Als die Amerikaner nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Afghanistan einmarschierten, verschärften sich auch die Konflikte im Nachbarland Pakistan. Die vorwiegend muslimisch geprägte Region, die in jenen Kriegsjahren zeitweise eine politische und militärische Allianz mit den USA und dem Westen einging, steht seit je im Spannungsfeld religiös motivierter Gewalt. Pakistan ist das Land, das der 1966 in Gujranwala geborene Autor Nadeem Aslam mit 14 Jahren verlassen musste, weil sein Vater gegen die Militärdiktatur des Zia-Regimes opponierte. Aslam kam nach England. Er gehört zu jener Schriftstellergeneration, die als Migranten zu schreiben begannen, in der neuen Sprache, die ihre neuen Leben prägte; und immer aus der Distanz heraus, mit Blick ins Herkunftsland, das er in seinem neuen, vierten Roman "Der Garten des Blinden" in den Mittelpunkt rückt: Wenige Wochen nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center, der den Westen erschütterte, machen sich zwei junge Männer von Pakistan auf nach Afghanistan. Sie wollen helfen: Jeo, der Medizin studiert, und sein etwas abgebrühterer Ziehbruder Mikal, der ihn spontan unterstützt und beschützen will - Jeos Vater Rohan hatte ihn aufgenommen, als er 13 war und elternlos. Ein Lastwagen soll sie mit anderen Freiwilligen über die Grenze bringen. Eine Grenze, die sofort zur Wunde wird.
"Hörst du das?"
"Ja", erwidert Mikal.
"Ein Gefecht, oder?"
"Ja."
"Das ist die Welt", sagt einer der Männer. "Die Welt klingt immer so, wir hören es meist bloß nicht. Nur manchmal, an bestimmten Orten."
"Ja", erwidert Mikal.
"Ein Gefecht, oder?"
"Ja."
"Das ist die Welt", sagt einer der Männer. "Die Welt klingt immer so, wir hören es meist bloß nicht. Nur manchmal, an bestimmten Orten."
Intime Blicke auf das, was Menschen aneinander hält
Wie schreibt man über den brutalen Klang in diesem Teil der Welt, so dass wir zuhören? Wie nah geht man heran, wie arrangiert man die verschiedenen Erlebnisse miteinander? Nadeem Aslam gelingen nicht nur unwirklich poetisch klingende Kurzdialoge wie dieser. Er setzt sie pointiert zwischen realistisch-kühle Schilderungen und scheut auch nicht die einer mündlich geprägten, orientalischen Erzählkunst verpflichteten plakativen Sätze, die er wie Felsblöcke zwischen Traumprotokolle, erinnerte Geschichten und einem weitverzweigten Beziehungsgeflecht montiert: Sätze über die Liebe. Sätze über den Tod. Man mag sie vielleicht pathetisch finden. Aber sie erst erlauben intime Blicke und erklären, was diese Menschen aneinander hält. Jeo und Mikal etwa verbindet eine große Freundschaft:
"Falls Liebe beginnt, wenn man einen Blick auf die Einsamkeit des anderen erhascht, dann liebte er Mikal, seit sie beide zehn Jahre gewesen waren."
Der Verlust kündigt sich hier schon an. Wir folgen diesen beiden etwa 20-Jährigen in den Krieg, der um so beklemmender sich vor uns entfaltet, je mehr wir über die Vergangenheit von Jeo und Mikal erfahren. Jeo ist zu diesem Zeitpunkt frisch verheiratet mit Naheed, einer aufgeklärten Muslimin, die Lehrerin werden will. Jeo weiß nicht, dass auch sein Ziehbruder Mikal Naheed liebt und diese ihn, lange schon. Sie hatten diese unmögliche Liebe verheimlicht. Die Weichen für diesen 400-Seiten-Roman sind also früh gestellt. Aber seine Auflösung wird immer fraglicher. Der Krieg zerstört alles. So, als wäre der Roman der Beleg zum thesenartig an den Anfang gestellten ersten Satz, den es mit jedem Kapitel zu beweisen gilt und vor welchem ödipale Psychologiekonzepte völlig versagen:
"Geschichte ist der dritte Elternteil."
Ein beeindruckendes wie erschütterndes Panorama
Zur Geschichte Pakistans gehört der Glauben in seinen zahlreichen Variationen. Und noch bevor Jeo in diesem Krieg stirbt - die Wohlfahrtsorganisation, auf die er und Mikal setzten, entpuppt sich als Einheit der Taliban - lernen wir dessen zu Hause zurückgelassenen Vater Rohan kennen, der den Roman zu seinem Titel kommen lässt, auch im englischen Original, "The Blind Man`s Garden".
"Er streicht über die Farben, fast ein Abschiedsgruß. Sechzig Jahre ist er jetzt alt, und seit zwei Jahrzehnten werden die Augen schwächer. Noch fünf Jahre höchstens, länger wird er nicht mehr sehen können. Danach wird Helles zum Rätsel. Er muss die Augen in Belladonna und mit Tau verdünntem Honig baden, muss Licht ab einer bestimmten Intensität meiden, doch auch heute schon gibt es kurze Phasen, in denen ihm Schatten weiß erscheinen oder der ganze Himmel grün, die Hände kohlschwarz. Kleine indigofarbene Umrisse schieben sich wie Landmassen ins Blickfeld. Oder plötzlich herrscht eine Abwesenheit von allem, eine leuchtende Auslöschung, die er selbst mit geschlossenen Lidern wahrnehmen kann."
Der zunehmende Verlust des Augenlichts, das langsame Verschwinden der Farben und Gesichter, dient als erzählerische Folie, die der Autor über diese Region und ihre Menschen legt und unter welcher sich alles zu einer großen Metapher zunehmender Blindheit gegenüber humanem Handeln verdichtet: Je unmenschlicher die Zustände, die Aslam schildert, desto öfter will man selbst die Augen davor verschließen und stattdessen die Schönheit festhalten, die in simplen Alltagstätigkeiten wie Einkaufen und Waschen oder der Vegetation einer an Dattelpalmen und fremdartigen Gewächsen reichen Landschaft zu sprachlich kraftvollen Bildern geformt ist. Schönheit und Brutalität, Menschliches und Monströses, frei wachsende Natur und mechanisch durchgesetztes Machtkalkül, wachsen in dieser Prosa zu einem ebenso beeindruckenden wie erschütternden Panorama ineinander.
"Ihm kommt der Gedanke, dass Jeo und Mikal sterben könnten, ein Grauen im schwarzen, laubverhangenen Wald seines Verstandes, von dem er sich sofort wieder abwendet."
Der Krieg implodiert im Leser
Rohan, der sich auf den Weg macht, um seine beiden an den Krieg verlorenen Söhne Jeo und Mikal in einer waghalsigen Aktion selbst zu suchen, ist mit seinen vielen inneren Monologen eine stark gezeichnete Figur, vielleicht sogar die, welche dem Autor am besten gelingt. Um ihm nachzuempfinden, hat er sich die Augen zugeklebt, drei Mal je eine Woche lang zu verschiedenen Stadien des Romans. Es könnte mit ein Grund dafür sein, dass jenseits des visuellen Bilderrepertoires auch viele Gerüche, Akustisches und Haptisches die Vorstellungskraft des Lesers unterstützen. Wie man es von orientalischen Märchen kennt, knüpft Aslam die traditionellen Glaubenssätze, die seine Protagonisten prägen und handeln lassen, an Geschichten; an das, was man sich von Generation zu Generation weiter erzählt; eine Art angedeutete Nacherzählung der Geschichte Pakistans und seines Kampfes um Unabhängigkeit unter verschiedenen Systemen. Da ist etwa die Geschichte von Rohans Urgroßvater, der die Hengste seiner weithin gepriesenen Zucht vor Rebellen bewahrte, indem er die schnaubenden und leise trampelnden Pferde unter Erde in einer riesigen Grube versteckte. Die Aktion half den Briten, die damals das Land besetzten. Bis heute empfindet Rohan, ein gläubiger Muslim, dieses Handeln seiner Vorfahren, das Ungläubige unterstützte, deshalb als Makel. Ganz nebenbei macht uns Nadeem Aslam mit den kulturellen Hintergründen bekannt, mit Vorstellungen, die das Leben prägen, etwa die vom Todesengel, der keine Ohren hat, um die Bitten nicht hören zu müssen. Wir erfahren, wie der Toten gedacht wird. Indem uns Nadeem Aslam immer wieder neu in die Köpfe seiner Figuren führt, lernen wir sie kennen und können selbst urteilen. Aslam erzählt nie mit erhobenem Zeigefinger. Er kommentiert nicht, sondern zeigt her: Menschen in verschiedenen Gewissenskonflikten, konfrontiert mit Menschen, die man nur handeln sieht, nicht aber denken und die deshalb wirken wie Monster. Natürlich bestimmt er mit dieser Auswahl unsere Blickrichtung. Vor allem aber lässt er diesen Krieg im Leser selbst implodieren, indem er seine Auswirkungen beschreibt.
"Das ist schon der zweite Angriff auf eine Kirche in ebenso vielen Tagen. Gestern passierte es bei Tageslicht; es gab mehrere Verletzte. Diejenigen, die die Verantwortung für diesen Anschlag übernahmen, sagten, da westliche Christen Moscheen in Afghanistan bombardierten und zerstörten, begänne man nun, Kirchen in Pakistan auszuradieren."
Diese Ideologie eines "Auge um Auge, Zahn um Zahn" konfrontiert der Autor mit der Figur Rohans. Er zeigt ihn uns als gläubigen Muslim, der mit sich ringt. Der zunehmend erzwungene innere Blick korrespondiert mit Rohans Zweifeln, die ihn überkommen, wenn er an die Vergangenheit denkt, und die ganz langsam einen Verwandlungsprozess anstoßen, der von den äußeren Schicksalsschlägen beschleunigt wird. Rohan ist zwar aufgeklärt, aber auf seine Weise radikal. Er hatte seine Frau, eine Englischlehrerin, die er in der Hauptstadt Lahore kennegelernt hatte und mit in sein Heimatdorf nahm, deutlich spüren lassen, was er von ihrer Ablehnung gewisser Glaubensparadigma hielt, und zwar bis aufs Todesbett, wo er ihr die lindernde Medizin verweigert, um sie zur Umkehr zu bewegen - sie starb bei Jeos Geburt. Jetzt sieht er sich selbst einem funktionalisierten Islam ausgesetzt und als Ungläubiger geächtet. Er muss mit ansehen, wie die Schule, die er auf einem großen Areal gründete und seinem militanten Bruder überließ, zur Dschihad-Schmiede mutiert.
Verleiht den Frauen eine Stimme
"Gerade als er dem Soldaten befiehlt, wieder aufzusteigen, weht von einer der Burka tragenden, an die Wand gedrängten Frauen ein leiser metallischer Klang herüber - ein Armreif oder ein Ohrring. Hörbarer Schmuck. Der Fahrer langt unter den Sitz, fischt eine Lederpeitsche hervor, in deren Schnüre mehrere Dutzend Münzen eingeflochten sind, steigt aus und will wütend wissen, wer den lauten Schmuck trägt, wer mit solchen Tricks die Aufmerksamkeit von Männern des Glaubens zu wecken versucht."
Rohan, der sich fragen muss, welche Fehler er selbst im Namen des Islams in der Vergangenheit machte, ist der immer hellsichtigere Beobachter; eine Art hilfloses, handlungsunfähiges Gewissen - die Schaltstelle eines Romans, der die Fallstricke einer radikal islamisierten Gesellschaft im Spiegel eines tollwütigen Krieges vorführt. Rohan stößt in dessen Schattenreich vor, als er sich aufmacht, seine Söhne zu suchen und auf gefangene Kinder trifft, die ihr Erbrochenes essen und missbraucht werden. Als er einen Jungen freikauft gegen den Rubin, den man in Jeos Magen gefunden hat, und dem grausamen Warlord die Hand verweigert, blendet man ihn mit eben jenem pulverisierten, zum Folterinstrument verwandelten Rubin und schlägt ihm die Finger der rechten Hand ab. Rohans Sehnsucht, sich nicht mehr verstellen zu müssen, wird ihm zum Verhängnis. Indem Nadeem Aslam immer wieder von den Schauplätzen des Krieges zum häuslichen Leben in Rohans Heimatstadt wechselt, verleiht er auch den Zurückgebliebenen eine Stimme, insbesondere den Frauen. Er zeigt, wie sie etwa von anderen verschleierten Frauen (selbst deren Augen sind durch Kontaktlinsen bedeckt) in radikaler Auslegung religiöser Gesetze vom Friedhof gejagt werden und dort nicht einmal trauern können. Er zeigt diese Frauen in ihrer Angst, während sie auf die Rückkehr ihrer Männer, Brüder, Söhne warten oder, wie Naheed, die doch Mikal liebt, mit dem furchtbaren Hausbesitzer verheiratet werden sollen.
"Es ist elf Uhr; Tara sitzt nebenan bei Lampenlicht über den Koran gebeugt. Dann ist Mitternacht, und es herrscht völlige Stille, als hätte sich das Haus von der Erde gelöst und schwebte frei davon. Sie sind mit einem Krieg allein, mit seinem ausgeweideten, verkohlten Gedärm. Die Zeiten haben ihnen durch diesen Vorfall etwas zu sagen, nur wissen beide nicht, was es ist."
Die verworrene Architektur eines Krieges in zeitlos gültigen Bildern
Das Englische, die Sprache, in der Nadeem Aslam schreibt, vermittelte sich ihm vor allem über die Literatur: Gore Vidal, John Updike, V.S. Naipaul, William Faulkner, Samuel Beckett - er las nicht nur alles, was er selbst entdeckte oder man ihm riet, sondern ließ die Prosa dieser Autoren durch Abschreiben langsam durch seine Finger laufen. Er wollte spüren, wo sie Kommas setzten, wie viele Ideen sie auf wieviel Platz verteilten, welche Entscheidungen sie trafen. So lernte er nicht nur Englisch, sondern auch, wie die Romane gemacht waren. Eine schnörkellose, ins Symbolische tendierende Sprache fundiert seine eigene bildmächtige Prosa. In komplexen Zeit- und Ortssprüngen arrangiert er die verworrene Architektur eines Krieges in zeitlos gültigen Bildern. Die eine Wahrheit sucht man darin vergebens. Es gibt viele - lässt er einen Fakir sagen, der kurz auftaucht und wieder verschwindet - eine der vielen symbolischen Figuren, die Aslam wie Mahnmale in seinen Roman stellt. Er arbeitet wie ein Bildhauer, in dessen zerstörten Landschaften sich die Menschen mehr und mehr verlieren, weil sie sich selbst nicht mehr treu bleiben können, sondern zum Töten gezwungen sind. Die Hölle entsteht in großformatigen Szenarien.
"Sie ziehen von Wrack zu Wrack, von einer grell lodernden Plattform zur nächsten; die Rotorblätter der Hind-Hubschrauber brennen über ihnen wie fünfzehn Meter große goldene Sterne, tauchen sie in ihr Licht. Mit dampfenden Kleidern ziehen sie in einem gewundenen Pfad durch diese Nekropole aus Stahl.
Als es zu schneien beginnt, verzischen die Schneeflocken auf dem heißen Metall."
Stark sind die Passagen, in denen Aslam die religiös begründete Unmenschlichkeit einer zunehmend fundamentalistisch organisierten Gesellschaft zur Schau stellt. Politik wie Alltag sind davon infiltriert. Wagt Naheeds Familie, als sie nach dem Tod Jeos ohne Nachricht verschwindet, sie bei der Polizeistelle als vermisst zu melden, wird ihr sofort Prostitution unterstellt. Unterdessen nimmt in einem parallelen Erzählstrang der geplante Anschlag auf eine von einem westlichen Pater geführte Schule Form an. Wie unterschiedlich der Autor die vielen blutigen Szenen literarisch gestaltet, zeigt sich im direkten Vergleich zum Sterben Jeos noch im ersten Romandrittel. Die Szene wirkt entrückt wie ein Altarbild, überdies romantisch-expressionistisch verklärt:
"Die Klinge knirscht über den Schädelknochen, bis er splittert, und gleich darauf knirscht er erneut, als die Frau den Dolch zurückzieht. "Nimm dies dafür, was eure Leute meinem Mann angetan haben", sagt sie, bewaffnet mit rächender Liebe. Ein Teil seines Verstandes registriert, wie schön die Frau ist, bemerkt die Blüten auf ihrem Kleid. Er ist mit dem Gesicht voran auf die Seite gefallen und sieht Mikal am anderen Ende des Raumes liegen; Rot fließt aus seinem Mund, als wäre es etwas, das er sagt, seine letzten Worte."
Nebenfiguren manchmal nur skizzenhaft
Anders dagegen der Terroranschlag auf die St.-Joseph-Schule. Auf dem Gipfel des Mordens reißt der Erzählfaden ab, und man lauscht im Tumult Naheeds Sehnsucht nach Alltag:
"Sie möchte so gern etwas Normales erleben - mit einer Nachbarin lachen, sich die Hände waschen oder sich beim Gemüsehändler beschweren, weil in der gestern verkauften Aubergine eine Raupe war."
Um so erschütternder wirkt der Nachbericht in der gefilterten Rückblende aus der Sicht Naheeds, die der Autor zur traumatisierten Überlebenden eines Gemetzels aufbaut, das auf beiden Seiten einer unerhörten Logik folgt. Deutlich formuliert Aslam die perfide Rhetorik, die zu einer solchen grenzenlosen Gewalt verführt.
"Die Gesetze, die sie brechen, sind nur unbedeutende Gesetze, redet sich der Präfekt ein. Was geschieht, kommt ihm unwirklich vor, doch ist es in einem tieferen Sinne glaubwürdig, völlig legitim und sogar schön."
Der Herausforderung, die vielen Erzählstränge und Figuren gleich packend und plastisch zu gestalten, ist Nadeem Aslam aber nicht durchgehend gewachsen. Nebenfiguren der großen Rohan-Familie geraten manchmal nur skizzenhaft, wie mit Eile und oft zu spät eingeführt, sodass sie ihre Wirkung nicht ganz entfalten können. Und vor allem das Schicksal Mikals, der nach Jeos Tod von Warlords verkauft, von den Amerikanern gefoltert wird und entkommt, verbirgt sich zwischenzeitlich hinter verwirrendem Aktionismus und ist schwer zu fassen, was schade ist, da er - neben Rohan und Naheed - die wichtigste Figur ist.
"Er denkt an Naheed, in deren Nähe nur zählte, ob er gut oder böse war - nicht, ob stark oder schwach, nicht, ob von Gott auserwählt oder verflucht. Die Kommandoeinheiten arbeiten sich immer weiter zum Gebetsraum vor, sprengen sich ihren Weg durch Wände und Türen."
Eine haltlos gewordene Welt mit kriegsgeschädigten Menschen
Verglichen mit anderen Kriegsromanen, kürzlich erschienen etwa "Bagdad Marlboro" des im deutschen Exil lebenden irakischen Autors Najem Wali, der große Themen wie Schuld und Buße ausgestaltet, verfolgt Nadeem Aslam weniger genau die innere Entwicklung seiner Figuren, sondern lässt große Bilder sprechen, die man nicht so leicht wieder vergisst. Beide erzählen auf ihre je unterschiedliche Art von dem fast unmöglichen Versuch, menschlich zu bleiben.
Nadeem Aslams Roman "Der Garten des Blinden" beginnt mit einer Kinderangst, mit der Erinnerung Rohans an die Zeit, als Jeo noch klein war. Früher hat er ihm immer viele Geschichten erzählt. Manchmal hatte der Junge Angst, einzuschlafen, weil er dachte, er würde vielleicht nicht mehr aufwachen. An dem einen Abend damals aber zitterte er heftig, nach einer Geschichte, in der wieder einmal ein Bösewicht auftauchte, und der Vater fragte ihn, ob er je eine Geschichte gehört habe, in der am Ende das Böse siege. Der Junge dachte nach und antwortete: "Nein, aber ehe der Böse verliert, tut er den Guten weh, und das macht mir Angst." Wer Feind und wer Freund ist, wird auch hier zur Kategorie, die immer ungenauer zu bestimmen ist. Nadeem Aslam verfolgt dabei konsequent das Motiv des Sehens und inneren Schauens, das er poetisch transformiert, ohne über die damit verbundene Qual hinwegzugehen. So geht am Ende die Darstellung einer haltlos gewordenen Welt mit kriegsgeschädigten Menschen in einer praktischen Gehhilfe für den erblindeten Rohan auf, die zugleich als große Vision gelesen werden kann:
"Durch den Garten hat sie ein Seil von Ort zu Ort gespannt. Dieser "Seilpfad" verbindet all die Pflanzen und Stellen, zu denen Rohan so gern geht. Er hält sich daran fest, wenn er durch den Garten schlendert, tastet sich daran entlang, im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch. Manchmal schlagen die Kinder vor, sie nach draußen zu verlängern, ein Strang, der das Haus mit der Moschee verbinden soll, mit dem Basar, den Wohnungen von Bekannten."
"Der Garten des Blinden" von Nadeem Aslam fordert die eigene visuelle Kraft heraus und beschenkt einen beim Lesen mit einer Fülle von Geschichten und Gedanken. Die Ausdrücke, von Bernhard Robben kraftvoll aus dem Englischen übertragen, mögen gewagt und expressiv sein. Sie treffen aber doch sehr gut die eigene Sehnsucht nach einer friedfertigen Welt, die es nicht zu haben gibt - nur manchmal in der Literatur.
Nadeem Aslam: "Der Garten des Blinden", Roman
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
DVA, München 2014, 429 Seiten, 22,99 Euro
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
DVA, München 2014, 429 Seiten, 22,99 Euro