Benedikt Schulz: Sportliche Großereignisse sind immer schon Nutzflächen für politische Ziele gewesen. Der Prototyp dieser Instrumentalisierung in der Moderne sind sicherlich die 11. Olympischen Sommerspiele in Berlin 1936 mit Nazideutschland als Gastgeber. Die Nationalsozialisten waren ursprünglich gegen Olympia in Deutschland - zu weltoffen, zu liberal. Aber die Chance sich nach Außen zu zeigen, als friedlicher und verlässlicher Partner, die haben die Nazis dann doch genutzt. Besucher aus aller Welt konnten im August 1936 ein Berlin bestaunen, das mit dem nationalsozialistischen Deutschland nicht viel zu tun hatte - für genau 16 Tage. Eine Diktatur im Pausenmodus. Der Historiker und Publizist Oliver Hilmes hat über die 16 Tage gewissermaßen Tagebuch geführt und die Geschichten von vollkommen unterschiedlichen Menschen verfolgt. Die Atmosphäre der Stadt während der Olympiade eingefangen. "Berlin 1936. 16 Tage im August" so heißt das Buch. Es ist in diesen Tagen erschienen. Mit Oliver Hilmes habe ich gesprochen. Meine erste Frage: Wie widersprüchlich ist diese Metropole Berlin in 16 Tagen der Olympischen Spiele?
Oliver Hilmes: Sehr widersprüchlich und man bekommt Vieles gar nicht zusammen. Man erlebt eine Stadt im Ausnahmezustand, Berlin ist festlich geschmückt, es sind Zehntausende Touristen in der Stadt und zur gleichen Zeit ist Berlin natürlich nach wie vor das Epizentrum einer brutalen und menschenverachtenden Diktatur. Es geschehen zeitgleich, während Zehntausende Menschen fröhlich feiern, fürchterliche Dinge und das bekommt man natürlich gar nicht zusammen.
"Viele kuriose Befunde"
Schulz: Wie widersprüchlich ist auch die Bevölkerung oder die Begeisterung der Bevölkerung, die ja "Heil Hitler!" brüllen vor allem am Ende der Sommerspiele, aber auch für den US-Amerikaner Jesse Owens jubeln, der als Schwarzer der unumstrittene Star der Olympiade ist, aber gleichzeitig den Nazis ein großer Dorn im Auge.
Hilmes: Auch das gehört zu den vielen kuriosen Befunden, die man mit Blick auf diese Olympischen Sommerspiele feststellen kann, dass natürlich die Begeisterung für Hitler und für das Dritte Reich wirklich sehr groß ist und zur gleichen Zeit aber auch Jesse Owens der Superstar schlechthin ist und Jesse Owens Erfolge den Nationalsozialisten natürlich gar nicht passen. Aber gleichwohl wird er von der Bevölkerung gefeiert. Auch das ist ein scheinbarer Widerspruch, ja.
Schulz: Sie folgen in Ihrem Buch den Spuren ganz unterschiedlicher Menschen, unter anderem Thomas Wolfe, Schriftsteller und bekennender Berlin-Fan, der als einer der wenigen hinter die Fassade der Nazis blicken kann. Sie erzählen aber auch ganz beiläufig kurze Einzelschicksale, die mit der Olympiade so direkt nichts zu tun haben: Schicksale von Transvestiten, von Selbstmördern und dubiosen Lokalbesitzern. Warum war das alles wichtig für Ihr Gesamtbild dieser Olympischen Spiele in Berlin?
Hilmes: Ich wollte ein Buch über die Olympischen Spiele schreiben, ohne ein Sportbuch zu schreiben. Ich wollte keines dieser klassischen Sportbücher verfassen, wo irgendwelche Rekorde rauf und runtergebetet werden. Ich wollte sozusagen The-Making-of erzählen, wie man das heutzutage so schön sagt. Ich wollte hinter die Kulissen schauen. Ich wollte erzählen, wie es den Nazis gelungen ist, diese große Propaganda-Show so unglaublich effektvoll zu inszenieren. Und ich möchte dies aus den Blickwinkeln ganz vieler verschiedener, möglichst verschiedener Personen tun.
Wir haben zum Beispiel Sportler wie Jesse Owens oder Glenn Morris, das ist klar. Wir haben Künstler, Gustaf Gründgens, Thomas Wolfe, Marianne Hoppe, einige andere mehr. Wir haben natürlich auch Nazi-Größen wie Goebbels, Göring und Hitler, aber eben auch Personen von der Straße, Einzelschicksale, Menschen, die heute keiner mehr kennt. Das habe ich in den Archiven recherchiert. Und aus diesen verschiedenen Blickwinkeln setzt sich wie bei einem großen Puzzle-Spiel ein Gesamtbild dieser Olympischen Spiele zusammen. Wenn ich zum Beispiel eine ganz rührende und auch sehr traurige Geschichte über eine Transvestitin schreibe, dann hat das mit den Olympischen Spielen auf den ersten Blick nichts zu tun. Aber wenn man genauer hinschaut, lernt man natürlich ganz viel darüber, wie es war mit sexuellen Minderheiten oder mit dem Leben sexueller Minderheiten in einer brutalen Diktatur, und das ist wiederum schon ein Teil der gesamten Geschichte.
"Jedes meiner 16 Kapitel beginnt mit dem Wetterbericht"
Schulz: Sie erwähnen für jeden Tag die Wetterlage in Berlin in diesen 16 Tagen, die offenbar ziemlich durchwachsen ist. Warum war das auch wichtig für Ihr Buch?
Hilmes: Ja. Auch da möchte ich im Grunde mit den gängigen Bildern brechen. Denn wir haben ja scheinbare Vorstellungen davon, dass der Sommer '36, es muss ein Jahrhundertsommer gewesen sein. Denn wir kennen ja den Film von Leni Riefenstahl, wir kennen die vielen Aufnahmen, und man sieht immer einen blauen Himmel. Die Wahrheit ist aber, dass der Sommer '36 viel verregnet war, sehr verregnet war und viel zu kalt war, und darüber haben sich auch ganz viele Leute beklagt. Das habe ich anhand des offiziellen Wetterberichtes rekonstruieren können und auch damit ist ein Bruch verbunden. Ich will diese Wahrnehmung brechen, die wir durch die Bilder, die Leni Riefenstahl so unglaublich gekonnt in die Welt gesetzt hat, haben konnten. Andererseits ist natürlich der tägliche Wetterbericht - jedes meiner 16 Kapitel beginnt mit dem Wetterbericht ganz kurz und der Wetterbericht zieht uns ganz tief und ganz unmittelbar in das Geschehen rein. Denn wenn wir ehrlich sind: Das Wetter ist doch das, was uns alle am frühen Morgen als erstes interessiert, und warum soll man nicht ein Kapitel mit dem Wetterbericht beginnen.
Schulz: Was war das für ein Bild, was die Nationalsozialisten von Berlin und von Deutschland überhaupt nach außen hin transportieren wollten?
Hilmes: Man wollte sich als weltoffenes, liberales, tolerantes Land präsentieren. Man wollte im Grunde die "Vorurteile" - wir wissen natürlich heute, dass das alles zutreffend war -, die Vorurteile, die damals über Deutschland bestanden, sollten ad absurdum geführt werden. Dazu haben sich Berlin und das Dritte Reich "schön bunt" angemalt. Zum Beispiel der "Stürmer", jene widerliche Hetzschrift von Julius Streicher, die im ganzen Reich verkauft wurde, aber natürlich auch in Berlin, ist während dieser 16 Tage zur Bückware degradiert worden. Das heißt, sie wurde nicht mehr öffentlich angeboten. Auch die "Stürmer"-Kästen - das waren Vitrinen, die überall im Stadtbild vertreten waren - wurden abmontiert oder anderweitig benutzt. Man wollte also auf jeden Fall verhindern, dass die ausländischen Gäste - denn an die hat sich das Ganze ja auch vornehmlich gerichtet - irgendetwas von dieser brutalen Diktatur mitbekommen.
"Man hätte es besser wissen können"
Schulz: Sie schreiben in Ihrem Buch richtigerweise, dass ja nur ein paar Kilometer entfernt zeitgleich das KZ Sachsenhausen errichtet wurde, und in Marzahn wurde ein Zwangslager errichtet, in das Sinti und Roma kurz vor Beginn der Olympischen Spiele interniert worden sind. Man musste also nicht weit reisen, um hinter die Fassade der Nazis blicken zu können. Warum sind trotzdem so viele auf diese große Show reingefallen?
Hilmes: Ja, ja. Das ist wirklich schockierend. Man hätte es besser wissen können, zumal zum Beispiel Widerstandsorganisationen, die ins Ausland geflüchtet sind, haben Propagandamaterial in das Reich geschmuggelt. Es gab zum Beispiel eine Broschüre, die hieß "Das schöne Deutschland". Da war vorne irgendwie ein röhrender Hirsch oder irgendwas zu sehen, und wenn Sie das aufgeklappt haben, entdeckten Sie eine Landkarte des Deutschen Reiches damals, in der alle damals bekannten Konzentrationslager, SA- und SS-Gefängnisse und Folterkeller eingezeichnet waren, mehrsprachig. Und diese Broschüre wurde natürlich subversiv in das Reich geschleppt, in das Reich geschmuggelt und wurde auch verteilt. Das heißt, man hätte es auch als Ausländer besser wissen können. Aber viele, viele Menschen haben einfach nicht genau hingeschaut, wollten es auch nicht genau wissen, weil - und das wissen wir ja auch aus vielen Zeitzeugenberichten - diese Gäste einfach eine verdammt schöne Zeit in Berlin hatten. Das ist leider auch die Wahrheit.
"Mit den Olympischen Spielen ist eigentlich die Machtübernahme der Nationalsozialisten abgeschlossen"
Schulz: Wie haben sich denn die Spiele nach innen ausgewirkt, wenn man jetzt mal auf den psychologischen Effekt schaut, den dieses Großereignis auf die deutsche Bevölkerung hatte?
Hilmes: Mit den Olympischen Spielen ist eigentlich die Machtübernahme und die Konsolidierungsphase der Machtübernahme der Nationalsozialisten abgeschlossen. Hitler hat ja im Frühjahr '36 seinen bis dahin größten außenpolitischen Coup gelandet: Er ist in das entmilitarisierte Rheinland einmarschiert. Und dann wenige Wochen später die Olympischen Spiele, und das war wirklich ein wahrer Siegesrausch, den das Land erfasst hat. Hitler saß mit den Olympischen Spielen wirklich fester im Sattel als je zuvor und insofern hatten diese Olympischen Spiele eine wirklich politische Dimension auch innerhalb des Reiches.
Schulz: Der Sport wird von Politikern, von Diktaturen missbraucht. Aber diejenigen, die im Sport was zu sagen haben, die lassen sich auch missbrauchen. Das hat es ja auch nach '36 noch gegeben, zum Beispiel in Peking 2008, oder denken wir nur an die russischen Winterspiele in Sotschi. Warum funktioniert das auch heute noch so gut wie vor 80 Jahren?
Hilmes: Na ja, das ist schwer zu sagen. Auch die Zeiten sind natürlich nicht gut vergleichbar. Das Dritte Reich oder Europa in den 30er-Jahren ist natürlich ein anderer Kontinent gewesen, als es heute der Fall ist. Aber ich glaube, was verbindend ist oder was zeitlos ist, ist die große Kraft und die große Macht, die große manipulative Kraft schön inszenierter Shows und schöner Bilder. Das ist wirklich eine Gefahr, die davon ausgehen kann, dass man sich damit über wirkliche Missstände hinwegtrösten lässt und dass man nicht so genau hinschaut, weil man eben durch diese manipulative Kraft der schönen großen Bilder wirklich an der Nase herumgeführt wird. Das hat 1936 sehr gut funktioniert und ich befürchte, dass das heute auch noch sehr gut funktionieren kann.
Schulz: Sie schreiben aber auch natürlich, dass die Sportfunktionäre 1936 sich haben missbrauchen lassen. Auch das ist ja heute noch immer der Fall.
Hilmes: Ja natürlich! Die Funktionäre 1936 waren im Grunde, wenn man auch auf die amerikanischen AOC-Funktionäre schaut, das Hitler-Freunde in großer Zahl. Da wurden Leute nach Deutschland geschickt, Unterhändler, die natürlich von den Nazis von vorne und hinten verwöhnt wurden, und die haben sich das gerne gefallen lassen. Das waren Freunde des Dritten Reiches. Die waren politisch nicht fernstehend. Die Olympischen Spiele 36 hätten ja auch sicherlich unter anderen Umständen gar nicht stattfinden können. Es kam da wirklich vieles zusammen, ja.
Schulz: Man kann beim Lesen dieser einzelnen, lose verwobenen Geschichten schon mal kurz vergessen, dass Sie ja eigentlich Historiker sind und dass man ein Sachbuch da vor sich liegen hat. Warum haben Sie für Ihr Buch einen solchen erzählerischen Ansatz gewählt?
Hilmes: Ich bin wirklich davon überzeugt, dass das zusammengehört. Ich bin Historiker qua meiner Ausbildung. Ich habe Geschichte studiert. Aber mein Beruf ist der eines Schriftstellers und ich schließe mich da eigentlich an eine Tradition an, die in Deutschland etwas in Vergessenheit geraten ist. Wenn man daran denkt: Zum Beispiel der zweite Literatur-Nobelpreis, der überhaupt je vergeben wurde, ging an Theodor Mommsen für sein Werk über die römische Geschichte, an einen Historiker. Der hat einen Literatur-Nobelpreis bekommen. Ich will natürlich jetzt nicht sagen, dass ich für Historiker den Literatur-Nobelpreis vorschlagen möchte, aber in dieser literarischen Tradition sehe ich mich, und das ist eine Tradition, die in Deutschland in Vergessenheit geraten ist, die aber in den angelsächsischen Ländern durchaus gepflegt wird. Da gehören historisch zuverlässige, saubere Recherche und die literarische Darstellung zusammen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.