Wenn heute der Name Herbert von Karajan fällt, denkt man an immer neue Einspielungen von Beethovensinfonien auf verschiedensten Tonträgern. Man denkt an Wagner-Abende im Breitwand-Format in Salzburg und an stargesättigte Belcanto-Opern in Wien. Dass Karajan sich zeitlebens intensiv mit den Sinfonien von Jean Sibelius beschäftigte, daran denkt man eher nicht. Und wo man nicht genau Bescheid weiß, sind die Klischees schnell zur Hand: Karajan gilt als jemand, der Sibelius extrem langsam dirigierte.
Karajan-Bild an manchen Stellen verzerrt
Der Musikforscher Thomas Wozonig aus Graz versucht herauszufinden, ob das stimmt. In das Computerprogramm Sonic Visualizer liest Wozonig unterschiedliche Aufnahmen eines Sibelius-Satzes ein und legt ihre Tempokurven zum Vergleich übereinander. Das Fazit, das Wozonig im Buch "Der Karajan-Diskurs" festhält: Karajan dirigiert keineswegs langsamer. Es ist ein Vorurteil aufgrund eines bestimmten Höreindrucks. Wozonig versucht, subjektive Musikeindrücke mit digitalen Messinstrumenten zu objektivieren.
"Nur an einigen exponierten Stellen ist er aber dann eben doch in geradezu extremer Weise langsamer – also liegt er unter diesen Mittelwerten. Das hat jetzt seine Gründe, denen man eben mit solchen Analysen nachgehen kann. Er bemüht sich nämlich in diesem Fall – was auch durch entsprechende Aussagen Karajans belegt ist – den Metronomangaben von Sibelius in der Partitur zu entsprechen. Wodurch gegen Ende des Satzes ganz bestimmte Tempoproportionen erreicht werden – was auf keinen anderen Dirigenten zwischen 1930 und 1990, den ich untersucht habe, auch nur annähernd zutrifft."
Thomas Wozonig gehört zu einer jungen Generation, die nüchtern historisch auf Karajan blickt. Dabei stellt sich heraus, dass das vorherrschende Bild des Dirigenten immer noch an mancher Stelle verzerrt ist – gerade durch seine einstige mediale Omnipräsenz. Denn Stereo-LP, Bildplatte und Compact Disc verbreiteten sich erst in Karajans zweiter Lebenshälfte, gibt der Musikwissenschaftler Julian Caskel aus Köln zu bedenken, der das Buch "Der Karajan-Diskurs" herausgegeben hat.
"Aber die entscheidenden Sachen sind eben doch historisch auch weiter zurückliegend als wir es uns vielleicht in jedem Fall klarmachen – weil wir heute eher den alten Karajan vor Augen haben, der auch am stärksten visuell dokumentiert ist und nicht den jungen auf der Höhe seiner Kräfte, der aber die entscheidenden Weichenstellungen, wenn man so will, gelegt hat."
"Nur an einigen exponierten Stellen ist er aber dann eben doch in geradezu extremer Weise langsamer – also liegt er unter diesen Mittelwerten. Das hat jetzt seine Gründe, denen man eben mit solchen Analysen nachgehen kann. Er bemüht sich nämlich in diesem Fall – was auch durch entsprechende Aussagen Karajans belegt ist – den Metronomangaben von Sibelius in der Partitur zu entsprechen. Wodurch gegen Ende des Satzes ganz bestimmte Tempoproportionen erreicht werden – was auf keinen anderen Dirigenten zwischen 1930 und 1990, den ich untersucht habe, auch nur annähernd zutrifft."
Thomas Wozonig gehört zu einer jungen Generation, die nüchtern historisch auf Karajan blickt. Dabei stellt sich heraus, dass das vorherrschende Bild des Dirigenten immer noch an mancher Stelle verzerrt ist – gerade durch seine einstige mediale Omnipräsenz. Denn Stereo-LP, Bildplatte und Compact Disc verbreiteten sich erst in Karajans zweiter Lebenshälfte, gibt der Musikwissenschaftler Julian Caskel aus Köln zu bedenken, der das Buch "Der Karajan-Diskurs" herausgegeben hat.
"Aber die entscheidenden Sachen sind eben doch historisch auch weiter zurückliegend als wir es uns vielleicht in jedem Fall klarmachen – weil wir heute eher den alten Karajan vor Augen haben, der auch am stärksten visuell dokumentiert ist und nicht den jungen auf der Höhe seiner Kräfte, der aber die entscheidenden Weichenstellungen, wenn man so will, gelegt hat."
Karajan überließ nichts dem Zufall
In seinem Probenstil unterschied sich der junge Karajan epochal von älteren Stardirigenten wie Furtwängler oder Mengelberg: Systematisch gründlich bereitete er Konzerte vor, er überließ nichts dem Zufall oder der Inspiration des Augenblicks – Konzert und Schallplattenaufnahme konnten damit effizient gleichzeitig vorbereitet werden. Erst später verschmolz Karajan als Figur mit immer neuen medialen Darstellungsformen. Diese Verschmelzung aber war so intensiv, dass sich genau daraus die Legenden entwickelten, die sich heute um Herbert von Karajan ranken. Auch das versuchen die Musikforscher um Julian Caskel nun ins rechte Licht zu rücken.
"Ob das stimmt, dass die Länge der CD an der Länge von Beethovens Neunter Sinfonie ausgerichtet gewesen ist und das auf Karajan zurückgeht, kann man nicht einschätzen, hat sich aber mit der Abschaffung der CD durchs Streaming-Zeitalter auch schon wieder erledigt."
"Ob das stimmt, dass die Länge der CD an der Länge von Beethovens Neunter Sinfonie ausgerichtet gewesen ist und das auf Karajan zurückgeht, kann man nicht einschätzen, hat sich aber mit der Abschaffung der CD durchs Streaming-Zeitalter auch schon wieder erledigt."
Vorliebe für bildliche Darstellung
Die Bedeutung Karajans hat sich aber dadurch keineswegs erledigt, im Gegenteil. Die Bildplatten und Home-Movies, die Karajan gegen Ende seines Lebens mit Beethoven-Dirigaten füllte, nehmen einen Trend der Gegenwart voraus: dass klassische Musik medial heute kaum noch ohne visuelle Komponente auskommt. Die Musikfilme aus Karajans späten Jahren stellen den Dirigenten bildlich stark ins Zentrum und das Orchester als amorphe Masse an den Rand. Das wird heute nicht selten als Spätform totalitärer Ästhetik gesehen. Von einer solchen Bildsprache war Karajan als aufstrebender Dirigent der Nazizeit zweifellos geprägt. Dass Karajan eine Vorliebe zur bildlichen Darstellung besaß, wirkt modern, die Präsentation seiner selbst aber keineswegs.
"Dadurch ist vielleicht der allererste Ansatzpunkt: sich gerade heute in einem verbreiterten Verständnis nicht nur über Interpretationsforschung und Musikwissenschaft im engeren Sinne, sondern auch über kulturwissenschaftliche Ansätze, medienwissenschaftliche Ansätze mit Karajan zu beschäftigen."
"Dadurch ist vielleicht der allererste Ansatzpunkt: sich gerade heute in einem verbreiterten Verständnis nicht nur über Interpretationsforschung und Musikwissenschaft im engeren Sinne, sondern auch über kulturwissenschaftliche Ansätze, medienwissenschaftliche Ansätze mit Karajan zu beschäftigen."
Dafür gibt es genügend Material, und zwar eher jenseits von Karajan-Aufnahmen.
Fritz Muliar, Wienerlied: Was wär der Karajan ohne sein Orchester?
Hier zum Beispiel könnte eine Neudeutung Karajans in der Kulturgeschichte beginnen. Den Wienern war Herbert von Karajan in den 50er-Jahren einfach zu international, zu glatt, zu wenig greifbar. Italienische und französische Opern ließ er als Chef der Staatsoper erstmals durchgängig in Originalsprache singen. Dies entsprach Karajans Vorstellung, dass es eine bestimmte perfekte Version eines Stückes gab, hinter der alles Persönliche, alles Lokalkolorit zurücktreten musste. Auch darin nennt der Musikwissenschaftler Julian Caskel Karajan wegweisend – und mittlerweile eindeutig überholt.
"Der Punkt, der ihn doch zu einer Figur macht, die in eine gewisse historische Distanz gerückt ist, besteht sicherlich in dem Versuch, die private Person von dem musikalischen Ergebnis abzutrennen. Dass die Musik als verfügbare Masse für welchen Konsumenten auch immer in möglichst perfekter Form präsentiert wird. Das scheint sich heute tatsächlich wieder ein bisschen umzukehren."
Denn Starmusiker wie Daniel Hope oder Igor Levit werden stark über ihre Identität und ihre Weise wahrgenommen, mit dem Publikum zu kommunizieren. Gerade die kulturwissenschaftlichen Beiträge des Buches "Der Karajan-Diskurs" dürften auch für Lesende interessant sein, für die das Phänomen Karajan mittlerweile in weite Ferne gerückt ist. Die Forschung über Herbert von Karajan hilft uns jedenfalls zu verstehen, wie sich die Gesellschaft gemeinsam mit der Musikwelt in den letzten dreißig Jahren verändert hat.