Mario Dobovisek: Wir bleiben beim Thema. Am Telefon ist Bruno Schirra. Er ist Journalist und Autor, hat sich ausführlich mit dem "Islamischen Staat" auseinandergesetzt. Guten Morgen, Herr Schirra.
Bruno Schirra: Guten Morgen! Ich grüße Sie.
Dobovisek: Wir müssen ja vermuten, auch wenn das noch niemand bestätigt, dass es ein islamistischer Angriff hätte werden können auf das Stadion von Hannover. Hat der Islamische Staat längst in Europa seine festen Strukturen etabliert, auch in Deutschland?
Schirra: Hätte werden können, das ist genau die richtige Formulierung. Derzeit heute Morgen um 8:20 Uhr wissen wir als Journalisten nicht genau, was da gestern vorgefallen ist. Was hingegen wir als Journalisten wissen können: Der Islamische Staat hat sehr wohl in Europa, in Frankreich, in Belgien, in den Niederlanden, Dänemark, Deutschland, Österreich, der Schweiz seine festen großflächigen Strukturen seit langer Zeit, seit mehr als einem Jahr etabliert. Aus diesen Strukturen heraus wird die Terrordrohung nach außen getragen, soll die europäische Gesellschaft in Angst, Panik, Verunsicherung treiben. Dies ist Gott sei Dank gestern Abend nicht aufgegangen. Nach allem was wir wissen ist die Bevölkerung in Hannover sehr gelassen mit dieser Bedrohung umgegangen, unbeschadet dessen, was sich in sozialen Netzwerken ausgetobt hat.
"Terror heißt Angst erzeugen, Unsicherheit erzeugen"
Dobovisek: Und dennoch: Haben die Terroristen gewonnen mit ihrer Angstmache?
Schirra: Ja! Das ist ihr Kalkül. Das ist das Kalkül, das hinter jeder Art von organisiertem oder individuellem Terror steckt. Terror heißt Angst erzeugen, Unsicherheit erzeugen. Natürlich machen sich die Leute Gedanken darüber, kann ich noch auf den nächsten Weihnachtsmarkt gehen. Natürlich machen sich die Leute Gedanken und Sorgen und Ängste darüber, kann ich zum nächsten Fußballspiel gehen. Das ist eine bittere Realität, mit der die europäische, die westliche Öffentlichkeit in den nächsten langen Jahren wird leben müssen, denn der Islamische Staat hat von Anfang an seine Zielrichtung ausgegeben. Die ist nicht nur eine regionale, sondern die ist eine globale und ist zielgerichtet gegen eine offene, freiheitlich verfasste Gesellschaft ausgerichtet. Das ist der Preis, mit dem wir leben müssen. Das ist auch eine Sache, das muss man akzeptieren. Wir können dagegen derzeit nicht vorgehen.
"Sie sagen, wir sind im Krieg mit euch"
Dobovisek: Also auch gegen Deutschland gerichtet. Welche Anhaltspunkte haben Sie dafür, dass der IS in Deutschland Strukturen aufgebaut hat?
Schirra: Nun, wenn ich mich, was ich gerne hin und wieder tue, auf Reisen durch Deutschland mache, durch diverse durchaus bekannte Moscheengemeinden, sei es nun im Rhein-Main-Gebiet, im Köln-Bonner Raum, in Aachen, durch das Saarland, durch Rheinland-Pfalz begebe und dort mit den Leuten rede: Man kann dies tatsächlich tun. Diese Damen - es sind zunehmend Damen - und Herren der dschihadistischen Front sagen ganz klar immer sehr kühl kalkuliert, was ihre Zielrichtung ist. Sie sagen, wir sind im Krieg mit euch. Dies ist unser Dschihad, den wir gegen euch richten. Man kann diese Fakten auffinden. Es ist möglich und den deutschen Sicherheitsbehörden ist das durchaus sehr bekannt.
Dobovisek: Warum wird nichts gegen diese offensichtlichen IS-Kämpfer getan?
Schirra: Was wollen Sie tun jenseits dessen, was das rechtliche Regularium vorsieht? Wir haben in Deutschland dankenswerterweise Religionsfreiheit. Dazu gehört natürlich, dass Moscheen offen sein müssen, und man muss da auch sehr scharf differenzieren. Nicht jede Moschee, in der ein salafistischer, ein dschihadistischer Scharfmacher auftritt und den Dschihad androht, ist in toto eine salafistische Moschee. Eine Moschee ist ein offener Raum für jeden gläubigen Muslimen. Das soll auch bitte schön so bleiben. Wollen wir Moscheen schließen, dicht machen? Ich bitte möchte das nicht haben.
"Das ist eher ein Zeichen heilloser Hilflosigkeit"
Dobovisek: Springen wir nach Syrien. Frankreich, die USA und Russland fliegen Luftangriffe gegen Stellungen der IS-Milizen. Frankreich hat gestern alle EU-Staaten um Hilfe gebeten. Ist der islamische Staat mit militärischen Mitteln zu besiegen?
Schirra: Nicht auf die Art, wie es derzeit geschieht. Das ist eher ein Zeichen heilloser Hilflosigkeit. Was Putins Russland macht, ist eher vergleichbar mit Benzin ins Feuer zu gießen. Die Franzosen haben natürlich Rakka bombardiert. Es blieb ihm nichts anderes übrig, Herrn Hollande. Nur aus der Luft heraus mit mehr oder weniger unkoordinierten Schlägen ist der Islamische Staat nicht zu besiegen.
Dobovisek: Wie denn dann, Herr Schirra? Wie denn dann?
Schirra: Militärisch gesehen zunächst einmal nicht. Man müsste den Gedanken ins Auge fassen, aber niemand tut das natürlich im Westen, mit Bodentruppen dagegen vorzugehen. Nur: Bevor man dies tut - es ist politisch im Westen nicht vermittelbar -, bevor man dies tut, muss man wissen, wie kommt man danach wieder raus. Wir müssen schlicht und ergreifend akzeptieren, dass, solange der Islamische Staat sich am Leben erhalten kann, weil er Geld hat, weil er Waffen hat, weil er eine ideologische Unterstützung hat - da reden wir über Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, wir reden über Katar, wir reden auch über die unsägliche Rolle, die immer noch das NATO-Mitglied und der EU-Aspirant Türkei spielt -, solange diese Unterstützung den Islamischen Staat am Leben erhält, solange wird der Islamische Staat erfolgreich weiter existieren und expandieren, und das tut er global gesehen.
"Nur eine Conclusio ist derzeit zu ziehen: Ratlosigkeit"
Dobovisek: Sie sagen, Herr Schirra, militärische Optionen werden wenig helfen. Diplomatische offensichtlich auch nicht. Das haben wir in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren beobachten müssen. Kann denn der IS, sagen wir, auch von innen heraus bekämpft werden?
Schirra: Wie soll dies, bitte schön, geschehen? Der IS hält sich am Leben, weil er nach wie vor im Irak und auch in Syrien von den sunnitischen Stämmen eine lebendige Unterstützung vom Boden her bekommt. Es sagt sich wohlfeil, wir müssen diese Ursachen bekämpfen, wir müssen die sunnitischen Unterstützer des Islamischen Staates vom Islamischen Staat trennen. Welche Anreize haben denn die Sunniten des Iraks, sich gegen den Islamischen Staat zu wenden, solange sie im Irak beispielsweise von der schiitisch dominierten Mehrheitsregierung nach wie vor brutalst möglich unterdrückt werden? Es ist schlicht und ergreifend nur eine Conclusio derzeit zu ziehen: Ratlosigkeit. Wir wissen es nicht. Es wäre unseriös zu sagen, dies ist eine politikwissenschaftliche Lösung, die wir jetzt anbieten können, wir sollten Runde Tische und Deeskalationsstrategien anwenden. All dies greift nicht, angesichts dieser bitteren Realität eines beginnenden 30-jährigen Religionskrieges im Nahen und Mittleren Osten. Mit nichts anderem sind wir derzeit konfrontiert.
Dobovisek: Ein düsteres Bild, das Sie da zeichnen, Herr Schirra. - Der Autor Bruno Schirra über den Islamischen Staat hier bei uns im Deutschlandfunk-Interview. Ich danke Ihnen dafür.
Schirra: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.