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Buch der Woche
Amerikanische Linke über drei Generationen

Der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Lethem entfaltet in seinem aktuellen Buch das Panorama der amerikanischen Linken zwischen den 30er-Jahren und der Gegenwart - anhand einer zerrissenen Familie. Es geht vor allem darum, wie sich politischen Ideale und menschliche Beziehungen miteinander verbinden.

Von Michael Schmitt |
    Jonathan Lethem, US-Autor des Buchs "Der Garten der Dissidenten", das von einer zerrissenen amerikanischen Familie handelt, beim Interview im Deutschlandradio Kultur am 5. März 2014.
    Jonathan Lethem, US-Autor des Buchs "Der Garten der Dissidenten", das von einer amerikanischen Familie handelt. (Bettina Straub / Deutschlandradio)
    Der Roman beginnt mit einem Parteiausschlussverfahren unter amerikanischen Kommunisten Mitte der 50er-Jahre – einer jämmerlichen Abrechnung an einem Küchentisch. Und er endet am Check-in eines Flughafens, wo das Sicherheitspersonal, rund ein Jahrzehnt nach 9/11, aus einem friedlichen Bürger ein Maß an Widerstandsgeist hervorlockt, wie der es sich seit seiner Kindheit noch nie erlaubt hat. Dazwischen entfaltet Jonathan Lethem auf rund 480 Seiten das Panorama der amerikanischen Linken zwischen den 30er-Jahren und der Gegenwart der Occupy-Camps: eine Tradition von Idealismus und Verstiegenheit, von Aufbrüchen und Niederlagen, durchsetzt mit Generationenkonflikten und Trennlinien zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft – im Detail oft sarkastisch, im Ganzen aber auch eine Verbeugung vor Energie und Unbeirrbarkeit.
    "Der Garten der Dissidenten" versucht keine Heroisierung revolutionärer Kräfte und macht auch nicht den Versuch, die Geschichte der amerikanischen Gesellschaft über rund acht Jahrzehnte umfassend darzustellen. Das Buch ist vor allem Fortschreibung und Variation jener New-York-Porträts, die Jonathan Lethem in Büchern wie "Motherless Brooklyn", "Die Festung der Einsamkeit" oder "Chronic City" schon vorgelegt hat – nur eben dieses mal mit der Verankerung im Stadtteil Queens, in einem Quartier mit Namen "Sunnyside Gardens", Ende der 20er erbaut in der Tradition der europäischen Gartenstädte. Das ist die Erste von vielen Zellen, um die es in diesem Buch gehen wird, die Kommunistische Partei Amerikas wird eine weitere sein, ebenso eine jüdische Landkommune der 30er-Jahre in New Jersey, später dann Folk- und Protestsong-Bewegungen um 1960, schließlich die Kommunen der Hippies in Manhattan oder die pazifistischen Quäker und die freiwilligen Helfer der Sandinistas in Nicaragua.
    Lethem erzählt in langen verschachtelten Sätzen und springt zwischen den drei Generationen einer Familie über die Jahrzehnte immer wieder vor und zurück. Anders als in früheren New-York-Romanen aber fehlt im "Garten der Dissidenten" jene oft irritierende und nie aufgelöste Beimischung von fantastischen Elementen, wie etwa jener Tiger, der in "Chronic City" überlebensgroß und bedrohlich in den Nächten durch Manhattan streift. Im "Garten der Dissidenten" treten an die Stelle solcher Fantastik der gute Wille der Protagonisten zur Verbesserung der Welt, die Ideologien, das Sternzeichen des Wassermanns unter den Hippies oder der "Talking Blues" als Ausdruck der Solidarität mit allen Geknechteten. Vor der Allmacht des Kapitalismus nordamerikanischer Prägung gehen sie zwar alle irgendwann in die Knie, aber als Idee vom notwendigen Widerstand geistern sie immer weiter durch die Straßen von New York.
    Junge Kommunistin im Mittelpunkt
    Die zentrale Gestalt des Romans ist Rose Zimmer. Als junge Frau ein überzeugtes Mitglied der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten. Ein ungeheuerliches Energiebündel, im Verlauf ihres Lebens Zentrum und Schrecken aller Familienmitglieder, die in ihrem Schatten existieren oder aufwachsen müssen. Ihre jüdische Familie stammt aus Osteuropa, als junge Frau heiratet sie einen deutschen Kommunisten, Albert, der aus Lübeck stammt – hier lassen die Buddenbrooks grüßen –, sie verliert diesen Mann aber an die Partei, irgendwann wird er nach Deutschland zurückbeordert, um als Spion zu arbeiten, und kommt nie mehr zurück. Darauf lässt sie sich mit einem schwarzen Polizisten ein und wird deswegen aus der KP ausgeschlossen, hat in späten Jahren auch ein Verhältnis mit einem biederen, bodenständigen Konservativen, den sie an einer Kneipentheke kennenlernt. Sie sieht die Männer kommen und gehen, so wie sie auch den Kommunismus hat kommen und gehen sehen – vor und nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 oder auch nach Chruschtschows Abrechnung mit dem Stalinismus 1956.
    "Rose Kommunismus, der Kernquotient aus Wissen und Glauben, hielt auch in Alberts Abwesenheit, hielt auch in der Abwesenheit jeder Unterstützung. Anders als Alberts Kommunismus brauchte er keine Kultivierung von Eitelkeiten, keine Freude an Papprhetorik. Als sowohl ihre Ehe als auch die Volksfront zerbröckelten, blieb Rose in die harten Umrisse ihrer privaten Gewohnheiten geätzt zurück.
    (...)
    Man redete nicht, man las. Man arbeitete. Besuchte Treffen, prahlte aber nicht damit, übernahm kleine Aufträge, nahm an Versammlungen zu Mieterrechten teil oder ging in Jugendklubs. Trat unerschütterlich für die Bildung von Betriebsräten, die Verstaatlichung der Industrie und die Bildung der Massen ein, brachte das aber nicht in den Fanfaronaden.
    Der Volksfront zum Ausdruck, sondern im Geiste beharrlicher Nachbarschaftshilfe."
    Diese aktive und energische Frau, die an sich selbst irgendwann erkennen wird, dass sie umso amerikanischer geworden ist, je mehr der Kommunismus als Idee und als Wirklichkeit zerfallen ist, hat aber auch monströse Züge. Sie zieht ihre eigene Tochter Miriam auf und kümmert sich zudem viel zu intensiv um den Sohn ihres farbigen Geliebten. Sie wechselt die Männer und scheut auch vor Liebhabern nicht zurück, die verheiratet sind - aber sie steckt ihre 16-jährige Tochter mit dem Kopf in den Backofen, als die zum ersten Mal einen jungen Studenten nachts in ihr Zimmer schmuggeln will - denn sie hat Angst um die Zukunft des Mädchens. Für Miriam ist das einer von vielen Gründen, ihre Mutter zu verlassen, so wie anderswo Menschen "aus einem Bombenkrater klettern".
    "Innerlich zu sterben, war für Rose eine Lebensweise. In ihrer Mutter tobte ein Vulkan des Todes. Rose hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, ihn anzufachen, immer hatte das innere Chaos gebrodelt, immer war Rauch aufgestiegen. In Roses Lava der Enttäuschung waren die Ideale des Kommunismus eine Ewigkeit lang einen langsamen Tod gestorben; Rose würde nie sterben, eben weil sie ewig leben musste, ein fleischgewordenes Mahnmal, das des Scheiterns des Sozialismus in einer intimen Wunde gedachte. Der Widerwille ihrer Schwestern, sich durch ihre Ehen, durch ihre Biografien gegen das Drehbuch des gehorsam jüdischen Lebens aufzulehnen, das Miriams Großeltern aus dem Schtetl geborgen hatten, das weder Polen noch Russland war, sondern zu einem unheiligen Nichtjudenland dazwischen gehörte; auch das hatte zu dem Zorn beigetragen, der ewiglich in diesem radioaktiven Behälter schwelte, der undetonierbaren Bombe namens Rose Zimmer. Gott selbst war in sie zum Sterben gekommen: Rose Unglaube, ihre Weltlichkeit, war keine Freiheit vom Aberglauben, sondern die tragische Last ihrer Intelligenz."
    Die Tochter Miriam
    Was in Rose' explosivem Wesen angelegt ist, führt Jonathan Lethem in anderen Figuren des Romans nach und nach weiter aus, schreibt Engagement und Enttäuschung fort in die 60er-, 70er- und 80er-Jahre. Miriam, die aufmüpfige Tochter, wird dabei zu einer zentralen Gestalt, weil nahezu alle anderen Protagonisten sich auch auf sie beziehen. Sei es der acht Jahre ältere Cousin Lenny, der "letzte Kommunist", der Miriam schon geliebt hat, als sie noch in den Windeln steckte, aber nie bei ihr landen kann. Oder Cicero, der Sohn des Polizisten, mit dem Rose ein paar Jahre lang zusammen ist - ein Junge wie ein rotes Tuch für seinen Vater: schwarz, fett und schwul, aber mit einer messerscharfen Intelligenz und einer intellektuellen Wut begabt, die der, die in Rose tobt, um nichts nachsteht. Und nicht zuletzt Sergius, der Sohn von Miriam und der Enkel von Rose, der viel zu früh alleine auf der Welt sein und zu einem viel zu stillen Menschen heranwachsen wird.
    Miriam hat von ihrer Mutter die Energie geerbt; sie ist ein Wunder an Offenheit für alles das, was als Welt auf sie einstürzt. Nachdem sie sich vor ihrer Mutter Mitte der 50er nach Manhattan gerettet hat, trifft sie um 1960 auf den irisch-stämmigen Tommy Gogan, der mit zwei Brüdern als harmlose Folklore-Band auftritt, sich aber unter dem Einfluss des Mädchens schnell den Protestsongs zuwendet, den Blues für sich entdeckt und aus den Schlagzeilen der Zeitungen die Texte dazu destilliert, um die Fackel des Widerstandes weiterzutragen.
    Politische Ideale und menschliche Beziehungen
    Im "Garten der Dissidenten" verschmelzen politische Ideen und Ideale mit den Menschen, die damit Umgang pflegen, die sich begehren oder ablehnen. Es geht in dem Roman nicht darum, die Weltanschauungen der Grüppchen oder der Einzelnen auf Schlüssigkeit zu untersuchen, sie zu rechtfertigen oder zu verwerfen. Es geht Lethem darum, zu zeigen, wie diese Ideale und die menschlichen Beziehungen sich verknoten, was aus Liebe und Begehren wird, wenn Gefühle und Haltungen sich vermischen, wenn Menschen sich aus Enttäuschung verhärten und es ihre Mitmenschen spüren lassen. Aus Tommy, dem "süßen" irischen Sänger wird der "thematische Tommy", der an der Bowery die Obdachlosen interviewt, um aus dem Material die Lieder für eine LP zu gewinnen. Sein Mississippi-Delta liegt quasi gleich um die Ecke in Manhattan. Musik, Liebe und Protest ergeben eine brüchige Einheit und meist ein leeres Versprechen.
    "An einem berühmt gewordenen Wintermorgen im Februar 1960 zog er in einem berühmt gewordenen jaulenden Schneesturm zusammen mit einem berühmten weißen Bluessänger nach Caronna Park, um einem berühmten alten schwarzen Bluessänger seine Referenz zu erweisen, der außerdem ein ordinierter Geistlicher war, und deshalb, so ihre Legende für den Rest ihres Lebens, hätten Miriam Zimmer und er den Reverend bitten sollen, sie auf der Stelle zu trauen. Der belebende Ruhm des Ganzen - von Dave Van Ronk und dem Reverend Gary Davis, aber auch dem Ruhm des Schneesturms, dessen Fotos in den nächsten Tagen die Zeitungen beherrschten, der Schneepflüge stoppte, U-Bahn-Eingänge verstopfte und Skiläufer in den Central Park trieb – wurde dem verrückten Traum jenes Tages und der folgenden Tage zugeordnet, dem privaten Ruhm zweier Liebender, die einander entdeckten.
    Er sollte sich sein Leben lang fragen und nie eine anständige Antwort erhalten, warum um alles in der Welt er in Van Ronks geliehenem Nash Rambler dem Sturm getrotzt hatte, um dann Gary Davis zu Füssen zu sitzen und eine Anleitung im Fingerpicking des Riffs von 'Candy Man' zu erhalten, er, der im Fingerpicking so gut war (wie immer gewitzelt wurde), als wäre seine rechte Hand ein Fuß, an dem man noch einen Entenfuß genäht hatte."
    Man kennt die Geschichten von britischen und amerikanischen jungen Männern, die um 1960 herum zu den Altmeistern des Blues wallfahrten, um von ihnen zu lernen. Sie heißen Mick Jagger oder Eric Clapton - oder eben Tommy Gogan, der dem Protestsong die Treue hält und weitermacht, auch wenn kein Plattenvertrag in Aussicht ist. Und Miriam macht auch weiter, obwohl sie das sehr genau registriert. Sie ist Hippie in Reinkultur, ständig bekifft, bunt und auffällig gekleidet, ein bisschen esoterisch im Zeichen des Wassermanns, aber immer auch im Kampf gegen die Wehrpflicht, gegen Vietnam, gegen die Todesstrafe. In kleinen und kleinsten Aktionen, in Wohngemeinschaften, in denen sie schließlich als Mutter mit Kind, die mit Abstand Älteste sein wird.
    Konflikt zwischen den Generationen
    In einem langen Brief an ihren Vater Albert, der in der DDR geblieben ist und sehr viel Post im Überzeugungsmodus der Partei an seine Tochter schickt, resümiert Miriam das 1978 ausführlich, nachdem sie dem Vater zuvor immer nur kurz und auf Karten mit Guernica-Motiv geantwortet hat.:
    "Ich hatte immer den Eindruck, dass Politik für Dich eine ziemlich abstrakte Sache ist. Vielleicht erinnerst Du Dich noch daran, dass sie für Rose ein Lippengeschwür ist. Für uns ist sie Alltag. Die Bewegung hält sich versteckt und fusselt an den Rändern aus, aber wir sind noch da und Nixon ist weg. Wusstest Du, dass Nixon ein Quäker war? Tommy engagiert jetzt sehr bei den Quäkern. Das hat mit Vietnam angefangen. Als die Wehrpflicht verschärft wurde, wussten die Quäker lange vor allen anderen Bescheid, wie man den Kriegsdienst verweigert. Jetzt widmen wir all unsere Energie der Todesstrafe und internationalen Angelegenheiten wie dem American Friends Service Committee. Tommy hat für die schon zweimal in Afrika gesungen, und jetzt überlegen wir, nach Nicaragua zu gehen, wo es einfach haarsträubend zugeht."
    Dieser Brief markiert das Ende dieser jahrelangen Konversation mit dem fernen Vater, es ist eine der eindrucksvollsten Passagen des Buches, weil darin so deutlich wie kaum an einer anderen Stelle die Unterschiede zwischen einem verhärteten Bürokraten des Sozialismus und einer jüngeren, freier agierenden und von den Eltern enttäuschten Generation spürbar ist. Miriam sieht sich als Tochter von Eltern, denen man niemals Kinder hätte anvertrauen sollen. Aber schon der nächste große Schritt, den sie selbst unternimmt, führt dazu, dass sie die Fehler von Rose und Albert wiederholt und weiterreicht: Miriam und Tommy gehen 1978/9 nach Nicaragua, um die Revolution der Sandinistas zu unterstützen, lassen ihren kleinen Sohn in New York zurück, geraten unter dubiose Kämpfer, vielleicht auch unter Agenten des CIA, werden umgebracht und erst Wochen später als verscharrte Leichen identifiziert.
    Aus solchen Kontrasten, aus dem Widerspruch zwischen Zielen und Wirkungen und aus dem Wissen darum, wie Leid über Generationen weitergereicht wird, hat Jonathan Lethem seinen Roman aufgebaut. Und so führt er ihn auch fort bis in die Gegenwart.
    Bewohner von Sackgassen
    Viele sterben, und Rose, die Urmutter der Familie, landet schließlich, zunehmend dement in einem Heim, wo nur noch Cicero sie besucht - ein arrivierter Mann mit schwarzer Haut, der mit sich selbst und seiner Wut allein gebliebene Professor. Auch diese beiden spiegeln einander als zwei Facetten des gleichen Dramas, jede und jeder für sich ein Bewohner von Sackgassen der Revolution: Cicero ist den Weg der intellektuellen Opposition gegangen, von der kritischen Theorie zum Dekonstruktivismus; und als Schwuler hat er in den 80ern erst den libertären Lebensstil von Manhattan ausgekostet und dann die Folgen von AIDS erlebt. Als Mensch unter Menschen und als Professor, der seine Studenten verachtet, ist er eine Zumutung, aber mit dem Tod hat er zu leben gelernt.
    "Kritische Theorie war vielleicht nur ein anderer Begriff für Selektion, die Bergung dessen, was aus dem zum Himmel wachsenden Trümmerhaufen der Geschichte geborgen werden konnte. (...) Zu der Zeit als Ciceros Test in Oregon negativ ausfiel - und er sich wunderte , ob er wegen des Zufalls seiner Vorlieben oder wegen idiotischen Glücks von der Ansteckung verschont geblieben war - , erfuhr er, dass David Ianoletti gestorben war. Die Laster waren fort, aber vor ihrem Verschwinden hatte der Sensenmann unter ihren Stammgästen noch gnadenlose Ernte gehalten, und diese Welt war verschwunden wie eine Fata Morgana. Wer hätte sagen können, wie viele Gäste jener Party in der Pacific Street noch am Leben waren? Die Hälfte? Weniger? Die Blütezeit einer polymorphen Bourgeoisie war letztlich nur eine kurze Episode gewesen.
    (...)
    Cicero mauserte sich zu einem sachkundigen Sterbebettbesucher. Als er sich um Rose kümmerte, hatte er gelernt, sich nützlich zu machen: vor allem sein verdammtes Ich durch die Tür zu wuchten, in die Krankenstation, das Sterbehospiz oder ein abgedunkeltes Schlafzimmer, und neben einem schwindenden Körper auszuharren. Die Hauptaufgabe war, kommen und vom Sterbenden nichts verlangen."
    Stille Opposition der dritten Generation: Sergius
    Und dann, nicht zuletzt, ist da noch Sergius, der Jüngste in der Reihe der Familienmitglieder, die dritte Generation, geboren um 1970 und als Waisenkind zurückgeblieben nachdem seine Eltern Miriam und Tommy ermordet worden sind. Er ist die Figur, deren Lebenslauf direkt an Jonathan Lethem selbst erinnert: Auch der Schriftsteller ist ein Kind von Hippie- und Boheme-Eltern, auch er ist mit vierzehn Waise geworden und hat daraus die Anstöße für Bücher und Essays gewonnen.
    Sergius verbringt die ersten Jahre in der Kommune seiner Eltern und wird dann, nach der Katastrophe, von Quäkern an einer ihrer Schulen untergebracht. Die Erinnerungen an seine Eltern verblassen schnell, er wird zu einem sehr passablen Musiker, macht aber keine Karriere, sondern unterrichtet anderer Leute Kinder im Gitarrespiel. Von den Quäkern distanziert er sich, als er deren Glaubensgewissheiten erkennt, er ist ein zutiefst friedlicher Mensch, der schon als kleiner Junge aus einem Kinderbuchklassiker, aus Munro Leafs "Ferdinand der Stier", seinen subjektiven Pazifismus gefiltert hat.
    "In einen Sessel zusammengekuschelt, studierte Sergius, soweit er es verstand, das Märchen vom Kalb, das zu einem großen Stier heranwuchs und sich doch allem verweigerte, nur an Blumen schnupperte, selbst wenn es in einer Arena voller johlender Zuschauer auf den Rängen mit vorgehaltener Klinge bedroht wurde.
    Aus diesem Geist heraus lebt Sergius seine stille Opposition und distanziert sich von allen Kämpfen der Älteren, und so agiert er auch als pubertierender Junge bei Videospielen, bei denen es eigentlich darauf ankäme, möglichst viele Gegner abzuschießen. Sergius schießt nie, sein roter Knopf verstaubt, er entzieht sich nur endlos lange den Schüssen der Feinde - und kann so, ein praktischer Effekt nebenbei, ganze Abende mit einer einzigen Vierteldollarmünze finanzieren. Er gehört am Schluss des langen Weges, den der Roman abschreitet, keiner Zelle mehr an, gerät aber dennoch in die Klauen des Sicherheitspersonals an einem Flughafen, wo die ersten Ganzkörperscanner eingesetzt werden - und aktiviert schließlich doch eine paar rebellische Reflexe. Er ist sogar, obwohl auch nicht mehr ganz jung, offen genug, um sich von einer jungen Frau mit Gitarre und alten Protestliedern faszinieren zu lassen, die von Occupy- zu Occupy-Camp reist, im Geiste einer neuen Wendung des Widerstands, formloser als früher, vermutlich aber nicht erfolgreicher.
    So endet der Roman ohne Appelle und ohne Abrechnung - in gewisser Weise ratlos vor so viel Engagement und Erfolglosigkeit - steht durch sein zentrales Thema in der Tradition der großen sozialkritischen Bücher der US-amerikanischen Literatur, wie sie von Upton Sinclair und anderen geschrieben worden sind, und entzieht sich dieser Tradition zugleich durch die Mischung der vielen Perspektiven, die sich gegenseitig kommentieren und relativieren - und durch die Beschränkung auf ein meist bürgerliches, teils jüdisches, teils schwarzes Milieu, in dem Revolution und Rebellion nie eine existentielle Notwendigkeit gewesen sind, sondern immer nur eine gut gemeinte und vielfach gebrochene Vorstellung von der möglichen Verbesserung der Welt.
    Jonathan Lethem: "Der Garten der Dissidenten", aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach, Tropen/Klett-Cotta, Stuttgart 2014,
    480 Seiten.