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Buch und Boxkampf

Florian Havemann, ein Sohn des DDR-Dissidenten Robert Havemann, erzählt in "Havemann" sein Leben und das Leben vieler anderer Menschen aus dem väterlichen Umfeld und nennt dabei Ross und Reiter. Als Vorbild der Methode "Klatsch als Kunstprinzip" kann Jörg Schröder gelten, Enfant terrible der 68er-Kulturszene, dessen autobiografischer Rundumschlag "Siegfried" von 1972 etliche Unterlassungsklagen, Verfügungen und Kürzungen nach sich gezogen hat.

Von Florian Felix Weyh |
    Am 28. Oktober 1913 erschien folgendes Inserat in den "Lübeckischen Anzeigen":

    "Es sind mir im Laufe der letzten 12 Jahre durch die Herausgabe der "Buddenbrooks", verfasst von meinem Neffen, Herrn Thomas Mann in München, dermaßen viele Unannehmlichkeiten erwachsen, die von den traurigsten Konsequenzen für mich waren. (...) Wenn der Verfasser der "Buddenbrooks" in karikierender Weise seine allernächsten Verwandten in den Schmutz zieht und deren Lebensschicksale eklatant preisgibt, so wird jeder rechtdenkende Mensch finden, dass dieses verwerflich ist. Friedrich Mann, Hamburg."(FAZ v. 20.10.2001)

    95 Jahre später, am 7. Januar 2008, las man im "Spiegel" einen offenen Brief, gerichtet an eine bekannte deutsche Verlegerin. Darin die Worte:

    "[Ich] teile Ihnen jetzt mit, dass ich, seine Schwester, NICHTS von dem, was über mich geschrieben oder mir in den Mund gelegt wird, bestätige. Vielmehr handelt es sich um eine Mischung aus Lügen, Unterstellungen und dem Missbrauch familiärer Intimität." (Spiegel 2/2008 v. 7.1.08)

    Die Vorgänge scheinen sich zu gleichen, das Publikum feixt - und senkt den Daumen: Auf dem Schlachtfeld öffentlicher Aufmerksamkeit entrinnt einem Grundgesetz niemand: Wer sich wehrt, hat schon verloren! Über Friedrich Mann, den Onkel des späteren Nobelpreisträgers Thomas, lächelt heute die gesamte Literaturwelt - was nahm sich der Kerl wichtig, wo er doch die Ehre hatte, in einem Meisterwerk deutscher Feder unsterblich gemacht zu werden. Indes liegt der Fall bei Sibylle Havemann, der Briefeschreiberin im "Spiegel", vielleicht etwas anders. Keineswegs ist ausgemacht, ob der in der Erstausgabe 1100 Seiten umfassende Trumm "Havemann" ihres Bruders Florian den Parnass der Weltliteratur zu erklimmen vermag - oder ob er, wie Betroffene und Gegner sagen, eine supernarzisstische, egomane Kolportage darstellt, die alsbald, wenn sich die Wogen geglättet haben werden, dem Strom des Vergessens anheim fällt; spätestens dann, wenn die darin erwähnten Personen der Zeitgeschichte historisch verblasst sind. "Missbrauch familiärer Intimität" sticht in der Literatur allerdings kaum als Entrüstungsargument. Wer als Autor nicht die eigene Biografie plündert und sein Umfeld amoralisch ausbeutet, erringt nur selten einen Platz in der Literaturgeschichte; im Allgemeinen ist das Authentische auch das Haltbare. Es kommt darauf an, wie man es nutzt. Kunstvoll, literarisch verschlüsselt, formvollendet ... oder laut, auftrumpfend, provokativ.

    " Man schütte die Dreckkübel über mir aus, ich stinke gern ein bisschen - Hauptsache, wir spielen hier nicht auf privat- und persönlichkeitsrechtlicher Basis DDR und erfinden uns nicht feige noch einmal die Zensur, die wir in diesem Staate immer abschaffen wollten. Das sollte doch wohl unter uns Verdächtigern und Verleumdern ein bisschen zu sehr unter unserer Würde sein. Etwas mehr an Menschenwürde sollten wir aufbringen, als dass uns das groß kratze, wenn uns mal so ein kleiner Kläffer wie ich nun ans Denkmal pinkele. Ich muss doch bitten, meine Herren, meine Damen, entehren Sie sich nicht so, sich so leicht in Ihrer Ehre verletzt zu fühlen. Ehre, wem Ehre gebührt, und mir gebührt sie doch nicht, jedenfalls nicht so sehr, als dass man sich auf Ehrenhändel mit mir einlasse. Ich bin nicht satisfaktionsfähig. " (S. 259)

    Das ist vollmundig, zweifelsohne. Doch was ist das überhaupt, "Havemann", ein Buch oder ein Boxkampf? Ein Roman oder eine anderthalb Kilo schwere Schlagwaffe, mit der man Feinde niederstreckt? Es ist zuallererst, neutral gefasst, ein Dokument, freilich keines der Sorte, die es zu sein vorgibt; mit Zeitgeschichtsschreibung hat es wenig zu tun. Zwar erzählt hier einer der Söhne Robert Havemanns, des bekanntesten DDR-Dissidenten, sein Leben und das Leben vieler anderer Menschen aus dem väterlichen Umfeld nach, spürt seinen familiären Wurzeln hinterher, doch tut er das in einer derart radikalen Subjektivität, dass kein ernsthafter Historiker je eine Zeile davon als Quellenmaterial akzeptieren dürfte. Ob Biermann oder Brasch, Margot Honecker oder Nina Hagen, Erich Fried oder Rudi Dutschke, selbst die eigenen Eltern, Geschwister, Verwandten - sie alle, die prominenten wie die unprominenten Figuren des Buches, existieren nur durch die Brille Florian Havemanns. Es scheint, als sei sein Hausheiliger George Berkeley, jenen Begründer des philosophischen Subjektivismus im 18. Jahrhundert, der mit der Kurzformel "esse est percipi" ("Sein ist Wahrgenommenwerden") den Grundstein für alle späteren Stadien des Hyperindividualismus legte: Nur was ich wahrnehme, wird durch meinen Blick in seiner Existenz legitimiert. Noch krasser: Der Blick schafft Tatsachen, nicht die Tatsachen lenken Blicke auf sich.

    " Meine Welt besteht doch nicht nur aus beweisbaren Fakten, meine Welt besteht auch aus Annahmen, aus Eventualitäten, die sich mir aufdrängen, so sehr aufdrängen, dass ich dann von ihnen ausgehe, dass von ihnen mein Verhalten bestimmt wird. Die Wahrheit dieser Geschichten ist nicht unbedingt die der Fakten. Die Wahrheit ist meine Wahrheit. Mehr nicht. Und wer's glaubt, was ich zu erzählen habe, der wird seine Gründe haben zu glauben, was ich erzähle. Ich bin nicht dafür verantwortlich, was andere glauben, von dem glauben, was ich ihnen erzähle. Ich bin noch nicht mal dafür verantwortlich, was ich so glaube. " (S. 367)

    Einspruch, Euer Ehren (Havemann wirkt als ehrenamtlicher Verfassungsrichter im Lande Brandenburg, was er zu betonen nicht müde wird) - natürlich ist jeder Mensch verantwortlich für das, was er glaubt; noch verantwortlicher freilich für das, was er sagt. Denn er schafft damit ein Fundament, auf dem sich andere Menschen in ihrem Glauben, ihren Meinungen, ihren Bewertungen bewegen. Und durchs Hintertürchen des Schelmenromans, in dem es mit der Wahrheit nicht so genau genommen wird, passt Florian Havemann gewiss nicht. Sein Konvolut ohne Gattungsbezeichnung ist vieles - Abrechnung mit Lebenden und Toten, Portrait eines Unterdrückungsstaates, Sittenbild der "roten Aristokratie", also jener Funktionärsschicht, die weit über den normalen, realsozialistischen Verhältnissen schwebte, Polemik gegen die DDR-Opposition wie die westliche Linke, möglicherweise gar eine Schreibtherapie, - nur eines ist das Werk gar nicht: ironisch oder satirisch überhöht. An die Stelle solcher Distanz schaffender Stilmittel tritt die Distanz verringernde Selbstbezichtigung, ja Selbstzerfleischung:

    " Mein Problem ist der fehlende Leidensdruck wegen dem Zuviel an Problemen, sie alle aufarbeiten zu wollen, das gelänge doch sowieso nicht, das bliebe aussichtslos. (...) Ich streife den Kern meiner Probleme, des Problems, aus dem alle meine Probleme entstehen, aber ich streife es nur, ich wandele an meinen Abgründen entlang, ich überfliege sie, diese verlockenden Abgründe, ich schwimme leicht über meine Untiefen hinweg, ich habe damit kein Problem, sublimieren zu können. Und sollte es mir bei all dieser Verdrängung gelungen sein, sublim zu werden, umso besser. (...) Ich bleibe in Bewegung, auf der Flucht vor mir selbst, von einem Fettnäpfchen zum anderen eilend, von einer Peinlichkeit zur nächsten, gejagt von meinen vielen Leidenschaften, unstet, immer in Gefahr, mich zu verzetteln. " (S. 520)

    Dieser Absatz steht ziemlich genau in der Mitte des monströsen Buches, und wer es als Leser bis dorthin geschafft hat, kennt die Wehs und Achs des Autors schon reichlich: ein bald Sechzigjähriger, der sich Künstler nennt, doch von der Öffentlichkeit als solcher nicht anerkannt wird (das ist die schmerzliche Seite des Sein-ist-Wahrgenommenwerden-Prinzips). Ein Autor, Komponist, Maler, Theatermacher, der nur kraft eigener Behauptung existiert und diese darum gebetsmühlenartig wiederholt. Ein Verkannter und Verstoßener, der gleichzeitig mit sich selbst ins Gericht geht, seine Überheblichkeit - woher resultiert sie nur? -, seine Arroganz, den moralischen Rigorismus anprangert, die ihm ein Leben, so sieht er es, als Versager beschert haben. Aber warum ist der Leser nicht früher abgesprungen, hat ein Buch weggelegt, das schamlos eigene und fremde Intimitäten verrät, die schmerzende, zugleich verblendete Abrechnung mit einem berühmten Vater betreibt, und seiner Umgebung vorwirft, das Drama des begabten, wenngleich schnell entgleisten Kindes nicht erkannt zu haben, noch ihm hilfreich zur Seite gestanden zu sein? Warum tut man sich das an, 1100 Seiten lang? Weil Florian Havemann die schärfste Waffe aller Publizistik zückt, freilich eine nach literarischen und manchmal auch juristischen Konventionen verpönte: Klatsch als Kunstprinzip. Das ist eine Art Verbalpornographie für Intellektuelle, die an niedere Gelüste appelliert, wie es die verwandte visuelle Pornographie auch tut. Rücksichtslos Ross und Reiter zu benennen - oder wen man für Ross und Reiter hält -, ist freilich keine Pioniertat Havemanns, der Vorgang folgt einem Vorbild. Nur wenn man diese im Text gut versteckte Referenzebene kennt, kann man "Havemann" gattungsgeschichtlich einordnen und vielleicht ein bisschen begreifen, was da auf dem Papier vor sich geht - ohne sogleich Schmäh mit Gegenschmäh zu beantworten oder dem Autor psychische Fehlfunktionen zu unterstellen. Ein unscheinbarer Satz auf Seite 821 weist dem Kenner bundesrepublikanischer Literatur(betriebs)geschichte die Fährte:

    " Jörg Schröder hat das so formuliert: dass die Hand verdorren würde, die den Knopf drücken wollte, der den Dritten Weltkrieg zur Vernichtung der Menschheit in Gang setzt. " (S. 821)

    Der Inhalt des Satzes ist unwichtig, das Signal leuchtet vom Kopfende her: Jörg Schröder, Enfant terrible der 68er-Kulturszene, dreifacher Begründer und Liquidator des März-Verlags, hält bis heute einen Justizrekord. Gegen seinen autobiographischen Rundumschlag "Schröder erzählt: Siegfried" sind die meisten persönlichkeitsrechtlichen Prozesse der Nachkriegszeit geführt worden - angestrengt von Menschen, die von Schröder nicht unter ihrem Klarnamen vorgeführt werden wollten. Ein Narrenschiff ist Schröders Kulturbetrieb der 50er- bis 80er-Jahre, in dem sich Häme mit Eitelkeiten mischt, und seither weiß jeder, der es wissen will, dass es unter dem Lack der Hochkultur keineswegs glänzt. Mit der Emphase eines Spießbürgerschrecks zog Schröder die Bettdecke weg und zeigte nackte Tatsachen ... freilich "Tatsachen" in Florian Havemannscher Manier: Das Ich bestimmt auch schon bei Schröder das Sein, das Gehörte ist das Geschehene. Punktum.

    " Zum Berliner Beziehungsgeflecht gehörte auch Anne Duden, die bis 1979 im Rotbuch Verlag arbeitete. "

    schreibt Jörg Schröder 1998 in einem der Nachfolgebände seines berühmten "Siegfried", nunmehr als Kleinverleger im Abonnentensystem gegen Querschüsse aus der Justiz immunisiert.

    " Von ihr kam der Hinweis, mich um Florian Havemann zu kümmern, ein junges Genie, von dem ich unbedingt ein Buch machen müsse. Ich verabredete mich mit ihm im "Ciao", dem Italiener gegenüber der Schaubühne am Lehniner Platz. Florian brachte seinen Freund Thomas Brasch mit, beide waren sie Kinder prominenter Väter: Havemann regimefeindlicher Professor, Brasch regimekonformer Staatssekretär. Beide Söhne waren wegen ihrer Abkunft hochrangige DDR-Dissidenten und saßen gemeinsam drei Jahre im Knast. " ("Schröder erzählt: Sieben Sachen", 1998, S. 27)

    Hier sehen wir, zehn Jahre vor Florian Havemanns ichzentrierter Geschichtsschreibung, das Bauprinzip inklusive aller Schwachstellen vorgeführt. Der sechzehnjährige Florian Havemann war 1968 kein "hochrangiger DDR-Dissident" (so sieht er sich selbst auch nicht), er saß keine drei Jahre im Gefängnis, sondern vier Monate, und das auch nicht zusammen mit Thomas Brasch. Schröder kolportiert Gehörtes und bindet es, halbwegs plausibel, in seinen mäandrierenden Erzählstrom ein. Ein mündlicher Strom, das ist Hauptmerkmal dieser Prosa zwischen Belletristik und Autobiographie - und genau denselben Sound vernehmen wir in "Havemann" ebenfalls, inklusive sprachlicher Schludrigkeiten:

    " Mein Problem ist der fehlende Leidensdruck wegen dem Zuviel an Problemen. "

    Mit dem Genetiv, diesem grimmigen Unteroffizier der Schriftsprache, hat es Florian Havemann nicht so sehr - aber das ist ja Kennzeichen mündlicher Kommunikation, wie die ganzen 1100 Seiten einem unstrukturierten Kaminfeuermonolog gleichen, in dem der Erzähler seine Gedanken und Erinnerungen erst während des Vortrags verfertigt, und alles nur dazu dient, eine sich endlos hinziehende Nacht zu überstehen. Für den Erzähler birgt diese Konstruktion etwas Verlockendes. Sie enthebt ihn der Recherche - wie soll er sie am Kaminfeuer auch bewerkstelligen?- und des strengen Formgebungsprozesses. Die Worte fließen, sie werden nicht kanalisiert.

    " Florian wollte nach dem Vorbild der Brechtschen Arbeitsjournale seine Texte in Heften veröffentlichen und darin seine Gedanken zu Kunst, Architektur, Literatur und Gesellschaft versammeln. " (Schröder ebd.)

    kramt Jörg Schröder 1998 tiefer in seinen Erinnerungen.

    "Ich stelle mir etwas anderes vor", erklärte ich ihm, "eine richtige Geschichte zwischen zwei festen Deckeln, zweihundertvierzig oder auch vierhundert Seiten, Florian Havemann mit Nina Hagen im Sandkasten, Biermann beim Kaffeekränzchen im Camelot, Florian und Thomas im Knast, Erinnerungen an deine Jugend in Berlin als Sohn des Gegenpapstes im Arbeiter- und Bauernstaat." Nein, Florian wollte keinen autobiographischen Roman schreiben, bestand auf seinen Heften in billigster Aufmachung: "Schmale Bändchen, nur durch den Rücken geklammert!" Er ließ sich darin auch nicht von Thomas Brasch umstimmen. Ich gab es auf: "Also gut, meinetwegen, mach deine einfachen Arbeitsjournale, ich schicke dir einen Vertrag." (Schröder ebd.)

    Das sollte Jörg Schröder rasch bereuen. Das einzige Buch des nominellen Autors Florian Havemann vor dem jetzigen Werk, publiziert 1979 entgegen erster Askesebekundungen als aufwändiger Kunstband bei Zweitausendeins, wurde laut Verleger zum gigantischen Flop:

    " Noch nie und wahrscheinlich niemals wieder ist ein Titel so schlecht im "Versand der zweiten Kultur" verkauft worden. Ich glaube, nur dreihundert von den fünftausend Exemplaren gingen weg. So entstand das bis dato teuerste und unrentabelste Buch bei Zweitausendeins. " (Schröder ebd.)

    Aber es blieb etwas davon, und das entschuldigt unseren Ausflug in die vergleichende Klatschologie, mit dem sich nämlich das gigantische Missverständnis des "Havemann"-Projekts aufzeigen lässt. Es ist - wen wundert's? - auch noch achtzehn Jahre nach dem Mauerfall ein Ost-West-Missverständnis. Jörg Schröder gehört zu den Prototypen der bundesrepublikanischen Kulturgeschichte, er repräsentiert den Hofnarren der Nachkriegsgesellschaft, der in Fluxus-Manier polemisiert, karikiert, übertreibt, bei allem aber immer eine inszenierte Figur bleibt, die den geübten Medienprofi beweist. Dass Florian Havemann ihn früh nach seiner Flucht in den Westen kennen gelernt hat und nach langer Latenzzeit dessen strikt bundesrepublikanisches Skandalisierungsmodell bewusst oder unbewusst übernahm, befreite ihn keineswegs von seiner Ostbiografie und deren lebenslanger Verknüpfung mit anderen Ostbiografien. In "Havemann" wendet er schlicht das falsche Mittel auf den vielleicht richtigen Sachverhalt an, sich mit der "roten Aristokratie" seines Vaters wie mit dessen späterer DDR-Opposition auseinanderzusetzen. Denn auf diesem Feld ist Ernst und Genauigkeit gefordert, es geht um existenzielle Dinge, um heillos zerstörte Biografien, ja um zerstörte Menschen. Der Spaßguerillaansatz eines Jörg Schröder kippt hier ins Bösartige um. Gewiss, auch Schröder schlug heftige Empörung entgegen, doch wussten alle Beteiligten - auch die Prozessgegner - letztlich immer, dass sie an einem großen Spiel namens "Kultur- und Medienbetrieb" teilnahmen, das keine Toten hinterließ. Diese dilettantische Fehlannahme Havemanns, sich der historischen Größe seines Stoff gewachsen zu fühlen, indem er ihn möglichst intim auffasst, tritt mit jeder neuen subjektiven Wendung schärfer als Fauxpas ins Blickfeld. Da hilft auch keine rituelle Selbstkasteiung:

    " Der Mensch, das ist ein Dilettant, notgedrungen Dilettant - anders ist der Mensch nicht zu haben. Nicht mehr. Und der einzigste Unterschied zwischen meinem Großvater, meinem Vater und mir, der Unterschied, auf den ich stolz bin, der ist nur der, dass ich noch mehr Dilettant bin, selbstbewusst Dilettant bin, meinen Dilettantismus nicht hinter irgendeiner Art von Seriosität zu verstecken suche. Die Zeiten sind vorbei, wo der Mensch noch so tun konnte, als wäre er ein ernstzunehmender Vertreter von etwas. Ich habe einen Artikel über meinen Vater geschrieben und ihn dort in diesem Artikel als einen Dilettanten bezeichnet, seine geistige Produktivität als die eines Dilettanten charakterisiert - man hat mir dies sehr übel genommen, mich auch deshalb des Vatermords beschuldigt, aber wenn ich mir hier etwas zuschulden habe kommen lassen, dann das, dass ich nicht klar genug zum Ausdruck gebracht habe, es ist selber ein Dilettant, der hier spricht, der deshalb gar nicht den Dilettantismus als Vorwurf meinen kann, weil er doch selber zu dieser Gattung Mensch gehört. " (S. 31)

    Nein, "Havemann" ist literarisch wie moralisch auf fatale Weise missglückt. Fatal vor allem deswegen, weil das Buch als andere Gattung durchaus funktioniert, nämlich in Form der erwähnten Verbalpornographie: Schauvergnügen für Voyeure beweist immerhin ein Händchen für richtige Beleuchtungsverhältnisse. Den Geschmähten und Verleumdeten fehlt allerdings nicht nur die Vertröstung auf Weltliteraturehren; sie müssen sogar der erschütternden Tatsache ins Auge sehen, dass die Sogwirkung des Textes gerade aus ihrer Bloßstellung resultiert. Viele von ihnen sind tot und können sich nicht mehr äußern - Robert Havemann, Thomas Brasch, Rudi Dutschke, Jürgen Fuchs und andere -; die Lebenden müssen auf Leser hoffen, die entweder vom Stil ermüdet das Buch beizeiten weglegen oder so viel moralische Standhaftigkeit besitzen, sich den pornographischen Reizen zu verweigern. Das ist, der Rezensent gibt es unumwunden zu, nicht immer leicht. Die wirksamsten Stellen der Biermann-Pornographie etwa - was hat der böse Wolf so alles getan? - werden etliche Menschen mit hämischem Entzücken füllen und sie einen ehernen Rechtsgrundsatz vergessen lassen: Audiatur et altera pars - man höre stets auch die Gegenseite. Er gilt für den ehrenamtlichen Verfassungsrichter wie für den Autor Havemann, denn der hat eben nicht literarisiert, überformt, kunstvoll gestaltet, sondern petzt und schwadroniert. Das geht nicht gut, nein, das geht nicht gut. Aber immerhin: Der Autor ahnt es selbst:

    " Eine brutale Mimose ziehe sich warm an. Wer so austeilt, muss einstecken lernen. Wer Stein des Anstoßes sein will, darf sich nicht wundern, wenn er sich stößt. Der Unerbittliche kann nicht bitten, der Erbarmungslose kein Erbarmen erflehen. Der Schuldige sich nicht selber entschuldigen. Der Sprücheklopfer sich keine Erlösung erhoffen. " (S. 628)

    Florian Havemann: "Havemann"
    Suhrkamp Verlag, 1100 Seiten, 28,00 Euro