Archiv

Buch der Woche
Mit psychologischem Scharfblick und einem Hang zum Fantastischen

Für Marie NDiaye sind Familiengeschichten ein "Kondensat der Welt": voller Auf- und Ausbrüche, Tragödien und Grotesken. Auch ihr neuer Roman "Ladivine" wartet wieder mit vielen überraschenden, verstörenden Wendungen auf.

Von Christoph Vormweg |
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Die preisgekrönte französische Schriftstellerin Marie NDiaye (picture alliance / dpa)
    Dass Marie NDiaye eine außergewöhnliche Schriftstellerin ist, hat als erster der Verleger der legendären "Editions de Minuit" erkannt: Jérôme Lindon, der Entdecker von Samuel Beckett, Alain Robbe-Grillet, Jean Echenoz und vielen anderen. Er veröffentlichte gleich das erste Manuskript, das ihm die 17-jährige Schülerin eigenhändig von Orléans nach Paris brachte. Seitdem sind 30 Jahre vergangen. Und das einstige "Wunderkind" der französischen Literatur zaubert weiter - dank der hervorragenden Übersetzungen von Claudia Kalscheuer auch auf Deutsch. Denn Marie NDiayes Markenzeichen, die Verschränkung von schonungslosem psychologischem Scharfblick und fantastischen, übernatürlichen Elementen ist nicht zur Masche verkommen. Im Gegenteil: Das Kippeln zwischen Realem und Irrealem, das Abgleiten in befremdliche, wahnhafte, oft alptraumhafte Szenarien wird mit jedem Buch subtiler. In ihrem Roman „Ladivine“ holt uns Marie NDiaye wie gewohnt im Alltäglichen ab: in der scheinbar gesicherten Welt halbwegs wohlhabender Existenzen in Frankreich und Deutschland. Und damit sitzen die meisten Leser mit im Boot, was zuweilen ziemlich ungemütlich sein kann. Denn am liebsten seziert Marie NDiaye bürgerliche Lebenslügen, die sich nach Jahren in Sprengsätze verwandeln und ganze Familiengebäude ins Wanken bringen.
    "Sie wurde wieder zu Malinka, kaum hatte sie den Zug bestiegen, und das war für sie weder erfreulich noch unangenehm, denn es fiel ihr schon lange nicht mehr auf.
    Aber sie wusste es, weil es ihr dann nicht mehr gelang, spontan auf den Vornamen Clarisse zu reagieren, wenn selten einmal jemand, der sie kannte, den gleichen Zug nahm und sie mit ihrem Vornamen Clarisse ansprach oder grüßte, woraufhin sie verwirrt, einfältig und vage lächelnd dastand und dadurch eine für beide peinliche Situation schuf, und diese aufzulösen, indem sie das Guten Tag, das Wie geht’s einfach und scheinbar natürlich erwiderte, darauf kam Clarisse Rivière in ihrer leichten Verstörung dann nicht.
    Genau das, ihre Unfähigkeit, auf den Vornamen Clarisse zu reagieren, hatte sie begreifen lassen, dass sie Malinka war, sobald sie in den Zug nach Bordeaux stieg.
    Sie wusste, sie hätte sich sofort umgedreht, wenn jemand sie mit diesem Namen angesprochen hätte, wenn jemand ihr Gesicht gesehen oder von weitem ihre zierliche Gestalt, ihren stets etwas unsicheren Gang erkannt und gerufen hätte: Hey, Malinka, hallo.
    Das konnte nicht passieren - aber war das wirklich sicher?
    Es war nicht unmöglich, dass eines Tages eine Frau ihres Alters auf sie zukäme und mit freudiger Überraschung fragte, ob sie nicht jene Malinka aus ihrer Vergangenheit sei, aus jenem Collège in jener Stadt, deren Namen und Aussehen sie, Clarisse, vergessen hatte.
    Und Clarisse würde nicht anders können, als zu lächeln, nicht vage, sondern selbstbewusst und unerschrocken, und sie würde weder verwirrt noch einfältig dastehen, obwohl sie die Frau, die da vorgäbe, sie als Malinka gekannt zu haben, ihrerseits mit Sicherheit nicht erkennen würde. (…) - bevor ihr einfiele, welche Gefahr für sie darin lag, wieder zu Malinka zu werden, und sei es nur gelegentlich.
    Sie wagte nicht daran zu denken, was sie dann würde tun müssen."
    So könnte auch ein Agententhriller beginnen oder das Drama einer untergetauchten Terroristin, die das ewige Versteckspielen nicht mehr aushält. Doch hat Clarisse Rivière alias Malinka nicht gegen das geschriebene Gesetz verstoßen. Ihr Psychodrama gründet in der Entscheidung für ein ungestörtes Wohlstandleben mit Ehemann und Kind. Ohne den französischen Namen Clarisse meinte sie, dieses Leben nicht führen zu können. Denn der Name Malinka hätte auf ihre Mutter verwiesen. Und ihre Mutter ist schwarz, während sich bei Clarisse alias Malinka der blasse Teint ihres nie gekannten Erzeugers durchgesetzt hat.
    "Ihre Liebe zu ihrer Mutter war für sie eine herbe, unmöglich herunter-zubringende Speise. Diese Nahrung zerfiel ihr im Mund zu bitteren Teilchen, um sich dann wieder zusammenzusetzen, und es war ohne Ende, dieser Klumpen schlechten Brots, der von einer Backe in die andere wanderte, dann die weichen, übelschmeckenden Brocken, die aus ihrem Mund einen Abgrund der Scham machten."
    Das Unbewusste in Aufruhr versetzt
    Marie NDiaye variiert hier Motive, die auch in ihrem preisgekrönten Roman "Drei Frauen" auftauchen und die ihre eigene Biografie betreffen: Motive wie die alleinerziehende Mutter, den unbekannten Vater, den verinnerlichten Rassismus. Bestechend ist vor allem ihre klare, stilsichere, oft in genau austarierten Perioden operierende Sprache für diffuse, abgründige seelische Zustände. Marie NDiaye versteht es dabei, jedes neue Detail über das Doppelleben der Clarisse Rivière alias Malinka so zu setzen, dass die Spannung beständig steigt. Einmal im Monat besucht sie in Bordeaux heimlich ihre Mutter, die sie vor ihrem Ehemann, dem erfolgreichen Autohändler Richard, und ihrer Tochter verleugnet. Die mütterliche Hautfarbe ist für sie eine Schande.
    "An die Zeit, als sie noch Malinka hieß, erinnerte sie sich verschwommen, in Schwarzweiß und voll erstarrter Gesichter, wie an einen belanglosen alten Film, in dem Malinka und ihre Mutter nicht die Hauptrollen spielten, sondern die beiden Nebenfiguren, die dazu dienten, ein anderes, interessanteres Mädchen mit einer anderen, interessanteren Mutter zur Geltung zu bringen.
    Es kam ihr vor, als habe sie von Anfang an, noch bevor sie verstehen und sprechen konnte, gewusst, dass Malinka und ihre Mutter für niemanden zählten, dass dies so war und man sich darüber nicht zu beklagen hatte, dass sie dunkle Blumen ohne Lebensberechtigung waren, dunkle Blumen."
    Clarisse alias Malinka besitzt - wie es heißt - "tiefe, unerschöpfliche Reserven an Kälte", um ihre Familienidylle in der Kleinstadt Langon abzuschotten. Doch genau diese Kälte, diese seelische Unnahbarkeit zerstört die kleine Familie. Ihre Tochter, die sie nach ihrer Mutter Ladivine genannt hat, wandert ins ferne Berlin aus, wo sie Französisch-Lehrerin wird. Und auch Ehemann Richard verlässt sie und zieht ans andere Ende von Frankreich, nach Annecy. Zurück bleibt Clarisse alias Malinka, finanziell abgesichert, aber so endlos einsam wie ihre Mutter. Mit dieser Ironie des Schicksals begnügt sich Marie NDiaye jedoch nicht. Sie dreht die Schraube noch weiter. Denn nach einigen Jahren bändelt die Vereinsamte mit "Pechvogelgesicht" Freddy an. Diesmal will sie alles richtig machen und stellt den Neuen ihrer Mutter vor. Und wirklich: Das ganz banale allseitige Glück scheint endlich Einzug zu halten. Wäre da nicht die Reizbarkeit von Loser Freddy, der Malinka im Alter von 54 Jahren ersticht. Für ihre Tochter Ladivine, die im Mittelpunkt des zweiten Romanteils steht, ist Richard der wahre Schuldige an der Tragödie. Denn er hat Clarisse allein und schutzlos in Langon zurückgelassen. Für Ladivine gibt es nur ein Ziel: alles besser zu machen als ihre Eltern. Mit ihrem deutschen Ehemann Marko, einem Uhrenfachmann, bildet sie ein scheinbar vorbildliches Paar: ohne Geheimnisse voreinander und in liebvoller Eintracht mit den beiden Kindern. Doch das Drama von Langon holt Ladivine auch in der Ferne ein:
    "Warum nur erinnerten sie die über die Maßen süßen Ausdünstungen der leichten, duftigen, gelblich-weißen Lindenblüten immer an das, was sie nicht gesehen, aber sich tausendmal vorgestellt hatte, dass gewaltsam und in Strömen vergossene Blut ihrer Mutter im Wohnzimmer ihres Hauses in Langon, das nie zuvor irgendetwas Gewalttätiges oder Anstößiges gesehen hatte?
    (…)Das unschuldige und dennoch schwer und hart riechende Blut ihrer Mutter, die sich nicht hatte hüten können vor dem Bösen, ([… war) plötzlich zu etwas Beunruhigendem, Rätselhaftem geworden - so viel Blut in einem so schmächtigen, so wenig fleischlichen Körper! Und dass Clarisse Rivières Blut sich derart mit den Charlottenburger Frühlingsdüften vermischte, dass das Unheil von Langon langsam bis ins unberührte Herz von Berlin vordrang, das ließ sie von Kopf bis Fuß erzittern vor Entsetzen - denn wo blieb dann noch ein Ausweg?"
    Mit der Perspektive von Ladivine drängt das Irreale, das Fantasierte in Marie NDiayes Roman. Es nimmt bedrohliche Formen an, als sie mit Marko und den Kindern zum ersten Mal die Sommerferien auf einem anderen Kontinent verbringt: in Afrika. Die Heimat ihrer nie kennengelernten Großmutter bringt Ladivines Unbewusstes in Aufruhr. Magische Kräfte scheinen auf sie zu wirken. Ein brauner Hund beginnt, sie zu verfolgen. Ist er ein Bote? Oder will er sie als Beute? Oder beschützt er sie nur?
    Spielen mit den Elementen des Mystery- und Horrorthrillers
    Auch zeigt sich der in Berlin immer so verständnisvolle, sanfte Marko plötzlich von einer anderen Seite. Bei ihm bricht nach dem Diebstahl der Koffer und beim Anblick des maroden Hotels die typisch westliche Panik vor der Dritten Welt durch. Aber es kommt noch schlimmer: Wellington, ein junger Museumsführer, lockt sie zum Abendessen in ein mysteriös anmutendes Haus. Dort verwechselt man Ladivine mit einer anderen Frau, die an einer prunkvollen Hochzeit teilgenommen hat. Ermuntert von einer wissbegierigen Alten beginnt sie, von eben jener Hochzeit, auf der sie gar nicht gewesen ist, zu erzählen. Das Erlebte und das Halluzinierte beginnen sich zu überblenden. Das geht so weit, dass Ladivine in der folgenden Nacht zu sehen meint, wie Marko den Museumsführer Wellington von ihrem Hotelbalkon in der achten Etage stößt. Hat sie es nur geträumt oder ist es wirklich geschehen? Schließlich führt sich Marko tatsächlich wie der Täter auf. Mehr noch: Das Personal beseitigt am nächsten Morgen vor dem Hotel einen großen Blutfleck.
    Marie NDiaye spielt hier geschickt mit Elementen des Mystery- und Horrorthrillers. Minutiös und mit viel psychologischem Feingespür beschreibt sie, wie sich Ladivines Blick auf Marko, den scheinbaren, plötzlich so selbstbewussten Täter verändert. Ihre Berliner Gewissheiten geraten auf Schleuderkurs. War etwa auch ihr deutsch-französisches Familienidyll nur eine schöne, zusammengeträumte Illusion?
    "Marko warf Ladivine Blicke zu, in denen sie Zärtlichkeit spürte, den Willen, auch sie in die Sphäre der Freiheit, der Lebenskraft hinüberzuziehen, die sich um sein neues, befreites Wesen herum entwickelte, doch sie wandte sich ab und schaute hinaus, das Herz voller Groll.
    Und wenn Wellington doch gekommen war, um ihnen etwas anzutun?
    War das nicht das Wahrscheinlichste?
    Hatte sie denn im übrigen nicht gespürt, dass der Junge sie hasste, dass er ihnen eine Freundschaft vorspielte, die möglicherweise sorgfältig berechneten Missetaten vorausging?
    Marko bedachte auch die Kinder mit Zeichen der Aufmerksamkeit, winkte ihnen mit den Fingern oder lächelte ihnen über den Rückspiegel breit zu. [...]
    Daniel wand sich unter dem Sicherheitsgurt, er kicherte, als werde er gekitzelt, und in seiner hohen Stimme, seiner Babystimme, die er zum Spaß wieder annahm, klang eine fragende, etwas ängstliche Note an.
    Annika schrie vor Lachen, wie sie vor Schmerz geschrien hätte, getrieben vom dunklen Stachel einer skandalösen und für sie unverständlichen sexuellen Anmutung.
    Das war es also, was Marko provozierte, so weit erlaubte er sich zu gehen, um sich selbst loszusprechen - er zog die Kinder ganz nah an sein unglückliches, schuldiges Bewusstsein heran, um sie dann mit ihrem verzweifelt verzückten Einverständnis mit in seine Verderbtheit zu reißen.
    Oder war sie es, Ladivine Rivière, die einen kranken Blick auf die Dinge richtete?"
    Marie Ndiayes Roman "Ladivine" ist ein hochkomplexes Familiendrama, in dem sich die Perspektiven vielsagend kreuzen. Die Schuldzuweisungen widersprechen sich. Glückserwartungen, Ängste, Gewissensbisse und seelische Wunden variieren je nach Person. Jeder hat seine eigene Sicht auf die Familiengeschichte. Doch nur die Frauen sind in der Lage, den mysteriösen, immer wieder auftauchenden Hund wahrzunehmen. Liegt es an den afrikanischen Genen? Das bleibt offen. Genauso wie die Frage, ob auf der Familie vielleicht ein Fluch lastet.
    Nach Clarisse alias Malinka und Ladivine sowie kurzen Einschüben aus der Perspektive der Großmutter und ihrer unbekannten Enkelin Annika rückt am Schluss Richards Sicht auf die Ereignisse in den Vordergrund. Für ihn, den Vater Ladivines, bleibt alles ein Rätsel. Trotz der Innigkeit seines Begehrens für Ehefrau Clarisse hat ihn ihre Undurchdringlichkeit in die Flucht geschlagen: In die Arme einer anderen Clarisse, die Autos verkauft wie er. Doch ist Richard damit aus dem Schneider?
    Marie NDiaye versteht es, auch hier die Ungewissheit zu schüren. Höchst beklemmend schildert sie die Leere in Richards Leben, seine wachsende Trostlosigkeit, die er im Luxusambiente seines Appartements vergessen wollte. Warum hat sich bloß der erwachsene, widerborstige Stiefsohn bei ihnen eingenistet, der immer mehr verfettet? Warum geht Richard einem Betrüger auf den Leim? Sind es Strafen dafür, dass er seine Frau verlassen hat? Ist es vielleicht seine während des Afrika-Urlaubs spurlos verschollene Tochter Ladivine, die hier Rache an ihm nimmt? In jedem Fall: Das Vergangene quält Richard mit jedem Tag mehr.
    Schreiben wie mit dem Seziermesser
    "Das einzige Mal, als er Clarisse Rivière wiedergesehen hatte, am Tag der Beisetzung seines Vaters, hätte er sein Leben in Annecy beinahe aufgegeben, seine Wohnung, die er mit so ängstlicher Sorgfalt einrichtete, Clarisse und den noch ganz jungen Trevor, die erst im vergangenen Jahr bei ihm eingezogen waren, seine Arbeit, wo es für ihn bestens lief.
    Das alles hätte er beinahe aufgegeben. […]
    An jenem Tag hatte sie ihm gegenüber alle Gesten einer unversehrten, von Rachsucht freien Liebe an den Tag gelegt.
    Sie hatte sich ihm in die Arme geworfen, sie hatte ihn fest an sich gedrückt.
    Er hatte die Berührung dieses festen, schlangengleichen Körpers, den er so sehr geliebt hatte, wiedererkannt.
    Und während er voller Unbehagen, fast furchtsam auch die Abwesenheit in ihrem unscharfen, unpersönlichen Blick wiedererkannte, ebenso wie das, was er nicht anders als Kälte nennen konnte und was ihn vor Ratlosigkeit und Beklemmung erstarren ließ, da hatte er zum ersten Mal den tiefen Drang verspürt, die wahre Clarisse Rivière zu sehen.
    Denn das war diese Frau nicht, wie er jetzt erst verstand.
    Er hatte die wahre Clarisse Rivière nie gesehen oder versucht zu sehen, er hatte nie verstanden oder verstehen wollen, dass er mit ihrem bloßem Anschein zusammenlebte.
    Und nun sprang ihm die Wahrheit ins Gesicht, nun war er bereit, nach Langon zurückzukehren, um dort zu leben.
    (...) Aber da waren sie in der kleinen Wohnung seiner Mutter in Toulouse angekommen, und die böse Alte hatte ihnen die abstoßende Geschichte von dem Hund erzählt, der den Vater Rivière angefressen haben sollte, wobei sie unterstellte, daran sei Richard schuld, wie an allem, was in der Welt schieflief, seit er geboren war.
    Immer war alles Richards Schuld.
    Er hatte sich müde, angeekelt, bitter gefühlt, lauter Gefühle, die er in Annecy nicht mehr verspürte. Und dann hatte er sich dunkel, jedoch mit einem Widerwillen, der deutlich genug war, um ihn davon abzubringen, zu Clarisse Rivière zurückzukehren, an eine andere Geschichte mit einem Hund erinnert, die sehr weit zurücklag, in der Zeit, als Ladivine noch ein Säugling war, und daran, wie Clarisse Rivière und ihr Vater sich seltsam einig gewesen waren, gewissermaßen auf seine Kosten, denn ihm, Richard, hatte es in diesem Moment an irgendetwas gefehlt, über das sein Vater zu verfügen schien."
    Marie (Deutschlandfunk - Büchermarkt - Von Martin Ebel - 2013-03-29 16:10 schreibt wie mit dem Seziermesser. Schonungslos leuchtet ihr Roman "Ladivine" die höchst diffuse Kampfzone Familie aus. Immer bleiben Rechnungen offen, drängen Erinnerungen an Hass und Erniedrigung hoch, die noch Jahrzehnte später das Handeln diktieren können. Doch operiert Marie NDiaye nie plakativ. Immer sucht sie das Detail. Gerade die Genauigkeit ihrer psychologischen Beschreibungen macht ihre Prosa so mitreißend. Denn alle Figuren sind Gefangene ihres familiären Kontextes. Der Prozess gegen den Mörder von Clarisse alias Malinka bildet den Schlusspunkt, auf den der Roman "Ladivine" zusteuert. Wer wird sich dort begegnen? Wird der Prozess, wie Richard immer prophezeit hat, die Familie endlich "heilen"?
    Marie Ndiaye: "Ladivine", Roman,
    aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 445 Seiten, 22,95 Euro.