Wenn man dieses Buch aufschlägt, vergisst man gleich, dass es im Jahr 1951 erschienen ist. Man gerät sofort in einen altösterreichischen Sog hinein, in etwas selbstverständlich Habsburgisches und Dahingeplaudertes, aber das ist auch das Einzige, was man sicher fassen kann. Alles andere scheint sich sofort zu entziehen, und dass es sich hier um einen Roman mit durchaus eher eng bedruckten 900 Seiten handeln soll, kann man sich zwar nicht richtig vorstellen, aber das ist auch egal. Die auftretenden Personen kommen und verschwinden wieder, doch daran stört man sich nicht, man registriert es nicht einmal so richtig. Was bleibt, ist etwas Unverwechselbares, aber was ist das genau? Die ersten Sätze jedenfalls machen einen staunen.
"Als Mary K.s Gatte noch lebte, Oskar hieß er, und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren), tauchte ein gewisser Doktor Negria auf, ein junger rumänischer Arzt, der hier zu Wien an der berühmten Fakultät sich fortbildete und im Allgemeinen Krankenhaus seine Jahre machte. Solche Rumänen und Bulgaren hat es zu Wien immer gegeben, meist im Umkreise der Universität oder der Musik-Akademie. Man war sie gewohnt: ihre Art zu sprechen, die immer mehr mit dem Österreichischen sich durchsetzte, ihre dicken Haarwirbel über der Stirn, ihre Gewohnheit, stets in den besten Villenvierteln zu wohnen, denn alle diese jungen Herren aus Bukarest oder Sofia waren wohlhabend oder hatten wohlhabende Väter. Sie blieben durchaus Fremde (denen aus der Heimat andauernd ungeheure Pakete mit ihren nationalen Leckerbissen zugingen), nicht so konsolidiert fremd wie die Norddeutschen zwar, sondern mehr eine sozusagen hiesige Einrichtung, dennoch eben 'Balkaneser', weil auch bei ihnen sich das Spezifische des Sprechtones nie ganz verlor. Damen in Wien, welche ein oder zwei Zimmer ihrer Wohnung oder ihrer Villa zu vermieten gedachten, suchten dazu einen 'bulgarischen oder rumänischen Studenten‘ und wurden dann von diesen untereinander weiterempfohlen. Denn in zahlreichen Cafés um die Universität oder um die Kliniken herum bestand ein connationaler Zusammenhang."
Eine Handlung spielt hier offenkundig kaum eine Rolle, es geht nicht um den klassisch vorantreibenden Duktus eines Romans. Es wird vor allem lustvoll schwadroniert, und das entwickelt eine eigene Ästhetik. Im Vordergrund stehen weitschweifende Gedankengänge, allgemeinere Überlegungen und Nebensatzgirlanden, die man sich genauso gut auch in einem Wiener Kaffehaus vorstellen könnte, wo man stundenlang an kleinen Holztischchen sitzt, eine Melange bestellt hat und sich von Worten ernährt, die leicht etwas Halluzinogenes bekommen können. Der Doktor Negria wird im Laufe dieses geschichtenreichen Buches kaum mehr in Erscheinung treten, und Mary K., von der man annehmen würde, dass sie wohl doch eine gewisse Hauptrolle spielen müsste, verschwindet ziemlich schnell und taucht erst wieder am Schluss des Romans auf, der den Anfang nach langen, weitausholenden Bögen einholt: Am Ende geht es dann darum, wie das in einer Klammer im ersten Satz benannte Straßenbahnunglück konkret passierte. Viel mehr als eine augenzwinkernde Pointe, die Anfang und Schluss des Romans miteinander verbindet, ist das jedoch nicht. Wir folgen dazwischen Figuren wie René Stangeler, seinen Schwestern Asta und Etelka samt Anhang sowie diversen Liebespartnern, die schwierige Grete Siebenschein tritt dabei hervor oder die ständig einem potenziellen Traummann hinterherjagende und lustvoll verführende Editha Pastré, die irgendwann eine geschiedene Frau Schlinger sein wird.
"Werk der Erzählungskunst"
Es gibt viele kleine Geschichtchen, es gibt einmal sogar einen kleinen Skandal, nämlich einen Kuss im Badezimmer, der ungeahnte gesellschaftliche Folgen nach sich zieht, es gibt Zigarettenschmuggel und überraschend erscheinende Zwillinge - aber dass es darum letztlich gar nicht geht, wird schnell klar. Wer sich ausschließlich daran hält, was der Roman an erzählerischen Inhalten bietet, hat die Substanz der Prosa Doderers von vornherein verfehlt. In einem theoretischen Text hat der Autor das auch eindeutig so definiert, und das allerdings klingt wiederum erstaunlich modern:
"Ein Werk der Erzählungskunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann."
Und dann existiert auch noch der merkwürdigen Offizier Melzer, der kaum einen Vornamen hat, aber im Untertitel des Romans vorkommt: "Melzer oder die Tiefe der Jahre". Es ist eines der nahezu unergründlich scheinenden Geheimnisse der "Strudlhofstiege", warum ausgerechnet die Figur Melzer im Untertitel hervorgehoben wird. Melzer ist beileibe kein starker, sich sofort ins Gedächtnis festsetzender Charakter, sondern ein ziemlich farbloser Geselle, der auch in der Konversation, die weite Strecken des Textes ausmacht, keineswegs brillieren kann. Und dennoch ist es dieser Melzer, der den Roman in erstaunlicher Weise mitträgt - eben weil er nicht die Hauptfigur ist, sondern durch alle Ebenen des Textes unaufdringlich durchscheint. Gerade das Unscheinbare in Melzer gibt Gelegenheit, die Lebensverhältnisse um ihn herum ausführlich zu schildern und zur Hauptsache zu machen. In entscheidenden Momenten steht er immer am Rand, und manchmal merkt er gar nicht, dass ein Eingreifen von ihm alles sofort verändern könnte. Erst gegen Ende besteht ein Anlass zu vermuten, dass Melzer eine "Menschwerdung" gelungen ist – ein zentraler Begriff bei Doderer, der sich aber nicht psychologisch, sondern nur literarisch erklären lässt. Dazu muss man aber erst den Roman fast ganz gelesen und seine Atmosphäre in sich aufgesogen haben. Immerhin, ziemlich am Anfang gibt es einen Anhaltspunkt, da ist Melzer gerade, wenige Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, also noch im absolutistisch garnierten Laissez-Faire unter dem alten Kaiser Franz-Joseph, in Bosnien auf Bärenjagd. Begleitet wird er von seinem Freund, dem Majoren Laska, und das ist ein Moment, der für ihn etwas ganz Besonderes bekommen und an den er immer wieder zurückdenken wird:
"Der Weg führte über offenen, flachen Waldboden, die Dickungen traten zurück, man schritt wie durch Hallen zwischen den mattgrauen Stämmen. Melzer fühlte sich vom Frühstück her angenehm gekräftigt und erwärmt, er ging leicht und doch jeden gehorsamen Muskel im Genuss der Bewegung spürend. Es gibt innere Lagen, wo wir wie losgebunden sind vom Pfahle des eigenen Ich und auch den Körper regieren wie sonst nie. So fühlte sich Melzer heute bei diesem jagdlichen Erkundungsgang, dabei alles ringsum mit besonderer Klarheit und Schärfe in sich aufnehmend, wie wenn das Bild eines Gartens durch die frischgewaschene Fensterscheibe in’s sonnige Zimmer fällt."
Kaffee-Parlando
Das ist auch eine der Lieblingsstellen von Peter Handke, die dieser gern zitiert: "losgebunden vom Pfahle des eigenen Ich“ – es wird nicht näher erklärt, was das genau in Melzer auslöst, er wird aber das Fell des Bären, den er an diesem Tag zusammen mit seinem Freund erlegt, in seinem Zimmer ausbreiten und etliche Zeremonien daran knüpfen. Dazu gehört auch das Kaffeetrinken, und zwar das Ritual mit echtem türkischen Kaffee. In Melzers Kreisen wird in diesem Zusammenhang wie folgt gesprochen:
"Wenn die Deutschen in irgendeiner Weise mit den Türken zusammengehen wollen, so ist das nicht deshalb widernatürlich und aussichtslos, weil nicht die geringste Stammesverwandtschaft besteht und weil die Türken Asiaten und Mohammedaner sind, nekrophil gedacht. Sondern eben weil diese Deutschen die schrecklichste Karikatur und Verhöhnung des türkischen National-Getränkes in die Welt gesetzt haben, für jeden Kaffeetrinker eine Art schwerer Häresie, nämlich den Káffe."
Es ist diese Art von Parlando, die das Lesen der "Strudlhofstiege" zum Genuss macht, ein ewiges Mäandrieren und Umkreisen; es ist ein Ungefähr, das immer dichter und konkreter wird. Dazu tragen auch die Naturschilderungen und Stadtbeschreibungen bei: In der "Strudlhofstiege" scheint ewiger Sommer zu herrschen, die Blätter der Bäume nehmen diverse Schattierungen von Grün an und lassen die Sonne in immer neuen Abweichungen durch. Das Parlando wird auch akzentuiert durch eine Erzählerstimme, die sich ganz selbstverständlich in den Ablauf der Sätze einmischt und etwas Rhetorisches erzeugt, das mit einer leisen Ironie die alten Epen der Antike formal genauso zitieren könnte wie den Brechtschen Verfremdungseffekt oder neueste Aufbrech-Versuche einer althergebrachten Erzählstruktur.
"Etelka und Grauermann hatten an manchen feinen Anomalien von Rumplers Bass ihre überlegene Freude (und doch hat ein gewisser Pista Grauermann weniger Tage später auf seinem Zimmer in der Konsular-Akademie festgestellt, dass die Musik in seinem Leben eine negative Rolle spielte, für ihn sozusagen 'negativ' geladen sei… Das möchten wir hier doch ganz von außenher anmerken, weil wir ja nicht nur in Melzers Haut stecken und einen besseren Überblick haben)."
"Von Gedanken keine Spur"
Melzer wird erst ganz am Ende etwas Besonderes tun, er wird nämlich bei dem besagten Straßenbahn-Unfall jener mysteriösen Person namens Mary K. eine entscheidende, lebensrettende Rolle spielen, aber sonst wird er listig beäugt und sozusagen mitlaufen lassen - nur der Autor weiß, was er eventuell noch mit ihm vorhat:
"In einem besseren Roman wären jetzt die Gedanken des einsamen Reisenden während seiner Fahrt nach Wien zu erzählen und notfalls aus der betreffenden Figur herauszubeuteln und hervorzuhaspeln. Bei Melzer ist das wirklich unmöglich; von Gedanken keine Spur; weder jetzt, noch später, nicht einmal als Major. Zum ersten Mal hat er sich unseres Wissens was gedacht bei einem schon sehr vorgeschrittenen und ernsten Anlasse seines Lebens, den wir noch kennenlernen werden: und dabei hat er’s gründlich besorgt; er hat sein Pulver nicht vorzeitig verschossen in kleinen Beweglichkeiten und Geistreicheleien."
Wo der Autor eigentlich steht, wird an keiner Stelle verraten – ob er drübersteht, ob er danebensteht, ob er aus der Distanz beschreibt oder sich so gemein macht mit seinen Figuren, dass er unentwirrbar mit ihnen verbunden bleibt. Man ahnt, dass da nicht alles erfunden ist, ja, dass vielleicht so gut wie gar nichts erfunden ist, und man muss nicht wissen, dass René Stangeler wie eine von mehreren möglichen autobiografischen Folien von Heimito von Doderer wirkt. Oder dass Grete Siebenschein eine Nachempfindung von Doderers erster Frau Gusti ist, eine reichlich komplizierte Angelegenheit, und dass Renés Schwestern Etelka und Asta mit Doderers Schwestern Astri und Helga auf geradezu schwindelerregende Weise identisch sein könnten.
Aber was heißt hier, zumal in Wien, schon Identität. Die Personen sind in Doderers Roman weniger wichtig als der Schauplatz und die Sprache. Es waltet überall etwas Überpersonales, eine wie nebenbei evozierte Zeitlosigkeit. Dazu passt, dass es zwei Zeitebenen in diesem Roman gibt, die ab und zu wie traumwandlerisch ineinander überzugehen scheinen: Da ist zum einen das authentische k&k-Österreich der Jahre 1910 und 1911, und zum anderen das Jahr 1925, in der Republik eines sich seiner selbst nicht gewissen Rest-Österreichs. Das Jahr 1945, als Doderer begann, an diesem Buch zu schreiben, blitzt dabei wie aus einer Science-Fiction-Perspektive auch noch auf. Das entscheidende Trauma des Ersten Weltkriegs ist aber genauso ausgespart wie alle politischen Implikationen: der Unterschied zwischen Kaiserreich und Republik, der Verlust des Großmachtstatus, die verheerenden Niederlagen im Krieg und in der Politik – es wird nur das vorhandene Personal gesichtet, wie es 1925 mit den emotionalen Zuständen zurechtkommt und was sich in den persönlichen Beziehungen seit 1912 geändert hat. "Aktualität" in jedweder Form wird in diesem Roman abgelehnt.
"Und nur, wenn man die Distanz zu klein nimmt, wirken unsere beiden Snöbchen bloß lächerlich; aber ein Blick zurück aus der Formlosigkeit unserer Zeit mit ihrem lebensnahen Getue, das in Wahrheit einer viel tieferen Zerfallenheit mit dem Leben entspringt, rückt hier Schätzbares in die Perspektive. Jene zwei Menschen nämlich machten sich zumindest ihre Lügen selber, während man heute nicht einmal dazu mehr imstand ist, sondern sich mit diesem Artikel fertig beliefern lässt; naturgemäß ist dann die Ware lange nicht so frisch und elastisch, wie wenn man sie fortlaufend im Eigenbaue erzeugt: Hieraus kann man mit der Zeit immer noch ein Sprungbrett zur Wahrheit hinüber gewinnen, während der an den Bezug fertiger Produkte gewöhnte Mensch jene längst nicht mehr zu wittern vermag, mit seiner nur mehr an Benzin und Schmieröl gewöhnten Techniker-Nase.“
Politik am Rande
Derlei Sentenzen haben etwas mit theoretischen Vorstellungen des Autors zu tun. Er wollte die landläufige Politik wie auch individuelle psychische Prozesse als unerheblich ansehen, weil er sich nur dann in der Lage sah, die Phänomene zu beschreiben – für ihn gehörte all der Tand der Alltagswahrnehmung und der gesellschaftlichen Umstände einer "zweiten Wirklichkeit" an, die es zu durchdringen gelte, um zu der maßgeblichen "ersten Wirklichkeit“ vorzustoßen. Dieser theoretische und weltanschauliche Hintergrund wirkt oft ziemlich schwach, elitär-verblasen und vor allem auch reaktionär. Der junge Doderer zog es zum Beispiel vor, Vorlesungen eines dubiosen Psychologen namens Swoboda zu besuchen, dem er zeit seines Lebens verbunden blieb, obwohl er gleichzeitig Sigmund Freud hätte hören können. Er trat daneben schon sehr früh in die NSDAP Österreichs ein und huldigte Vorstellungen eines "Dritten Reiches", die es ihm erlaubten, über die konkreten politischen Vorstellungen der Nazis hinwegzusehen.
Das Merkwürdige ist, dass dies seiner Literatur überhaupt nicht geschadet hat. Zur insgesamt reichlich abstrusen Ideologie des Privatdozenten Swoboda, dem er huldigte, gehörte es, dass die Gedanken in regelmäßigen Zyklen spontan und frei aufsteigen würden, wenn man sich darauf konzentriere. Man solle also bloß nicht versuchen, irgendwelche Themen durch rationale Beschäftigung zu bearbeiten. Genau dieses Vorgehen aber führte dazu, dass Doderers Texte von der Dichte der Augenblicke leben, von überraschenden Beiläufigkeiten und genau beobachteten Details; er fand damit zu den einzigen deutschsprachigen Sätzen, die man mit denen Marcel Prousts vergleichen könnte. Doderer suchte ebenfalls eine verlorene Zeit und eine verlorene Sprache. Worum es ihm eigentlich ging, zeigt sich auch darin, dass er die experimentellen Autoren der "Wiener Gruppe" seit Mitte der Fünfzigerjahre, etwa H.C. Artmann und später auch Ernst Jandl, über alles schätzte, der bissige Österreich-Analytiker Helmut Qualtinger gehörte seit den Fünfzigerjahren gar zu seinen engsten Freunden.
Der Roman "Die Strudlhofstiege", sein geschlossenstes Werk, zeigt ihn auf dem Höhepunkt seiner erzählerischen Möglichkeiten - und es ist kein Zufall, dass diese "Strudlhofstiege" den Titel ausmacht. Sie ist der Hauptschauplatz, der Held in diesem monumentalen Roman. Die handelnden Figuren überkreuzen sich in entscheidenden Momenten genau an dieser eigentlich eher unscheinbaren Treppenanlage im Wiener Alsergrund, sie wurde erst durch diesen Roman zu einer Sehenswürdigkeit. Im Jahre 1907 wurde eine Sackgasse zwischen Währinger Straße und Liechtensteinstraße Strudlhofgasse genannt, nach dem dort früher existierenden "Strudlhof" eines sonst nicht weiter bedeutenden Bildhauers und Malers namens Peter Strudl, und gleichzeitig wurde beschlossen, den Höhenunterschied zwischen beiden Straßen durch eine Stiegenanlage zu überbrücken, dies geschah im Jugendstil 1910. Und genau an dieser Stelle kommt es in diesem Roman zu kunstvoll durchwirkten Knotenpunkten.
"Nun endete die Straße. René stand am Beginn der Stufen. Stangeler kannte seine Vaterstadt verhältnismäßig wenig und diese Gegend hier fast gar nicht. Nächtliche Exkursionen, die er, ebenso wie seine Schwester Etelka, jedoch allein, schon damals nicht selten unternahm, führten ihn immer wieder nur in die Bars und Cafés des ersten Bezirkes, also der inneren Stadt, oder in die Artisten-Lokale der seinem Elternhause nahegelegenen Praterstraße. Die kleine Überraschung, welche Stangeler jetzt am oberen Ende der 'Strudlhofstiege‘ empfand, passte in seinen romantischen Kram, setzte gleichsam das I-Pünktchen noch auf seine ganze Stimmung, welche durch den geringen Anlass eine unverhältnismäßige Steigerung erfuhr. Hier schien ihm eine der Bühnen des Lebens aufgeschlagen, auf welchen er eine Rolle nach seinem Geschmacke zu spielen sich sehnte, und während er die Treppen und Rampen hinabsah, erlebte er schnell und zuinnerst schon einen Auftritt, der sich hier vollziehen könnte, einen entscheidenden natürlich, ein Herab- und Heraufsteigen und Begegnen in der Mitte, durchaus opernhaft.“
Und das ist durchaus nicht zuviel versprochen. Genauso wird es in diesem Roman geschehen, wenn auch nicht die Personen und ihre persönlichen Wirren im Mittelpunkt stehen, sondern die Treppen und Rampen der Strudlhofstiege, die das alles gleichgültig und gelassen mitansehen und ins Überpersonale hinein protokollieren. Es ist fantastisch, wie hier ein Text weitaus klüger ist als sein Autor. Dass der Verlag C.H. Beck in seinem Jubiläumsprogramm zum 250-jährigen Bestehen diesen Roman neu herausgebracht hat, mit einem sehr suggestiven topografischen Essay zu den Wiener Schauplätzen und einem ehrfürchtigen kurzen Nachwort von Daniel Kehlmann – das ist zweifellos eine zeitlos glückliche Entscheidung.
Heimito von Doderer: „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“ Jubiläumsausgabe. Mit einem topografischen Anhang von Stefan Winterstein und einem Nachwort von Daniel Kehlmann.
Verlag C.H. Beck, München 2013. 943 Seiten, 28 Euro