gesamte Erde ausgebreitet. Er hat die Wälder, die Meere und sogar die Luft nachhaltig verändert. Und er hat einen unglaublichen Müll hinterlassen, der vermutlich immer noch da sein wird, wenn es ihn selbst einmal nicht mehr geben sollte. Noch vor gut einem Jahrzehnt war es üblich, auf die im Vergleich zur Erdgeschichte sehr kurze Menschengeschichte hinzuweisen, wenn man deutlich machen wollte, wie unbedeutend das Menschenleben eigentlich ist. Was für uns lange Zeiträume sind, erscheint im kosmischen Maßstab nur als ein Augenblick. Die Erde hat die meiste Zeit über ohne den Menschen existiert, und sie wird es noch geben, wenn der Mensch wieder verschwunden ist. Trotzdem hat sich das Bild vom kurzen Menschenaugenblick inzwischen erledigt. Im Gegenteil, man muss eher darüber staunen, was in der Kürze der Menschenzeit alles passiert ist. Denn heute weiß jeder, dass der Mensch zu einem bestimmenden Faktor des Planeten geworden ist. Die Erdgeschichte und die Menschengeschichte lassen sich nicht mehr voneinander trennen.
Erdenzeit und Menschenzeit
Diese neue Vermischung zweier Geschichten, die bislang sorgfältig getrennt wurden, ist der Ausgangspunkt des neuen Buches von Bruno Latour. Der Titel lautet: "Kampf um Gaia". Hervorgegangen ist das Buch aus Vorträgen, die der Soziologe im Rahmen der Gifford Lectures im Jahr 2013 an der Universität von Edinburgh gehalten hat. Der Untertitel des Buches lautet: "Acht Vorträge über das neue Klimaregime". Bruno Latour lehrt in Paris und hat vor allem zur Geschichte der Wissenschaften geforscht. Er ist Mitbegründer der Akteur-Netzwerk-Theorie, wonach an jeder Handlung zahlreiche sichtbare und unsichtbare Akteure beteiligt sind, die zusammen ein Netzwerk bilden. Akteure dieses Netzwerks sind jedoch nicht nur Menschen, sondern können auch Tiere und Dinge sein. Dieser theoretische Horizont hat Latour zu einem wichtigen Denker der ökologischen Krise werden lassen, vielleicht sogar zum ersten, der in der Lage ist, sie systematisch zu begreifen.
"Es hört nicht mehr auf, jeden Tag geht es von vorne los. An einem Tag ist es der Anstieg der Gewässer; am nächsten das Unfruchtbarwerden der Böden; abends geht es um das beschleunigte Verschwinden des Packeises; in den Fernsehnachrichten erfahren wir zwischen zwei Kriegsverbrechen, dass tausende von Arten verschwinden, noch bevor sie ordnungsgemäß registriert werden konnten; jeden Monat liegen die CO2-Werte in der Atmosphäre noch höher als die Arbeitslosenzahlen; jedes Jahr erfahren wir, dass es das wärmste seit dem Beginn der regelmäßigen Messungen ist; der Meeresspiegel steigt unaufhörlich; die Frühjahrsstürme bedrohen die Küstenregionen immer stärker; der Ozean erweist sich bei jeder Untersuchung als saurer. In den Zeitungen heißt es: Wir leben in der Epoche einer 'ökologischen Krise'."
Was seit einigen Jahrzehnten als ökologische Krise erfahren und beschrieben wird, ist für Latour jedoch keineswegs etwas Vorübergehendes. Selbst wenn die Flüsse heute wieder sauberer sind und auch die Wälder wieder gesunden, ist längst etwas in Gang gekommen, das sich nicht mehr aufhalten lässt. Zahlreiche Arten sind bereits ausgestorben, und das weltweite Klima hat sich unumkehrbar verändert. Krisen werden bewältigt und gehen irgendwann vorbei. Das Ausmaß der ökologischen Krise ist jedoch derart groß, dass unser gesamtes Handeln und Denken in Frage gestellt wird. Im Unterschied zur menschlichen Welt galt früher die natürliche als ewig. Die Natur, verlässlich, unveränderlich und manchmal auch unberührt, gibt es nicht mehr. Der Planet und seine Lebensbedingungen sind unter den Vorbehalt menschlicher Einflüsse gestellt. Aber mit dem Ende der Natur ist auch das Ende der Kultur gekommen.
Jenseits von Natur und Kultur
Über Jahrhunderte hat sich der Mensch über das Begriffspaar von Natur und Kultur definiert. Mal erschien die Kultur als Verlängerung der Natur, mal als ihre Entgegensetzung und Bewältigung. In jedem Fall gehörte der Mensch stets beiden Welten an, der natürlichen und der kulturellen. Wenn es aber immer schwieriger wird, zwischen beiden zu unterscheiden, dann wird auch das überlieferte Bild fraglich, das der Mensch von sich selbst hat. Aus diesem Grund versteht Latour die ökologische Krise auch nicht als Krise der Natur, die geschützt und wieder hergestellt werden muss. Im Gegenteil, die akute Krise unserer Lebensbedingungen macht deutlich, dass die Vorstellung einer heilen Natur, der eine selbstgeschaffene und manchmal auch zerstörerische Kultur gegenübersteht, bereits auf entscheidende Weise das Problem darstellt, das es zukünftig zu lösen gilt.
"Versuchen Sie nicht, lediglich die 'Natur' zu definieren, denn dann müssen Sie auch das Wort 'Kultur' definieren; versuchen Sie nicht, lediglich die 'Kultur' zu definieren, denn dann werden Sie sogleich auch das Wort 'Natur' definieren müssen. Was heißt, dass wir es nicht mit Bereichen zu tun haben, sondern mit ein und demselben Konzept - einem Konzept, das in zwei Teile zerfällt, die sozusagen ein starkes Gummiband miteinander verbindet. In der westlichen Tradition kann man nie von dem einen Teil sprechen, ohne den anderen zu erwähnen. Es gib keine andere Definition der Natur als diese Definition der Kultur und keine andere Kultur als diese Definition der Natur. Sie sind gemeinsam entstanden, unzertrennlich wie siamesische Zwillinge, die einander streicheln und Faustschläge versetzen und doch miteinander verwachsen sind."
Ob wir die Natur nun grausam finden oder bewundernswert, immer ist unsere Ansicht bereits eine Folge der Unterscheidung von Natur und Kultur. Wer die Gegenwart und ihre Kultur verachtet, dem erscheint die Natur als ein heilsamer Gegenentwurf. Wer die Natur als eine ungerechte Ordnung empfindet, der neigt dazu, in der Kultur das Versprechen einer Befreiung zu sehen. Niemals ist die Natur zuerst da und die Kultur das, was der Natur noch hinzugefügt wird. Wir leben stets in einem Gemisch aus Natur und Kultur. Die Frage, die sich für Latour stellt, ist daher nicht, ob wir einen anderen Naturbegriff brauchen, um die ökologische Krise zu bewältigen, sondern ob diese Unterscheidung überhaupt noch tauglich ist, um unsere Welt zu beschreiben. Denn bislang wurde unter Natur immer das verstanden, was der Menschenwelt unumgänglich vorausgeht. Der Mensch wurde als das Wesen begriffen, das zwar zur Natur gehört, sich aber unter dieser Bedingung seine eigene Welt schafft.
Aus diesem Grund besteht die Antwort, die Latour auf die ökologische Krise gibt, zunächst einmal in der Zurückweisung dieser Ansicht. Um die ökologische Krise begreifen zu können, müssen wir seiner Meinung nach erst einmal verstehen lernen, dass es gar keine Natur gibt, von der sich die Menschenwelt absetzt, um nach ihren eigenen Regeln funktionieren zu können. An die Stelle des Begriffspaars von Natur und Kultur muss eine Sicht treten, die es uns erlaubt, das Zusammenspiel der zahllosen Dinge und Lebewesen, der menschlichen und der nicht-menschlichen Akteure jenseits der Unterscheidung von Natur und Kultur zu beschreiben. Sie alle bilden ein kompliziertes Netzwerk, in dem jeder jeden beeinflusst. Geeint sind sie allein durch ihren gemeinsamen Lebensraum, dem sie ihre Existenz verdanken und den sie sich bis auf Weiteres teilen müssen.
Der Mythos der Mutter Erde
Das Netzwerk, das die gesamte Erde umfasst, bezeichnet Latour mit dem Namen Gaia. In der antiken Mythologie war das der Name der Gottheit, mit der die Erde personifiziert wurde. Zusammen mit Eros und anderen Gottheiten ist Gaia unmittelbar aus dem Chaos hervorgegangen. Sie ist die Urmutter, die alle anderen Götter und damit auch die Menschen hervorbringt. In der Redewendung von der Mutter Erde hat sich diese Tradition bis heute erhalten. Im ökologischen Kontext ist der Name durch die sogenannte Gaia-Hypothese prominent geworden. Diese Hypothese wurde Mitte der 1960er Jahre von der Mikrobiologin Lynn Margulis und dem Biophysiker James Lovelock aufgestellt. Aus Sicht der beiden Wissenschaftler muss die Biosphäre der Erde als ein dynamisches System begriffen werden, das sich und seine Bedingungen eigenständig stabilisiert.
Die zahllosen Lebewesen bilden sozusagen zusammen wiederum ein großes Lebewesen, das dafür sorgt, das einige lebenswichtige Faktoren auf der Erde auch dann konstant bleiben, wenn sich die physischen Bedingungen ändern. So soll erklärt werden, dass der Salzgehalt der Meere seit Jahrmillionen annähernd gleich geblieben ist, obwohl dem Wasser ständig Mineralien zugeführt werden. Ähnliches gilt für den Anteil des Sauerstoffs an der Luft und die Schwankungen des Klimas, die zumindest bislang durch das große Lebewesen namens Gaia ausgeglichen werden konnten. Belebt ist die Erde also nicht nur, weil auf ihr Leben zu finden ist, sondern weil sie selbst lebt. Für Latour ist diese wissenschaftliche Version des Gaia-Mythos ebenso bedeutend wie die astronomischen Entdeckungen von Galilei am Beginn der Neuzeit. Sie markiert daher eine neue Epoche.
"Als Galilei in den kühlen Nächten des November und Dezember 1609 sein Teleskop nicht auf die Lagune, sondern auf den Mond richtete, kam er, wie es heißt, auf den Gedanken, dass alle Planeten einander gleichen. Drei Jahrhunderte später wird in der Wissenschaftsgeschichte wie in der Vorstellungswelt breiter Kreise neben diese berühmte Szene wahrscheinlich eine Entdeckung treten, die das Ganze umkehrt: die Erde ist ein Plant, der keinem anderen gleicht!"
Obwohl Latour weiß, dass die Gaia-Hypothese mehr als umstritten ist, sieht er damit dennoch ein ganz neues Narrativ gegeben, das es uns erlauben soll, unser Zusammenleben auf der Erde anders zu erfassen als mit dem klassischen Begriffspaar von Natur und Kultur. Aus Sicht der traditionellen Auffassung leben die Tiere, Pflanzen und Bakterien in der Natur. Sie müssen sich ihrer Umgebung anpassen, um zu überleben. Sind sie dazu nicht in der Lage, dann sterben sie aus. Nur dem Menschen kommt die Fähigkeit zu, die Natur nach seinen Bedürfnissen zu gestalten. Der Mensch lebt nicht in der Natur, er überschreitet sie und schafft sich seine eigene Kultur.
Die Gaia-Hypothese dagegen spricht diese Fähigkeit allen Lebewesen zu. Die Bedingungen des eigenen Lebens zu verändern, erscheint dann nicht mehr als ein Privileg des Menschen. Alle Lebewesen machen genau das gleiche wie der Mensch. Sie gestalten ihre Umgebung nach ihren Bedürfnissen. Auch sie leben nicht in der Natur, sondern bringen ihre eigene Umgebung hervor. Was bis dahin allein den Menschen vorbehalten wurde, wird nun zum Kennzeichen aller Lebewesen. Die Kultur ist keine Erfindung des Menschen. Seitdem es Leben auf der Erde gibt, steht der Planet unter seinem Einfluss.
"Alle Historiker räumen ein, dass die Menschen sich ihre Umgebung so eingerichtet haben, dass sie ihren Bedürfnissen entspricht: die Natur, in der sie leben, ist durch und durch künstlich. [Die Gaia-Hypothese] tut nichts anderes, als diese Wandlungsfähigkeit auf alle Akteure auszudehnen, so winzig sie auch sein mögen. Sie gilt nicht nur für Biber, Vögel, Ameisen oder Termiten, die ihre Umgebung umgestalten, damit sie ihnen mehr behagt; sie gilt auch für Bäume, Pilze, Algen, Bakterien und Viren. [...] Keiner auf dieser Erde ist passiv: die Konsequenzen selektieren gewissermaßen die Ursachen, die auf sie einwirken werden."
Das Klima der Erde, dem wir unsere Existenz verdanken, ist ein Resultat aller Lebewesen, der kleinen und der großen. Sie alle zusammen gestalten, verändern und erhalten die Bedingungen, die unser Leben ermöglichen. Das geschieht jedoch nicht planmäßig. Es gibt keine zentrale Steuerung und auch keine weise Vorsehung. Manchmal kooperieren die Lebewesen, manchmal verdrängen sie einander. Aber passiv sind sie nie. Alle wirken auf alle ein. Die belebte Erde ist weder grausam noch friedlich, sondern vor allem ein Gewimmel aus Ursachen und Konsequenzen, die sich wechselseitig befeuern. Und in diesem Gewimmel macht der Mensch keine Ausnahme.
Ein neues Erdzeitalter
Das Leben auf der Erde ist instabil. Es muss sich und seine Bedingungen immer wieder selbst erneuern. Und das war von Anfang an der Fall. Auch vor dem Auftauchen des Homo sapiens in der Erdgeschichte gab es zahlreiche klimatische Krisen, die bedrohliche Ausmaße annahmen. Und trotzdem ist es kein Zufall, dass das Zusammenspiel der Lebewesen in dem Moment in die Aufmerksamkeit rückt, in dem der Mensch als Verursacher der ökologischen Krise gilt. Seit einigen Jahren diskutieren Geologen ausgiebig die Frage, ob wir nicht bereits in einem neuen Erdzeitalter leben, das als Anthropozän betitelt werden müsste. Zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern für Mensch und neu, soll dieser Name anzeigen, dass sich die Epoche durch den menschlichen Einfluss auf die Erde auszeichnet. Denn in nur wenigen Jahrzehnten ist es dem Menschen gelungen, alle wichtigen Faktoren der Erde messbar zu verändern. Durch den Menschen ist die Erde zu einer anderen geworden.
Obwohl der Homo sapiens seit seiner Entstehung jederzeit in das große Netzwerk der Lebewesen eingebunden ist, scheint es ihm ab einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte immer schwerer zu fallen, diesen Umstand wahrzunehmen. Sonst würde er anders handeln. Latour nennt dafür eine ganze Reihe von kulturhistorischen Gründen. Zu den bemerkenswertesten zählt eine spätantike Strömung, die im Zusammenhang mit dem frühen Christentum steht, ihre volle Wirkung aber erst in der Moderne entfaltet hat. Gemeint sind hier die zahlreichen apokalyptischen Visionen, die für Latour hinter der Unfähigkeit stehen, die Erde als belebten Raum überhaupt zu sehen. Das ist die zukünftige Aufgabe einer politischen Ökologie.
"Das Irdische ist weder das Profane, noch das Archaische, weder das Heidnische noch das Materielle oder das Säkulare, es ist lediglich das, was noch vor uns ist, gleich einer tatsächlich neuen Erde. Freilich nicht im Sinne eines noch zu entdeckenden und auszumessenden geografischen Raums, sondern in dem einer Erneuerung derselben alten Erde, die aufs neue unbekannt, neu zusammenzusetzen ist."
In der Regel wird die Gier der Menschen für die Umweltzerstörung verantwortlich gemacht. Schuld hat vor allem der Kapitalismus. Dem widerspricht Latour auch nicht. Aber für ihn liegt das eigentliche Problem wesentlich tiefer. Es hat seinen Ort in den religiösen Überzeugungen der Menschen. Die fortschrittliche Menschheit hat sich stets als Weltbürgertum aufgefasst. Ihr Horizont ist der Globus, der sich in Karten darstellen lässt und der in der unaufhaltsamen Entstehung einer Weltgesellschaft zunehmend sichtbar wird. Weiter ist die fortschrittliche Menschheit nicht gekommen. Die Erde, der Wohnort der Menschen, kommt in dieser religiösen Überzeugung nicht vor. Der moderne, aufgeklärte Mensch ist ortlos, hat keine Heimat. Wie in den apokalyptischen Visionen schaut er aus einer großen Ferne auf sich selbst. Deshalb bedarf es einer anderen religiösen Überzeugung, die in der Lage ist, die lebendige Erde nicht bloß als Globus der aktuellen Globalisierung zu sehen.
"In diesen Vorträgen bemühen wir uns, auf das Eindringen von Gaia zu reagieren, indem wir lernen, nacheinander Denkgewohnheiten abzuschütteln, die mit dem verbunden sind, was wir das Alte Klimaregime nennen könnten. Wie bemühen uns, unsere Existenz zu rematerialisieren, was zunächst heißt, sie zu reterritorialisieren oder, besser, allerdings gibt es das Wort noch nicht: zu reterrestrialisieren. Das überrascht natürlich bei Menschen, die ständig jammern, sie seien zu realistisch, stünden allzu sehr auf dem 'Boden der Tatsachen', was letzten Endes aber kaum auf sie zutraf! Es läuft darauf hinaus, unsere Auffassung von Ökologie zu repolitisieren."
Um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, ruft Latour zu einem Krieg auf. Dieser Krieg, der seiner Meinung nach schon längst begonnen hat, findet nicht allein zwischen Klimaskeptikern und Klimaschützern statt, die in Zeiten, in denen es keine unumstrittenen Tatsachen mehr gibt, den Raum wissenschaftlicher Objektivität verlassen und zu rückhaltlosen Kämpfern werden sollen. Die Auseinandersetzung umfasst auch nicht nur die Menschen und ihre Kulturen, die überall auf der Welt wieder von religiösen Überzeugungen regiert werden. Der Krieg, den Latour in seinem Buch erklärt, hat mehr Parteien und mehr Fronten, als wir wahrnehmen können. Alle Lebewesen, die auf der Erde existieren, sind in ihn verwickelt. Es ist ein Kampf um Gaia, wie der programmatische Titel des Buches unmissverständlich ankündigt. Und ähnlich wie die Religionskriege im 17. Jahrhundert zur Entstehung der modernen Welt geführt haben, soll aus diesem Krieg eine neue Ordnung der Erde hervorgehen.
Die Politik der Lebens
Das Szenario an starken Bildern, das Latour aufbietet, um die ökologische Frage der Politik wieder in Erinnerung zu rufen, ist enorm. Auch die Versuche, politische Philosophen wie Thomas Hobbes und Carl Schmitt, die nicht gerade als Wegbereiter ökologischen Denkens gelten, für sein Anliegen in Stellung zu bringen, sind beeindruckend. Manchmal erscheinen sie allerdings als sehr naiv. Zwar ließe sich argumentieren, dass die Dramatik der Probleme drastische Metaphern erfordert. Aber mehr historische Tiefe hätte das Buch vor Fehlschlägen geschützt. Die politische Ökologie, die Latour im Namen der Erde vorschlägt, hat bereits eine längere Geschichte, die kaum erwähnt wird. Und sie ist vor allem keine Erfindung von esoterischen Hippies aus den 70er Jahren, wie der Rückgriff auf den Mythos von Gaia und Mutter Erde vielleicht nahelegen könnte.
Die Zoologen, die im 19. Jahrhundert den Begriff der Ökologie in den wissenschaftlichen und politischen Diskurs eingeführt haben, reagierten damit vor allem auf die Problematik einer zunehmenden Weltbevölkerung. Fragen der Ernährung und der Landwirtschaft standen im Vordergrund. Da nicht nur die Zahl der Menschen, sondern ebenso die der Nutztiere stark zunahm, stand die Verteilung von Leben im Raum im Mittelpunkt der ökologischen Frage. Der ökologische Diskurs war von Anfang an ein biopolitischer Diskurs. Der Begriff des Lebensraums hat hier seinen Ursprung. Umweltschutz begann als Heimatschutz. In diesem Zusammenhang entwickelte sich auch die Entgegensetzung von Erde und Globus. Für die überwiegend politisch konservativen Anhänger der Erde waren es die Liberalen, die das Territorium dem wirtschaftlichen Austausch preisgaben. Bis weit in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts war die politische Ökologie alles andere als ein emanzipatorischer Diskurs.
Viele Probleme, die zur Entstehung des ökologischen Diskurses im 19. Jahrhundert beigetragen haben, gibt es auch heute noch. Viele sind inzwischen durch den technischen Fortschritt gelöst worden. Aus der Landwirtschaft ist eine Agrarindustrie geworden, die jedoch neue Belastungen für die Umwelt geschaffen hat. Der Verdienst von Latour besteht ohne Zweifel darin, deutlich gemacht zu haben, dass sich die ökologische Krise nicht allein technisch bewältigen lässt, auch wenn sich die Ingenieure inzwischen zutrauen, selbst das Klima zu reparieren. Vorstellungen einer ökologischen Idylle helfen ebenso nicht weiter. Wir brauchen eine neue Politik, die nicht nur die Interessen der Menschen vertritt. Darin ist Latour zuzustimmen. Aber wie diese Politik unter demokratischen Bedingungen zu gestalten ist, bleibt auch nach der Lektüre seines Buches fraglich.
Bruno Latour: "Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime"
Aus dem Französischen von Achim Russe und Bernd Schwibs
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 522 Seiten, 32,00 Euro
Aus dem Französischen von Achim Russe und Bernd Schwibs
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 522 Seiten, 32,00 Euro