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Bryan Stevenson: "Ohne Gnade"
Anklage eines Justizsystems

Das Buch "Ohne Gnade" von Bryan Stevenson hat im vergangenen Jahr die USA aufgerüttelt. Dem Anwalt und Bürgerrechtler war es gelungen, allein im Bundesstaat Alabama 100 Inhaftierte vor der Hinrichtung zu bewahren – und damit auch die Justiz vor Irrtümern mit Todesfolge. Nun ist das Werk auf Deutsch erschienen.

Von Simone Hamm |
    Elektrischer Stuhl im Gefängnis von Huntsville in Texas
    Bryan Stevenson: "Wir finden uns viel zu schnell damit ab, dass irgendjemand, ob nun schuldig oder nicht, angeklagt und bestraft wird." (dpa / picture alliance / A0001_UPI)
    Victoria Banks, eine mittellose schwarze Afroamerikanerin aus Alabama, wird angeklagt, ihr Neugeborenes getötet zu haben. Victoria Banks ist geistig behindert, eine Leiche wird nie gefunden. Sie beteuert ihre Unschuld. Dennoch wird sie zu 20 Jahren Haft verurteilt. Drei Jahre sitzt sie im Gefängnis, dann erreicht ihr neuer Anwalt Bryan Stevenson ihre Freilassung. Mit einem ganz einfachen Beweis: Victoria Banks ist sterilisiert. Und: Sie ist gar nicht schwanger gewesen.
    In etlichen US-Staaten werden geistig Behinderte und Minderjährige nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt. Überproportional viele Schwarze werden schuldig gesprochen, überproportional viele Menschen, die aus ärmlichen Verhältnissen kommen. Viele von ihnen zu Unrecht. Und das hat System, wie Bryan Stevenson in seinem spannend geschriebenen Sachbuch "Ohne Gnade" darlegt:
    "Wir haben ein Justizsystem geschaffen, in dem man besser behandelt wird, wenn man reich und schuldig ist als arm und unschuldig. Wohlstand, nicht Wahrheit liegt etlichen Urteilen zu Grunde. Deshalb werden so viele arme Menschen unschuldig verurteilt."
    Die Rahmengeschichte in "Ohne Gnade" ist die Geschichte von Walter McMillian, einem schwarzen Holzhändler aus Alabama, der in der Todeszelle sitzt. Eine junge weiße Frau war in der Kleinstadt Monroeville ermordet worden. Die Bewohner schrien nach Rache. Schnell wollte die Polizei den Täter präsentieren.
    "Wir sind korrumpiert durch eine Politik der Angst und des Zorns. Wenn man ängstlich und zornig ist, kümmert man sich nicht um Details. Wir finden uns viel zu schnell damit ab, dass irgendjemand, ob nun schuldig oder nicht, angeklagt und bestraft wird."
    Stevenson schildert unglaubliche Einzelfälle
    Walter McMillians wird festgenommen. Richter und Jury ignorieren die vielen Zeugen, mit denen McMillian während der Tatzeit bei einer Kirchenfeier zusammen gewesen ist. McMillian hatte eine Affäre mit einer weißen Frau, und allein das hat ihn verdächtig gemacht. Er wird zum Tode verurteilt.
    "Ohne Gnade" ist anschaulich und mitreißend geschrieben. Stevenson schildert unglaubliche Einzelfälle, so manchen zähen Kampf gegen die Uhr, wenn ein Hinrichtungstermin näher rückt. Deshalb wirken die erschütternden Fakten und Zahlen, die er immer wieder einstreut, nie trocken. Trotz des ernsten Themas liest sich sein Buch kurzweilig wie ein guter Krimi. Dennoch wird McMillians Fall nicht wie eine Hollywood-Geschichte präsentiert.
    Er dient Stevenson dazu, ein System zu schildern, in dem die Ungerechtigkeit manifest geworden ist. Gefängnisse sind privatisiert und längst zu einem großen Geschäft geworden. Während 1980 noch 6,9 Milliarden Dollar für Haftanstalten ausgegeben worden sind, sind es heute 80 Milliarden. Nirgendwo auf der Welt sitzen so viele Menschen - auch proportional zu ihrer Bevölkerungsgröße - im Gefängnis wie in den Vereinigten Staaten von Amerika. 2,3 Millionen Menschen sind in Haft, sechs Millionen sind zur Bewährung auf freiem Fuß. 250.000 Menschen, die langjährige Haftstrafen absitzen, waren Kinder, als sie verurteilt wurden. Die Hälfte aller Gefangenen ist ernsthaft psychisch krank.
    "Wir alle leiden darunter, dass es keine Gnade gibt. Unsere Gesellschaft ist strafend, hart, auf Rache aus. Das berührt uns alle. Wir werden alle darunter leiden, wenn wir weiterhin tolerieren, wie unfair Gefangene behandelt werden, wie sie verteufelt und verdammt werden."
    Schwarze sitzen besonders häufig ein. Schwarze werden also fast sechsmal häufiger eingesperrt als Weiße. Wenn das so weitergeht, so eine Untersuchung der amerikanischen Justizbehörden, wird jedes dritte schwarze Baby, das heute geboren wird, im Gefängnis enden.
    "Wir haben Sklaverei und Knechtschaft abgeschafft, aber die Legende der Rassenungleichheit gibt es immer noch. Es gibt das Vorurteil, dass Schwarze gefährlicher seien. Und wenn sie angeklagt sind, muss nicht der Richter ihre Schuld, sondern sie müssen ihre Unschuld beweisen. Und das ist unfair."
    Schwarze sind verdächtig, weil sie schwarz sind. Im Justizsystem der USA lebt der Rassismus fort.
    Und doch ist Bryan Stevensons "Ohne Gnade" ein Buch, das Hoffnung macht. Denn der Autor selbst erringt als Anwalt große Erfolge. Der Oberste Gerichtshof der USA hatte 2012 auf Stevensons Klage hin geurteilt, dass die zwingend vorgeschriebenen, extrem hohen Gefängnisstrafen für Jugendliche abgeschafft werden müssen. Bryan Stevenson liefert nicht nur eine brillante Analyse des amerikanischen Justizsystems, sondern auch eine genau Analyse der amerikanischen Gesellschaft.
    Sein Buch ist in Amerika mit viel Enthusiasmus aufgenommen worden. Die "New York Times" schließt sich Bischof Desmond Tutu an, der sagt, Bryan Stevenson sei der Nelson Mandela Amerikas.