Natürlich, ein altes Manuskript ... Oh nein, so simpel wie Umberto Eco in seinem weltberühmten Semiotik-für-Dummies-Schmöker "Der Name der Rose" haben die Autoren es sich hier nicht gemacht. Hier dreht sich die Handlung nicht einfach nur um ein altes Manuskript, seine Bedeutung und die Suche danach, sondern: Um ein altes Manuskript, seine Übersetzung und seine Bearbeitung durch den Übersetzer, um ein altes Buch und zwei bis sieben Personen, die einen Autor suchen und die Liebe finden und den Tod, was sonst? Aber von vorn.
Der Leser schält "S.", das Gemeinschaftswerk von J.J. Abrams und Doug Dorst, aus der Zellophanhülle, in der er es gekauft hat, und vor ihm liegt zunächst ein stabiler anthrazitgrauer Schuber, verschlossen durch ein Siegel - übrigens die einzigen Bestandteile, die den tatsächlichen Titel und auch die beiden Autoren benennen. Wer das Siegel erbricht, zieht eine eindrucksvoll dicke Scharteke heraus, Leineneinband und Titelgestaltung ganz Mitte des 20. Jahrhunderts. Und diese Scharteke trägt unübersehbar Gebrauchsspuren.
Damit nicht genug: Alles deutet darauf hin, dass dem gutgläubigen Käufer in der aufwendigen Verpackung ein viel gelesenes Bibliothekshündchen angedreht wurde: von dem Aufkleber mit der Standort-Signatur auf dem Rücken über den Stempel "Leihexemplar" auf dem Vorsatzblatt bis zu den Ausleihstempeln hinten im Band. Die Seiten sind auch ganz vergilbt, viele von ihnen sind bekritzelt, was dem bibliothekarischen Hinweis "Dieses Buch ist pfleglich zu behandeln" Hohn spricht. Zu allem Überfluss scheint das Buch den Titel "Das Schiff des Theseus" zu tragen, und als Autor wird ein V. M. Straka genannt. Offenkundig liegt hier ein schwerer Ausnahmefehler in Herstellung oder Auslieferung vor. Von wem stammen wohl all die Postkarten, alten Fotos, Zeitungsausschnitte, Briefe, verblichenen Kopien und bekritzelten Servietten, die einem beim Blättern entgegenpurzeln? Müsste man das nicht zurückgeben? Man beginnt, nach dem Kassenbon der Buchhandlung zu kramen ...
Aber keine Sorge, unten auf der allerletzten Seite, ganz winzig, in - geschätzt - Schriftgröße Nonpareille beruhigt ein langer Copyright-Vermerk: alles nur Spaß. Das Buch mit dem Titel "S." ist 2013 im Original in den USA erschienen, und die deutsche Übersetzung von Tobias Schnettler und Bert Schröder 2015 bei Kiepenheuer und Witsch in Köln. Es folgen jede Menge Copyright-Vermerke für verwendete Illustrationen et cetera. Puh.
Tatsächlich wird all dies kaum jemandem passieren, denn es gibt ja die Rückseite des erwähnten Schubers, und da steht alles drauf: Warum das "Schiff des Theseus" für zwei junge Menschen an einer US-amerikanischen Uni zum Mittel des Austauschs und der Annäherung wird, dass ein großes Geheimnis den Roman und seinen Autor V. M. Straka umgibt, dass es um den tödlichen Kampf zwischen undurchschaubaren Mächten geht, und wie die beiden Autoren das alles gemeint haben. Als "Liebeserklärung an das geschriebene Wort" nämlich.
Aber lesen wir doch mal rein in den Roman von V. M. Straka, in dem ein Mann ohne Gedächtnis auf ein rätselhaftes Schiff verschleppt wird. Wobei das leichter gesagt ist als getan, das Reinlesen. "Das Schiff des Theseus" beginnt mit einem Vorwort und Anmerkungen zur Übersetzung von jemandem namens F. X. Caldeira, erster Satz: "Wer war V. M. Straka?" Damit ist tatsächlich das größte der vielen großen Rätsel in diesem Labyrinth von Verweisen benannt. Hat man sich durch F. X. Caldeiras ebenso entschiedene wie persönlich gefärbte Auseinandersetzung mit allerlei Gerüchten um Strakas Existenz durchgebissen, Gerüchte von, wie es heißt, "Sabotage, Spionage, Verschwörung, Unterwanderung, Diebstahl und Mord", beginnt endlich das erste Kapitel.
Ein wahrer Irrgarten
Das Durchbeißen ist allerdings auch für geübte Vorwort-Leser erschwert. Denn gleich beim Vorwort geht es ja schon los mit den Randnotizen der beiden Jungakademiker. Es handelt sich um die Studentin Jennifer und einen, wie sich bald herausstellt, ganz gemein relegierten Doktoranden, dessen Name noch für eine Weile ein weiteres Geheimnis bleibt:
"Bei Fund bitte in Arbeitszimmer B19 abgeben Zentralbibliothek, Pollard State University".
"Hey - ich hab deine Sachen beim Einsortieren der Bücher gefunden. (Sieht aus, als hättest du es eilig gehabt!) Ich hab ein paar Kapitel gelesen u. war begeistert. Da du das Buch offensichtlich für deine Arbeit brauchst, wollte ich es dir aber nicht vorenthalten. Ich besorg mir meine eigene Ausgabe! - Jen"
"Hier - Wenn es dir gefallen hat, solltest du es zu Ende lesen. Ich brauche sowieso mal eine Pause. (Wenn du fertig bist, leg es ins letzte Regal im Südmagazin.)"
"Danke! Hab den Rest in einem Zug durchgelesen - Wow. So gut hat mir schon lange kein Buch mehr gefallen (u. Literatur ist mein Hauptfach!) - Ich fand die vielen Rätsel super - das Buch, Straka, alles. Ich hatte wohl wirklich mal eine Ablenkung nötig."
"Liebe Studentin der Literatur: Wenn das für dich eine ,Ablenkung' war, hast du nicht genau genug gelesen. Möchtest du's noch mal versuchen?"
"Ich hab ein paar Randbemerkungen eingefügt, damit du siehst, wie genau ich gelesen habe. Ach, übrigens: In Bezug auf FX. Caldeira hast du was Wichtiges völlig übersehen."
"Dass er ein kompletter Spinner ist? Der Meinung sind nämlich so gut wie alle ernst zu nehmenden Straka-Kenner. Und falls du meinst, 'Caldeira' war Straka, der sich als sein eigener Übersetzer ausgegeben hat - auch das wurde schon ausgiebig diskutiert."
"Vielleicht würde man lieber mit dir diskutieren, wenn du nicht so herablassend wärst. Sayonara - Jen"
"Tut mir leid, ehrlich. Ich habe mit ein paar Randbemerkungen geantwortet. Würde gerne deine Meinung hören."
Gesagt (beziehungsweise geschrieben), getan. Die Marginalien der beiden zieren praktisch jede Seite von Strakas "Schiff des Theseus". Sie sind liebevoll ausgeführt in zwei deutlich unterschiedenen Handschriften und in mehreren Farben, welche die Lektüredurchgänge sortierbar machen. Das ist auch nötig, denn es gibt mehrere Möglichkeiten, sich der ganzen Geschichte zu nähern. Leser mit übermenschlicher Selbstbeherrschung lesen erst Strakas ganzen Roman samt Caldeiras Fußnoten, dann den ersten Durchgang der Anmerkungen, den zweiten und so weiter. Alle anderen werden versuchen, sich ihren eigenen Weg durch diesen Irrgarten zu bahnen, und wer mag, kann ja auch immer wieder von vorn anfangen.
Tatsächlich ist Jennifer, genannt Jen, etwas an Caldeira aufgefallen, das den Anstoß gibt, über Strakas Werk und Leben neu nachzudenken, und tatsächlich verhält es sich mit Straka und Caldeira auch ganz anders, als der Straka-Nerd Eric (so heißt er, der rausgeschmissene Doktorand) und der Rest der Fachwelt bisher vermuteten. Eine Fachwelt übrigens, in der Straka-Exegeten einander mit niederträchtigsten Kabalen in die Quere kommen und dabei von Mächten eingespannt werden, die nicht nur vor Desinformation, sondern auch vor Mord und Totschlag nicht zurückschrecken.
All das erfährt der Leser von "S." in den Schichten von Eric-Jennifer-Randnotizen, die wiederum ebenso auf der Lektüre des Straka-Texts wie auf den Fußnoten des rätselhaften Übersetzer-Herausgebers basieren. Wie sich zeigt, handelt es sich bei den teils irritierend sprunghaften Anmerkungen um ein System von Codes und Referenzen, in denen Caldeira offenkundig mit dem Autor in Kontakt zu treten versucht. Einem Autor wohlgemerkt, der angeblich drei Jahre vor Erscheinen dieses, seines letzten Romans Ende der vierziger Jahre bei einem Fenstersturz (natürlich) in Prag umgekommen sein soll. Einem Autor zugleich, von dem Caldeira schreibt, er habe zu den einflussreichsten Literaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört und mit seinen 19 Romanen Millionen von Lesern begeistert. Das schraubt die Lese-Erwartung in die Höhe. Und so beginnt das erste Kapitel von V.M. Strakas "Schiff des Theseus":
"Abenddämmerung. Das alte Viertel einer Stadt, dort, wo der Fluss ins Meer mündet. Ein Mann in einem dunkelgrauen Mantel geht durch die Straßen der Altstadt, ein Gewirr von gepflasterten Gassen, die auf den Hafen zulaufen und sich durch Stadtteile schlängeln, die sich zwar dem Geruch der Gewürze nach unterscheiden, deren traurige Baufälligkeit aber dieselbe ist."
Hier schreibt also V. M. Straka, der geheimnisumwitterte Weltstar der Literatur und der politischen Anprangerung, und sofort zeigt sich ein Problem des Buchs. Dass der Roman "Das Schiff des Theseus" nämlich in einem Stil verfasst ist, der zuweilen an die Prosa von Reiseführern gemahnt. "Gewirr von gepflasterten Gassen" ist da Pflichtfloskel, und doppelte Relativsätze stören keinen.
Aber vielleicht ist das ja die Absicht der beiden Autoren. Über Doug Dorst, der den Text geschrieben hat, muss man hauptsächlich wissen, dass er in Texas Kreatives Schreiben lehrt, ein paar literarische Preise und drei Mal die beliebte Quizshow "Jeopardy" gewonnen hat. Sein Œuvre umfasste vor "S." einen Roman, betitelt "Alive in Necropolis" und eine Sammlung von Erzählungen, "Surf Guru". 2009 traf Dorst einen Mann mit einer Idee: J. J. Abrams. Dieser Name steht für ganz große Erfolge in der globalen Unterhaltungsindustrie. Abrams hat nicht nur Kult-Serien wie "Lost" und "Fringe" entwickelt oder produziert, er hat auch den Klassiker "Star Trek" für ein junges Publikum wiederbelebt und bei "Mission: Impossible" Regie geführt. Und er ist auch der Regisseur, Co-Produzent und Co-Drehbuchautor des neuen "Star Wars"-Films, der diesen Winter in die Kinos kommen wird und alle Einspielrekorde brechen soll.
Ein ganzer Roman mit Randnotizen
Irgendwann, so erzählt J. J. Abrams in Interviews, habe er beim Warten am Flughafen ein Taschenbuch gefunden, darin die Notiz, man möge das Buch lesen und irgendwo wieder aussetzen, damit weitere Leute es lesen könnten. Auch in Deutschland wurden mit dieser Variante sozialverträglicher Altpapierentsorgung unter dem Namen "Book Crossing" Versuche unternommen. Aber Scherz beiseite. Abrams bekennt, der Fund habe in ihm die Erinnerung ans College wachgerufen, an die Randnotizen in den Bibliotheksexemplaren. - Wer kennt sie nicht, die studentischen Scharmützel in den Ausleihexemplaren akademischer Fachliteratur? - Daraus, so Abrams weiter, sei in ihm der Gedanke entstanden, ob es möglich sein könnte, nur in diesen Randnotizen einen Austausch unter Büchernarren, ja, eine ganze Romanze zu erzählen.
Eine enge Mitarbeiterin von Abrams, Lindsey Weber, brachte Doug Dorst ins Spiel. Von 2009 an entwickelten sie gemeinsam das Konzept und alle Einzelheiten von "S." Dorst wiederum erzählt, er habe sich bei der Arbeit an "S." sowohl vom Shakespeare-Problem als auch von der Kontroverse um B. Traven inspirieren lassen, von zwei Fragen also: Wäre ein berühmter Autor überhaupt in der Lage gewesen, die Werke zu schreiben, die unter seinem Namen erscheinen? Wer war es dann, und wenn ja, wie viele?
B. Traven, der höchstwahrscheinlich deutschstämmige Romancier und Anarchist, der seine Romane von Mexiko aus in die Welt sandte, ohne ein einziges Mal leibhaftig in Erscheinung zu treten, schimmert bei Dorsts und Adams' Erfindung V. M. Straka deutlich durch. Gleiches gilt für eins von Travens berühmtesten Büchern, "Das Totenschiff". Auch das "Schiff des Theseus" segelt die Meere ohne erkennbares Ziel, und vergleichbar Travens staatenlosem Helden Gales ist der namen- und gedächtnislose Held von Strakas Roman den Umständen ausgeliefert, gegen die er sich kaum zur Wehr setzen kann. Und ebenso verbindet das Thema der skrupellosen Ausbeutung von Mensch und Planet im Zeichen des Kapitalismus Straka mit Traven. Im Unterschied zu Traven beschert Straka - beziehungsweise sein Übersetzer-Herausgeber Caldeira - dem Irrfahrer, der als Namen irgendwann das Initial S. zugeteilt bekommt, allerdings die Gelegenheit, sich selbst in seinen Taten neu zu finden, zu erfinden, zu erschaffen. Denn hey, das ist Amerika, wo die Abenteuer gut ausgehen, und zwar mit einem großen Knall, nicht mit dem Wimmern des Ertrinkenden.
Aber was hat es nun auf sich mit dem Schiff der Verdammten, auf dem S., schanghait in einer ihm unbekannten Stadt, sich als unfreiwilliger Passagier wiederfindet? Es ist insofern ein Schiff des Theseus, als es sich, wie im antiken philosophischen Paradoxon, fahrend immerfort in Teilen verliert und neu erschafft. Ein Bild der Literatur, des Geschichtenteilens, auf jeden Fall. Vielleicht sogar des Book Crossings?
"Und das ist der Schlüssel, begreift er jetzt, das, was den Sinn und Zweck all ihrer Mühen deutlich macht, auf dem Schiff und in El-H - und auf der Obsidian-Insel und in Budapest, Edinburgh, Valparaíso, Prag, Kapstadt, Valletta, der Winterstadt und an tausend weiteren Orten. All diese Tinte, all das Pigment, all die verzweifelten Bemühungen - sie sind sinnvoll, weil Geschichten an sich zerbrechlich und vergänglich sind, leicht auszulöschen oder zu beseitigen oder zu zerstören, und etwas Schützenswertes. Und wenn man sie nicht schützen kann, dann sollte man sie freilassen und in den Kreislauf zurückführen.
Mit dem schwarzen Zeug zu schreiben heißt, etwas zu erschaffen und gleichzeitig wieder zu erwecken. Wir schreiben mit dem, was die vor uns geschrieben haben."
Mit dem schwarzen Zeug zu schreiben heißt, etwas zu erschaffen und gleichzeitig wieder zu erwecken. Wir schreiben mit dem, was die vor uns geschrieben haben."
Zusammen mit der Mannschaft des Schiffs, deren Mitglieder zugenähten Munds mit der Tinte ihres eigenen schwarzen Bluts dem Schreibzwang frönen, ergibt das sich selbst erschaffende und erneuernde und immer vom Zerbrechen bedrohte Schiff ein Bild der Dichterexistenz und des Dichterdienstes an der Literatur von geradezu umwerfender Überdeterminiertheit. Und das ist kein Einzelfall.
Gerade in den teils höchstpersönlichen, flirtenden, auch schimpfenden, teils aber auch philologisch-klugscheißenden Randnotizen von Jen und Eric wird deutlich, wie im Romantext selbst alles zu Allegorie, Metapher und Symbol wird, wie alles, was vorkommt, auf etwas anderes im Roman, vor allem aber auch außerhalb verweist. Ein Vorgehen, das man allenfalls religiösen Offenbarungen oder sonst wie ideologischen Texten ohne Murren durchgehen lassen würde.
Die Aufzählung von Städten wie Edinburgh, Valparaíso oder Prag, die in diesem Roman durchgängig ungefährer Handlungsorte nirgends sonst vorkommen, dient beispielsweise lediglich dazu, an eine geheimnisvolle Gruppe hinter Straka zu erinnern, mithin das zu benennen, wozu der Roman nicht zuletzt ein Vehikel ist. Und zwar für seinen mysteriösen Autor Straka wie für seinen Übersetzer F. X. Caldeira, bei dem es sich in Wahrheit um eine Übersetzerin und Co-Autorin handelt - wie auch für Abrams/Dorst, die ihren romantischen Helden Jennifer und Eric damit Futter zur Lösung des Rätsels hinwerfen.
Jen und Eric übrigens sind am Ende, was keine Überraschung ist, auf gutem Weg, über das Böse in Gestalt von Erics korruptem Ex-Doktorvater zu triumphieren, und sie landen, was ebenfalls keine Überraschung ist, gemeinsam im Bett und in Prag. Dass dieses sich in den letzten zwei Jahrzehnten von der "Mutter der Städte" zur Lieblings-Station der alle Preise verderbenden US-amerikanischen Jeunesse dorée auf Grand Tour entwickelt hat, wird allerdings gnädig kaschiert. Das Liebesnest der beiden scheint ein ungeheiztes Loch mit Tea-Facility zu sein. Was Gelegenheit zu weiteren Einträgen bietet, obwohl sie sich ja nun alles auch direkt sagen könnten.
"Was ist, wenn wir das Buch wirklich nicht schreiben können? Was ist, wenn wir unsere Zeit komplett vergeuden?"
"Wir vergeuden unsere Zeit nicht - egal, ob wir in diesem Jahr eine Spur zu Vaclav finden -, egal, ob wir es jemals tun. Wir sind zusammen, und ich liebe dich. Punkt. Ende."
"Wir wissen nicht, ob es das Ende ist."
"Das Gegenteil wissen wir auch nicht. Warum nicht dran glauben?"
Schwachstellen wie die erwähnten sind in "S." kein Fehler, sondern Merkmal eines Erzählens auf mehreren Ebenen, das sich um eigentlich literarische Qualität nicht schert. Diese ist aber auch gar nicht vonnöten. "S." will gar keine Höhenkammliteratur sein, obwohl die Anklänge an Nabokov, aber auch den großen Diplom-Weltbibliothekar Borges und seine Lehrlinge im Reich der Metafiction Italo Calvino und Umberto Eco unüberhörbar sind. "S." will gute Unterhaltung bieten, keine Frage. Interessanter ist die Frage, welcher Art diese wäre.
"S.", die Schnitzel- und Schnipseljagd zwischen Buchdeckeln, sieht zwar aus wie ein Buch im besonders traditionellen Sinne, trägt aber eher alle Züge eines postmodernen Gesamtkunstwerks. (Ein Begriff, mit dem über das Gelingen ja noch nichts gesagt ist.)
Autoren und Verlag gleichermaßen präsentieren den Lesern mit berechtigtem Stolz das teure Design und den herstellerischen Aufwand, die bunten Karten und wie echt wirkenden Briefe und die anderen Aufschreibesysteme, welche die Teilnahme am großen Spiel ermöglichen sollen. Und selbstredend gibt es auch ein offizielles Blog-Forum, whoisstraka.wordpress.com, auf dem J. J. Abrams und Doug Dorst die Fäden weiterspinnen. Beispielsweise werden alle 19 Romane von V. M. Straka vorgestellt, weitere Tipps zur Zusammensetzung der Gruppe "S." gegeben, wichtige Motive erläutert und fleißig Hinweise auf Internet-Plattformen wie Twitter oder Tumblr verlinkt, wo neue Rätselaufgaben zu finden sind.
"S." ist geplottet wie ein Mystery-Thriller, wie eine Serie auf Netflix oder HBO - oder wie eine andere neuere Entwicklung renditeträchtigen Einfallsreichtums junger Kreativer im Dienste der Erschaffung weltumspannender Reiche digitalen Vergnügens. Die Poetologie von "S.", dieser "Feier des Analogen", wie J. J. Abrams es selbst nennt, ist die des digitalen Hyperlinks, und die DNA dieser "Liebeserklärung an das geschriebene Wort" hundertprozentig die eines elaborierten Computerspiels. Es braucht weniger Arbeitsspeicher auf dem Rechner als Grand Theft Auto, ist allerdings deutlich schwerer. Unzweifelhaft wird es, mit seinem durchgehend vierfarbigen Druck und all den Beilegern etwa so aufwenig produziert wie ein 500-seitiges Mitmach-Bilderbuch, zum Sammlerstück avancieren. Die Zukunft der Literatur