"Es muss im Schreiben 50 Wege geben, und 50 Wege, diese zu verlassen" - heißt es in einem Gedicht von Teresa Präauer, das dem aktuellen Heft der "Neuen Rundschau" beiliegt, welches "Manifesten für eine Literatur der Zukunft" gewidmet ist. Nimmt man das schlicht und einfach als einen Appell für Vielfalt, dann bieten zwei Romane deutscher Schriftsteller in diesem Frühjahr anschauliches Material dazu, wie ein vergleichbarer Stoff sehr unterschiedlich bearbeitet werden kann.
Es geht in beiden Fällen - nicht nur, aber auch - um den Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien. Martin Mosebach hat die beginnenden Auseinandersetzungen zwischen Moslems und Christen in Bosnien in seinem Roman "Das Blutbuchenfest" als Gegenbild zum selbstgefälligen und dekadenten Treiben einer deutschen Bürger- und Boheme-Gesellschaft inszeniert. Er hat eine aus Bosnien stammende Reinemachefrau in den Mittelpunkt gestellt, die in Frankfurt bei ihren betuchten Kunden für Ordnung sorgt, während sie die Katastrophe ihrer Familie in der Heimat aus der Ferne verfolgen muss, aber nicht verhindern kann.
Junges Kriegsopfer beim Überlebenskampf
Martin Kordic hingegen, Lektor und einige Jahre lang Redakteur der Zeitschrift "Bella triste", konzentriert sich in seinem schmalen Debut "Wie ich mir das Glück vorstelle" ganz und gar auf den eng umgrenzten Erfahrungsraum eines Jungen, der mitten im zerstörten Land, im Umfeld einer zerschossenen Stadt, hinter der man Mostar vermuten darf, um das Überleben ringt.
Während Martin Mosebach mit sozusagen altmeisterlicher Virtuosität zwischen Frankfurt und Bosnien hin und her schaltet, um seine Leser am Ende mit einem explosionsartigen Finale zu konfrontieren und sie fassungslos zurückzulassen, setzt Martin Kordic von Beginn an auf den Schock des Bürgerkriegs und auf eine bewusst deutlich konstruierte Erzählhaltung. Eingefasst von einer rudimentären Rahmenerzählung, einem kurzen Prolog, in dem ein anonymer Erzähler berichtet, dass er in einem einsamen Haus in den Bergen lebt, wo ihn durch gelegentliche Besucher Geschichten, Gerüchte und Hörensagen erreichen, besteht sein Roman vor allem aus den Notizen eines Jungen, der von seinem Krüppel-Dasein und Kriegsopferleben in und um Mostar berichtet.
Protagonist vollzieht charakterliche Wandlung
Der Junge heißt Viktor, ist schief und krumm aus dem Mutterleib geschnitten worden und trägt seit Langem eine Rückenspinne, ein Korsett, das ihm die Haut wund scheuert. Er berichtet vom Untergang seiner Familie, vom kurzen Leben in einem von Nonnen geführten Heim für verwaiste Kinder und vor allem davon, wie er sich gemeinsam mit einem Leidensgenossen alleine und ohne den Schutz von Erwachsenen durchschlagen muss, ständig auf der Suche nach Lebensmitteln, nach Dingen, die man zu Geld machen kann, nach einem Unterschlupf. Viktor erzählt von einem Platz, der einer Form der Hölle ziemlich nahe kommt. Genauer: Er schildert, was ein solcher Ort aus den Menschen macht, die ihm ausgeliefert sind.
Das ist die Grundspannung dieses Romans: Wie ein Junge, dem zwar die Formeln vertraut sind, in denen sich seine Familie stets über das Leben verständigt hat, etwa das Nebeneinander von "Mudschis und Kreuzern", also von Christen und bosnischen Moslems, der aber dennoch nur über die beschränkte Sicht eines Kindes verfügt, sich fraglos den Regeln anpasst, die nach dem Untergang der Zivilisation einzig noch das Überleben garantieren können: Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Brutalität.
Wie er aus negativen Erfahrungen heraus, weil er selbst ja nur ein Schwächling, ein behinderter und oft verspotteter Krüppel ist, lernt, die Schwächen anderer auszunutzen oder diese anderen gar zu opfern. Wie er lernt, sich mit einem anderen verkrüppelten Jungen und zeitweise auch mit einem Mädchen, dass sich auf den Straßen prostituiert, zu einer Überlebensgemeinschaft zusammen zu tun, die nicht auf Gefühlsbindungen, sondern nur auf Nützlichkeit beruht. Wie fremd dieser Junge sich dabei selbst zu werden scheint, wird deutlich, wenn in den Notizen, die er macht, gelegentlich von der dominierenden "Ich" zu einer "Er"-Perspektive geschaltet wird - so als stünde er vor sich selbst wie ein Präparat vor den Augen eines Insektenforschers.
Aus der Perspektive eines Kindes
Die Problematik dieser Anlage des Romans - darauf ist gelegentlich schon hingewiesen worden - liegt in der Frage nach der Angemessenheit des kindlichen Blicks als Filter für ein Menschheitsdesaster. Ist diese Fiktion geeignet, ein Geschehen auszuleuchten, dessen Dimensionen weit über den Horizont eines Kindes hinausweisen? So kann man durchaus fragen, aber damit verfehlt man den Roman, denn Martin Kordic hat kein Buch über den ganzen Bürgerkrieg, sondern nur über dessen Auswirkungen auf einen einzigen jungen Menschen geschrieben.
Seine Kunst besteht über weite Strecken darin, die Veränderungen und die Verhaltensweisen des Jungen dadurch zu beleuchtet, dass er ihn in knappen Sätzen Handlungen schildern lässt, deren Fragwürdigkeit nicht explizit wird, aber dennoch ständig spürbar ist. Wo der Junge noch keine Sprache hat, regiert das moralische Vakuum, in dem er überleben muss, ein Vakuum, in dem der Alltag zusammenschrumpft auf kurze Listen von Habseligkeiten, so wie etwa auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Günter Eichs berühmtem Gedicht "Inventar". Naiv ist das nicht, vielmehr klar und direkt, als Antwort auf ein Leben, dass Viktor sich nicht ausgesucht hat, aber trotzdem bis zum Ende durchstehen muss.
Martin Kordic: Wie ich mir das Glück vorstelle
Roman, Carl Hanser Verlag
München 2014, 176 Seiten
Roman, Carl Hanser Verlag
München 2014, 176 Seiten