Sie schaukeln auf rostigen Seelenverkäufern nach Lampedusa, schwimmen durch griechische Grenzflüsse, durchqueren slowenische Wälder, werden als blinde Passagiere in Lastwagen nach England geschmuggelt oder in Italien zum Schein verheiratet. Mehr als 276.000 Menschen sind allein im vergangenen Jahr illegal in die EU eingereist. Das wäre nicht möglich gewesen ohne Schlepper- und Schleuserbanden, die mit dem Menschenschmuggel Milliarden verdienen. Es sei das einträglichste Geschäft gleich nach dem Drogenhandel, schreiben Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci. Allerdings gebe es einen entscheidenden Unterschied:
"Wenn sich ein LKW voller Flüchtlinge in der Wüste verirrt und die Kunden schon gezahlt haben, wen kümmert es? Wenn ein Schiff mit 45 Kunden absäuft, die ihr Ticket vorher gelöst haben, wen kümmert es? Wenn ein Afghane in einem griechischen Wohnmobil zwischen Patras und Bari entdeckt wird, wen kümmert das schon? Doch wenn dir zwischen Bissau und Dakar eine Ladung Kokain abhandenkommt, dann kriegst du ein echtes Problem. Schnee ist nämlich mehr wert als Flüchtlinge, als Menschen. Weil es in der Welt vor Menschen, Flüchtlingen, Kunden nur so wimmelt, die nichts anderes wollen als nach Europa. Von der wertvollen Ware Mensch gibt es mehr als genug."
Der Kriminologe Di Nicola und der Journalist Musumeci stießen bei ihren Recherchen auf eine florierende Dienstleistungsbranche. Die Schleuser locken ihre Kunden – wie legale Reiseunternehmen - mit maßgeschneiderten Offerten. Da gibt es Basis-Angebote für den kleinen Geldbeutel, gewissermaßen die Backpacker-Variante mit Abenteuergarantie - holprige Straßen, lange Fußwege, wachsame, also ungeschmierte Zollbeamte inklusive. Wer viel Geld hat, kann aber auch einen Business-Class-Flug buchen, mit gut gefälschten Papieren und am Ankunftsort geparkter Limousine. Selbst Ratenzahlungen sind möglich.
Dass solche Angebote angesichts der bitteren Realität vieler Flüchtlingsschicksale geradezu zynisch erscheinen, ist vielen der professionellen Fluchthelfer offenbar gar nicht bewusst. Sie vergleichen sich mit dem biblischen Moses und sehen sich als Helfer, die den Weg zu Freiheit und Wohlstand ebnen, als würden sie geradezu uneigennützig agieren und nicht von der Not der Flüchtlinge profitieren - wie der sogenannte Missionar" von Kampala. Oder der ägyptische Schleuserchef, der großen Wert auf seinen guten Ruf legt:
"Ich sag es noch mal, wir müssen uns vor allem gut um unsere Kunden kümmern. Unser Ruf darf nicht leiden. Wir müssen alles tun, damit es keine Zwischenfälle gibt, aber manchmal kann man einfach nichts machen. In manchen ägyptischen Dörfern sähen sie mich lieber tot als lebendig. Wenn ihr da hingeht und sagt, dass ihr mich kennt, dann bringen sie euch um. Auf der Stelle. Soll ich euch sagen, warum? Weil Boote manchmal untergehen. Und Leute sterben. Die Eltern der Jungs, die ertrunken sind, wollen mir am liebsten das Fell über die Ohren ziehen."
Spiel mit Träumen und Sehnsüchten
Andrea di Nicola und Giampaolo Musumeci ist es gelungen, skrupellose Menschenhändler zum Reden zu bringen. Sie waren dabei, wenn neue Kunden angeheuert wurden oder Flüchtlingen der ersehnte Grenzübertritt gelang. Die Interviewpassagen von Schleusern, Flüchtlingsbootkapitänen und anderen Profiteuren der Auswanderungsbewegung gen Westen ergänzen sie durch Beobachtungen, atmosphärische Schilderungen und faktengestützte Einsichten. So erfährt man, wie aus einem kroatischen LKW-Fahrer die Nummer Eins im Schleusergewerbe werden konnte, wie viel ein Fluchtwilliger bezahlen muss, wenn er beispielsweise von der Türkei nach Italien oder von China in die USA ausreisen will. Und wie die hochflexiblen und absolut effizient arbeitenden Schleusernetzwerke funktionieren, die jährlich Hundertzausenden das Tor zur Festung Europa öffnen. Dabei versäumen die Autoren es nicht, die Flüchtlinge selbst zu Wort kommen zu lassen, die auf ihrer langen Reise oftmals erniedrigt, beleidigt und bedroht werden – vor allem, wenn noch nicht die volle Summe für die sogenannte Dienstleistung geflossen ist. Dann werden aus Reiseunternehmern plötzlich Entführer, die ihre Kunden einschließen, erpressen und bewachen. Die Autoren zitieren einen Flüchtling aus China.
"Wir kamen nicht auf die Idee, Gewalt anzuwenden, weil die Entführer uns sagten, dass sie bewaffnet seien (...). Einmal schlugen sie einen von uns brutal ins Gesicht, nur weil er laut geredet hatte (...). Ich erinnere mich, dass sie uns gleich, nachdem wir in der Kellerwohnung angekommen waren, sagten, dass uns die Europäer verkauft und uns jetzt die gekauft hätten, die uns dorthin gebracht haben. (...) Sie setzten uns unter Druck und sagten, wenn unsere Familien nicht schnell genug zahlen würden, würden sie uns weiterverkaufen und die Frauen müssten als Prostituierte arbeiten. Ich war noch eine Woche in den Räumlichkeiten in Bologna eingeschlossen, bis meine Eltern das Geld besorgt und nach Italien geschickt hatten. Dann setzten sie mich am Bahnhof aus."
Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci offenbaren in ihrem Buch nicht nur die Struktur und Funktionsweise von Schlepperorganisationen. Sie zeigen auch, wie diese illegale Branche mit den Träumen und Sehnsüchten ihrer Kunden spielt, mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, ohne Krieg, Gewalt, Armut. Die Werbeversprechen scheitern spätestens an den realistischen Chancen im jeweiligen Ankunftsland. Die Autoren bieten in ihrem Buch tiefe Einblicke in die Praktiken, Routen und Profite eines menschenverachtenden Geschäfts. Ohne zu moralisieren, machen sie deutlich, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht. Doch die Kooperationsbereitschaft auf internationaler Ebene sei nicht überall gleichermaßen ausgeprägt. Vor allem in den Herkunftsländern genieße der Kampf gegen Schleuser nicht unbedingt die höchste Priorität, stellten sie bei ihren Recherchen fest.
Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci haben ein erhellendes Buch geschrieben, das mit seinen Hintergrundinformationen einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die europäische Flüchtlingspolitik liefert.
Buchinfos:
Andrea Di Nicola/ Giampaolo Musumeci: "Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen", Übersetzung: Christine Ammann, Verlag Antje Kunstmann, 206 Seiten, Preis: 18,95 Euro, ISBN: 978-3-956-14029-7
Andrea Di Nicola/ Giampaolo Musumeci: "Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen", Übersetzung: Christine Ammann, Verlag Antje Kunstmann, 206 Seiten, Preis: 18,95 Euro, ISBN: 978-3-956-14029-7