In Frankreich steht mit der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2022 eine Richtungsentscheidung an. Es gilt als wahrscheinlich, dass es auf eine Stichwahl zwischen Präsident Emmanuel Macron und seiner Herausforderin Marine Le Pen, der Chefin des Rassemblement National, hinauslaufen könnte. Der Autor Joseph de Weck hält es dabei für sehr wahrscheinlich, dass Macron diese Wahl gewinnen werde: "Macron müsste wirklich über einen Skandal fallen", sagte de Weck im Dlf.
"Europa im Zentrum seiner Politik"
Der Historiker und Politologe de Weck hat jüngst ein Buch mit dem Titel "Emmanuel Macron – der revolutionäre Präsident" veröffentlicht. Revolutionär sei an Macron zum einen, das er sich durchsetzen könne. Der Präsident habe die meisten Punkte seiner Wahlkampfvorhaben – Arbeitsmarktreform, Reform der staatlichen Bahn SNCF, Steuerreform, Bildungsrefom – umgesetzt. Der Inhalt dieser Reformen sei allerdings nicht revolutionär.
Inhaltlich revolutionär sei Macron in der Europapolitik. "Er ist der erste Politiker in Europa, der wirklich für das höchste Amt in seinem Land eine Kampagne gefahren hat, die Europa ins Zentrum des Wahlkampfs gestellt hat." Das sei insbesondere in Frankreich ein Wagnis gewesen, weil das Land eine höchst ambivalente Beziehung zur Europäischen Union habe. Für Macron stehe Europa hingegen im Zentrum seiner Politik, weil er die EU als Schlüssel zu Handlungsfähigkeit sehe: "Er glaubt, dass Europa das tun kann, was Frankreich alleine nicht mehr tun kann, zum Beispiel die Besteuerung der großen Internet-Giganten wie Google und Amazon durchzusetzen."
Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Inwiefern ist Emmanuel Macron ein revolutionärer Präsident?
Joseph de Weck: Ich glaube, es gibt drei Punkte. Der erste Punkt ist wirklich, dass er im Gegensatz zu seinen Vorgängern die meisten Punkte seiner Wahlkampfvorhaben durchgebracht hat – angefangen mit der Arbeitsmarktreform ganz zu Beginn seines Mandats, dann auch die Reform der staatlichen Bahn SNCF, seine Steuerreform, seine Reform in der Bildungspolitik zur Chancengleichheit. Viele dieser Reformen wurden vorher von anderen Politikern versucht, aber sie sind meistens damit gescheitert. Was an Macron wirklich revolutionär in diesem Sinne ist, dass er sich durchsetzen kann.
Was nicht wirklich revolutionär an Macron ist, ist der Inhalt dieser Reformen. Oft sind es Reformen, die in den anderen Ländern schon in den 90ern oder in den 2000er-Jahren durchgeführt wurden.
Heinemann: Können Sie ein Beispiel nennen?
de Weck: Zum Beispiel die Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Der Abbau des Kündigungsschutzes, das ist eine klassische Reform, wie sie die OECD oder der IWF, internationale Organisationen schon seit Jahrzehnten fordern. Oder zum Beispiel der Abbau der Vermögenssteuern auf Kapitalgewinn. Das ist eine Reform, die zum Beispiel SPD-Finanzminister Steinbrück damals in der Großen Koalition in Deutschland umgesetzt hat.
Wo Macron wirklich inhaltlich revolutionär ist, ist seine Europapolitik. Er ist der erste Politiker in Europa, der wirklich für das höchste Amt in seinem Land eine Kampagne gefahren hat, die Europa ins Zentrum des Wahlkampfs gestellt hat. Das war ein wirkliches Wagnis, vor allem in Frankreich, einem Land mit einer höchst ambivalenten Beziehung zur Europäischen Union.
Seit dem Nein zum europäischen Verfassungsvertrag haben alle Parteien versucht, das Thema Europa zu umschiffen, möglichst einfach nicht davon sprechen. Das galt für die Linke wie auch für die Rechte und sowieso für den rechtspopulistischen Rassemblement National. Macron hingegen stellte es in das Zentrum seiner Kampagne und stellte Europa auch als Lösung vieler Probleme Frankreichs dar, nämlich als Macht, die es schafft, wieder Politik zu machen, die es schafft, wieder die Wirtschaft zu lenken und zu domestizieren, und das ist ihm dann schlussendlich gelungen. Das war ein Alleinstellungsmerkmal seiner Wahlkampagne und schlussendlich hat er – jetzt kann man das, glaube ich, sagen – vier Jahre nach Beginn seines Mandats doch einiges europapolitisch erreicht.
Europa als Schlüssel zur Handlungsfähigkeit
Heinemann: Wie stellt sich Macron die Zukunft der Europäischen Union vor?
de Weck: Für Macron ist Europa wirklich der Schlüssel dazu, das Primat der Politik wiederherzustellen. Er beschreibt in seinen Reden, in seinem Buch eigentlich eine Welt, wie sie oft auch Linke beschreiben, eine Welt in den letzten Jahrzehnten, in denen die Wirtschaft, das Kapital immer mächtiger geworden ist und in denen die Politik immer machtloser geworden ist, und das ist fatal in Frankreich in dieser Staatsnation, in der die Politik wirklich das Land überhaupt erst geformt hat.
Er glaubt, dass Europa das tun kann, was Frankreich alleine nicht mehr tun kann, zum Beispiel die Besteuerung der großen Internet-Giganten wie Google und Amazon durchzusetzen, zum Beispiel im Rahmen der OECD auch eine Reform der globalen Unternehmenssteuer durchzusetzen, wie sie nun beschlossen wurde, zum Beispiel auch, sich gegenüber China und den USA zu wehren, die eine protektionistischere Politik in letzter Zeit fahren, oder um auch die Energiewende in Europa zu organisieren und zu finanzieren, sei es zum Beispiel durch die Einführung einer Grenzsteuer, einer Karbon-Grenzsteuer auf Importe aus China und anderen Ländern, die energieintensiv hergestellt werden.
de Weck: Macron hat versucht, Deutschland zu provozieren
Heinemann: Herr de Weck, auf Macrons Europarede in der Sorbonne im September 2017 antwortete Angela Merkel mit beredtem Schweigen. Was hat dieses Verstummen bewirkt?
de Weck: Zuerst, ganz zu Beginn des Mandats Macron gab es dieses Umwerben Deutschlands und Merkels Macrons. Er versuchte, zum Beispiel die Budgetpolitik Frankreichs anzupassen, um unter die Drei-Prozent-Marke der EU-Verträge zu kommen, um in Deutschland wieder Vertrauen zu gewinnen.
Merkel reagierte nicht wirklich und Macron setzte dann auf die klassische französische Europapolitik, eine Politik der Obstruktion oder eine Politik, die Deutschland und anderen Ländern in Erinnerung rufen sollte, dass sie auch auf Frankreich angewiesen sind. Wir denken zum Beispiel an die Rede Macrons, als er den Karlspreis erhielt, wo er vor Merkel den deutschen Sparfetischismus angriff. Wir denken zum Beispiel auch an seine Bezeichnung der NATO als Hirntod. Macron provozierte und sagte, hey, wenn ihr nicht mitmachen wollt, wenn ich aus Deutschland nichts höre, dann fange ich an, selber Probleme zu schaffen. Er legte zum Beispiel auch ein Veto ein zur Aufnahme der Beitrittsgespräche zur EU von Nordmazedonien und Albanien.
Das funktionierte ein bisschen, aber schlussendlich brachte diese Machtpolitik ihn auch nicht zu diesen Resultaten, die er sich ursprünglich wünschte, und eigentlich kamen seine europapolitischen Visionen erst richtig in Gang mit der Pandemie.
"Er ist klar Ideologe, wenn es um Europa geht"
Heinemann: Französische Präsidenten waren bisher rechts oder links. Ist Macron Ideologe?
de Weck: Er ist klar Ideologe, wenn es um Europa geht. Hier versucht er – und er sagt das selber –, ideologische Arbeit zu leisten. Seine Regierung versucht, zu jedem Zeitpunkt immer den Vorteil und den Nutzen Europas für die Franzosen zu unterstreichen. Er sagt, man muss Europa verkaufen, damit es die Leute auch verstehen und unterstützen.
In seiner Innenpolitik ist er aber sehr unideologisch, würden die einen sagen, oder opportunistisch die anderen. Er verfolgt zum Teil Politiken, die klar liberal oder neoliberal sind, zum Beispiel in der Arbeitsmarktpolitik oder in der Steuerpolitik, aber auch Politiken, die sozialdemokratisch sind. Er hat die Mindestrente oder auch den Mindestlohn stärker erhöht als seine beiden Vorgänger. Er verfolgt Politiken, die man als reaktionär beschreiben könnte, zum Beispiel, wenn er die neue Identitätspolitik amerikanischer Prägung kritisiert, aber auch gleichzeitig Politik, die man als sehr progressiv bezeichnen könnte, wie zum Beispiel die Legalisierung der künstlichen Befruchtung für lesbische Paare. Er ist in Frankreich – und das ist wohl auch sein Geheimnis – nicht wirklich greifbar geworden und die Opposition tut sich immer noch schwer, ihn in eine politische Kategorie abzutun.
"Er macht auch wirklich etwas dafür, Frankreichs Geschichte aufzuarbeiten"
Heinemann: Greifen wir noch mal Identitätspolitik und Cancel Culture auf, die ja aus den USA längst auch in Deutschland angekommen sind. Letzteres bedeutet, unliebsame Persönlichkeiten, Rassisten, Sklavenhalter aus dem öffentlichen Raum und damit aus dem kollektiven Gedächtnis zu entfernen. – Wie begründet Macron seine Kritik?
de Weck: Er ist ein sehr geschichtsbewusster Präsident und er sieht als Teil einer nationalen Gemeinschaft, dass es in Frankreichs Geschichte immer auch das Potenzial zum Guten und das Potenzial zum Bösen gab und dass Frankreich seine eigene Geschichte in seiner Gesamtheit angucken muss und beurteilen muss. Er wirft der Cancel Culture vor, er glaubt, das ist eine Gedankenpolizei, die nichts mit Wissenschaftlichkeit zu tun hat.
Es ist eine schwierige Position zum Teil, aber er unterlegt sie schon auch mit eigenen Statements, eigenen Taten. Er hat zum Beispiel die Kolonisation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet, was kein französischer Präsident vorher getan hat. Es ist nicht nur so ein Argument, um Cancel Culture in den Wind zu schlagen, sondern er macht auch wirklich etwas dafür, Frankreichs Geschichte aufzuarbeiten, auch wenn er natürlich zum Beispiel eine Entschuldigung des französischen Staates für ihre koloniale Geschichte bisher nicht ausgesprochen hat.
de Weck: Macron ist Protesten mit Gespräch begegnet
Heinemann: Wie reagiert Macron auf Protest, sei es den der Gelbwesten vor ein paar Jahren oder jetzt jüngst den der Gegnerinnen und Gegner des Impfens?
de Weck: Sein erster Instinkt ist, diesen Protesten nicht zu viel Beachtung zu schenken. Was er auf alle Fälle verhindern will ist, als schwacher Präsident dazustehen, der einknickt aufgrund der Proteste und der dann seine Reformen nicht mehr durchsetzen kann. Bei den Gelbwesten-Protesten ging das einige Wochen, bis er einsah, dass er auf diese Proteste in irgendeiner Form reagieren musste.
Er reagierte eigentlich mit zwei Ansätzen. Auf der einen Seite setzte er Politiken um, die diese untere Mittelklasse – aus dem Süden ursprünglich kam diese Bewegung – beruhigte. Zum Beispiel setzte er Steuerreformpläne durch, die die untere Mittelklasse von Steuerlast befreiten.
Auf der anderen Seite kam er mit ihnen ins Gespräch. Er verstand, dass die Gelbwesten nicht nur eine Bewegung waren, die unzufrieden war, weil sie wirtschaftlich litt, weil die untere Mittelschicht oft die Hauptlast, auch die Steuerhauptlast trug, sondern auch, weil sie einfach nicht wirklich gehört wurde oder keine politische Stimme hatte. Dort setzte er eigentlich zu dem magischen Moment seiner Präsidentschaft an, dieser Grand Debat National, den er organisierte und zig Stunden direkt mit den Bürgern redete. Das wirklich Interessante an dieser Begegnung war, dass er nicht nur einfach den Gelbwesten beipflichtete, sondern wirklich in eine Debatte mit ihnen einstieg, mit ihnen argumentierte, aber damit erreichte er, dass die Leute das Gefühl hatten, dass Macron sie überhaupt ernst nimmt und ihnen überhaupt zuhört, wenn auch nicht immer ihre Forderungen bejaht, und das funktionierte eigentlich dann ziemlich gut. Es kam der Frühling, man hatte eigentlich Angst, dass die Gelbwesten jetzt richtig an Fahrt gewinnen würden, denn der Frühling ist immer rebellisch in Frankreich, sobald das Wetter auch wieder besser wird. Aber die Proteste flachten ab.
Jetzt bei den Protesten gegen die Impfpolitik, da reagiert Macron auch nicht groß, zumindest jetzt. Man muss auch sagen, man muss diese Impfproteste etwas relativieren. Es sind zwar etwa 200.000 Leute auf die Straße gegangen, aber es ist wirklich die erste wirkliche Corona-Bewegung, die Frankreich gesehen hat in diesen letzten Jahren, viel später, als wir solch ähnliche Bewegungen in Deutschland gesehen haben. Gleichzeitig impft Frankreich im Moment pro Tag etwa 800, 900.000 Leute. Die Mehrheit der Bevölkerung scheint seiner Politik zu folgen.
"Müsste schon ein Wunder geschehen, dass Le Pen diese Wahl gewinnen würde"
Heinemann: Herr de Weck, Ihr Buch endet mit dem Satz: "Eine zweite Runde Macron würde Frankreich und Europa wahrlich gut tun." – Wenn er so gut ist, warum entwickelt sich die bevorstehende Präsidentschaftswahl dann zu einer Zitterpartie?
de Weck: Es ist wahr, dass der Ausblick auf die Wahlen 2022 etwas Sorgen bereitet. Aber wenn man die Sachen genau anguckt, dann müsste schon ein Wunder geschehen, dass Le Pen diese Wahl gewinnen würde. Der eine Grund ist, wir gucken zum Beispiel auf die Beliebtheitswerte Macrons. Die stehen im Moment bei 50 Prozent etwa. Das mag für deutsche Ohren nicht nach wahnsinnig viel tönen, aber für Frankreich ist es doch ziemlich außergewöhnlich. Sarkozys Werte standen zum gleichen Zeitpunkt vor der fehlgeschlagenen Wiederwahl 2012 etwa bei 35 Prozent. Hollande war zur gleichen Zeit bei 21 Prozent. Macron ist doch einiges beliebter.
Das andere ist, dass die französischen Wahlumfragen, die in einem Zweikampf zwischen Macron und Le Pen liegen, etwa 45 zu 55 Prozent vorhersagen für Macron, dass die tendenziell in der Vergangenheit immer Le Pen um etwa vier bis fünf Prozentpunkte überschätzt haben. In Wahrheit ist der Abstand wohl etwas größer, als es die Umfragen erscheinen lassen.
Und dann muss man auch sagen, dass in Frankreichs Wahlsystem die absolute Mehrheit gilt. Trump hatte damals in den USA auch nicht die absolute Mehrheit erreicht. In Frankreich würde dieses gelten und das macht es doch für eine Rechtspopulistin wie Le Pen, auch wenn sie versucht, sich einzumitten, indem sie zum Beispiel in der Europapolitik viel sanftere Töne anschlägt, doch sehr, sehr schwierig. Macron müsste wirklich über einen Skandal fallen. Es müsste noch etwas passieren, das nicht so vorgesehen ist, aber natürlich immer möglich ist in einer Wahlkampagne, damit es wirklich knapp wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.