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Buch zur Wannsee-Konferenz
Rassistischer Wahn und politisches Kalkül

Hitler, Goebbels, Heinrich Himmler: Der Historiker Peter Longerich hat sich in der Erforschung der Biografien von NS-Größen einen Namen gemacht. In seinem neuen Buch hat er die Wannsee-Konferenz noch einmal neu betrachtet. Er will die gängige These widerlegen, die Konferenz sei der Startschuss für die Shoah gewesen - sie war vielmehr eine Bühne für Kompetenzgerangel und Machtkalkül aller Beteiligten.

Von Michael Kuhlmann | 14.11.2016
    In dieser Villa fand die sogenannte Wannseekonferenz zur "Endlösung der Judenfrage" am 20. Januar 1942 statt
    In dieser Villa fand die sogenannte Wannseekonferenz zur "Endlösung der Judenfrage" am 20. Januar 1942 statt (imago/McPHOTO )
    "Die Wannsee-Konferenz war eine Organisationskonferenz, die deshalb nötig wurde, weil vorher manches von den einzelnen Ressorts individuell bearbeitet worden war - es sollte eben koordiniert werden."
    So umriss es ein Jurist: der einst von den Nazis verfolgte Robert Kempner. Individuell bearbeitet - das hieß: Das Verbrechen war zur Zeit der Konferenz am 20. Januar 1942 längst im Gange - wie auch der Historiker Peter Longerich im ersten Teil seines Buches zur Wannseekonferenz betont. Denn mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 war der Entscheid zur massenweisen Ermordung von Juden faktisch schon gefallen: In den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten hinter der Ostfront mordeten SS, Besatzungsbehörden und Polizei parallel. Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts, hielt es für geboten, einzugreifen. Longerich schreibt:
    "Mit der Konferenz verfolgte Heydrich offenkundig die Absicht, seine Autorität als der für die Vorbereitung der 'Endlösung' zuständige Mann zu stärken - und den Eindruck zu erwecken, die inzwischen in Gang gekommenen Deportationen und Massenmorde seien Experimente, die sich in ein von ihm gesteuertes Gesamtprogramm einfügten." (S. 57)
    Dieses Programm stand im Zeichen eines Weltbildes, das Heydrich selbst kurz zuvor erläutert hatte:
    "Der Welt des Judentums, des Bolschewismus, des skrupellosen Profits, des Egoismus steht ein einiges Europa gegenüber, das den organischen Aufbau im Sinne sozialer Gerechtigkeit und im Geiste des nationalsozialistischen Gemeinschaftsbegriffs zum Ziele hat."
    15 Mittäter und Mitwisser des Massenmordes im besetzten Osteuropa hatte Heydrich für jenen Januarmorgen 1942 in die Villa am Wannsee eingeladen. Vertreter der zivilen Besatzungsbehörden im Osten, verschiedener Reichsministerien, der Polizei und des Sicherheitsdienstes. Das Protokoll dieses Treffens - im Faksimile wiedergegeben - kommentiert Longerich ausführlich.
    Kein Startschuss für die Shoah
    Heydrichs Gäste wollten nicht zuletzt das Terrain gegeneinander abstecken. Die SS beispielweise wollte sogenannte Halb- oder Vierteljuden aus Deutschland verschleppen; das Innenministerium war dagegen. Die Besatzungsbehörden in Polen wiederum drängten ehrgeizig darauf, dass das Morden bei ihnen zuerst beginnen möge. Gastgeber Heydrich selbst wollte an seiner besonderen Idee festhalten. Longerich schreibt:
    "Heydrich hatte in der Sitzung noch immer den Plan einer großen Deportationslösung vorgetragen, der im Wesentlichen erst nach Kriegsende zu verwirklichen gewesen wäre. Hinausgelaufen wäre er darauf, elf Millionen europäische Juden an die Peripherie des neuen deutschen Imperiums zu deportieren - und sie durch eine Mischung aus erschöpfender Zwangsarbeit, katastrophalen Lebensbedingungen in Lagern und direkten Mordaktionen physisch auszulöschen." (S. 128)
    Der Historiker, der an der Universität London und an der Bundeswehr-Hochschule in München lehrt, arbeitet allerdings heraus, dass Heydrich hier selbst mit seinem Vorgesetzten Heinrich Himmler über Kreuz lag. Himmler hatte längst das Signal zum schnellen Massenmord gegeben. Aus der Lektüre kann man schließen, dass Heydrich auf der Wannsee-Konferenz de facto zurückzurudern begann. Wichtiger allerdings ist ein anderer Punkt: Der eigentliche Startschuss zur Shoah fiel auf der Konferenz nicht. Peter Longerich begründet die zuletzt noch 2015 in seiner Hitler-Biografie erläuterte - und schlüssige - These, dass dem Holocaust keine einzelne zentrale Entscheidung zugrunde lag.
    "Sondern er ist das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses - in dem Hitler im engen Zusammenspiel mit anderen Teilen des Machtapparates schrittweise aus einer noch vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein konkretes Mordprogramm entwickelte." (S. 13 f.)
    Rassistischer Wahn trifft politisches Kalkül
    Die Wannsee-Konferenz war da nur ein Einzelschritt - eine Reaktion darauf, dass der Krieg gegen die Sowjetunion noch lange dauern würde, so der Autor:
    "Die Wannsee-Konferenz leitete eine Weichenstellung ein, in deren Verlauf das Wann, das Wie und das Wo der 'Endlösung' neu bestimmt wurde. Die Vernichtung der europäischen Juden wurde nun zu einem Projekt, das nicht mehr in großen Teilen nach Kriegsende, sondern vollständig bereits während des Krieges durchgeführt werden sollte."
    Darin trifft sich Longerich mit Kollegen wie dem französischen Historiker Edouard Housson. Hinter dem Verbrechen stand neben rassistischem Wahn auch politisches Kalkül. Bis 1941 hatte Deutschland die Juden Europas wie Millionen Geiseln handhaben wollen: als Druckmittel gegenüber den noch neutralen, angeblich jüdisch gesteuerten USA. Jetzt, im Kampf mit Amerika, hielt man die Juden für einen Kriegsgegner innerhalb des deutschen Machtbereiches. Und Longerich sieht noch ein weiteres, besonders perfides Motiv - wie es schon die Londoner BBC in einer Sendung 1942 herausgestellt hatte:
    "Die Naziführer glauben, durch diese Ausrottung ihren eigenen Untergang hinausschieben zu können. Sie wissen, dass das deutsche Volk zu zweifeln beginnt. Und es glaubt nicht mehr! Wenn aber das Volk nicht mehr durch Glauben an den Führer gebunden ist, dann gibt es nur ein Mittel, es wieder an ihn zu fesseln: die Mitschuld an seinen Verbrechen! Wir, die Führer, haben geraubt und gemordet - und ihr habt mitgetan!"
    Für dieses Vorgehen stand besonders Heinrich Himmler: für den fabrikmäßigen Mord ohne Federlesen. Heydrich hatte ebenso im Sinn gehabt, Millionen unschuldiger Menschen kaltblütig zu töten - aber nach einem mehrstufigen Gesamtplan mit vorgeschalteter Deportation und Zwangsarbeit. Longerichs Buch lässt erkennen, dass am Wannsee letztlich nur mehr technische Einzelfragen des Menschheitsverbrechens verhandelt wurden. Die Studie bringt zwar keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse; und sie geht weniger ins Detail als etwa der über doppelt so dicke Sammelband über die Konferenz, den Norbert Kampe vor drei Jahren im Böhlau-Verlag herausgegeben hat. Denkt man aber an die letztlich doch begrenzten Auswirkungen des Treffens, dann sieht sich der im Normalmaß zeitgeschichtlich interessierte Leser mit diesen 224 Seiten gut informiert.
    Peter Longerich: "Wannseekonferenz. Der Weg zur 'Endlösung'"
    Pantheon Verlag, München 2016. 224 Seiten, 14,99 Euro.