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Buchhandel in den 70ern
Als der Mensatisch zum Laden wurde

Verkaufen in der Kneipe oder Klinkenputzen mit dem Fahrrad - aus den Aufbrüchen der 1968er-Jahre entstanden bundesweit linke Verlage und Buchläden und prägten die Weltbilder ihrer Leser. Autor Uwe Sonnenberg zeichnet das Bild des wenig bekannten Verbandes "VLB" und damit einer ganzen Bewegung.

Von Helmut Böttiger |
    Kundinnen im ersten Frauenbuchladen der Bundesrepublik, der 1975 in Münchner-Schwabing eröffnet wurde.
    Aus Verkaufstischen in der Mensa entwickelte sich schnell ein neuer Typus von Buchladen. (dpa / picture alliance / Istvan Bajzat)
    Schon der Name war ein Problem. Der "Verband des linken Buchhandels" nannte sich abgekürzt "VLB". Aber fast zur selben Zeit führte der Börsenverein das "Verzeichnis lieferbarer Bücher" ein und das wurde ebenfalls mit "VLB" abgekürzt. Und das war noch längst nicht alles, was es an Verwirrungen, Überschneidungen, Fraktionierungen und Doppeldeutigkeiten im linken Buchhandel gab.
    Der VLB existierte von 1970 bis ungefähr Mitte der achtziger Jahre, also in einem Zeitraum, in dem die 68er-Bewegung die verschiedensten Ausläufer hatte. Uwe Sonnenberg konzentriert sich in seiner materialreichen, umfassenden Studie auf die Grundsatzdebatten dieses Verbands, und so erstaunlich es klingen mag: Das erweist sich als ein Glücksfall. Die VLB-Diskussionen bilden den roten Faden des Buches, und gerade dadurch entsteht auch ein atmosphärisch dichtes Gesamtbild jener Zeit überhaupt. Es handelt sich hier um eine Geschichte der linken Bewegungen in der alten Bundesrepublik insgesamt.
    Dass diese so eng an den Buchhandel geknüpft war, ist kein Zufall. Die 68er suchten Anschluss an Debatten über den Sozialismus, die vor der Nazizeit und im Exil geführt wurden. Das Material dazu war in der Bundesrepublik kaum veröffentlicht, und so entstand bereits im Vorfeld der Revolte eine beispiellose "Theoriesucht", die sich nicht allein auf die blauen Marx-Engels-Bände aus der DDR bezog, sondern alles verschlang, von der Geschichte der Arbeiterbewegung bis hin zur Kritischen Theorie.
    Neue Kritik
    Als Initialzündung kann die Entscheidung des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes vom Oktober 1965 gelten, den 1913 von Rosa Luxemberg verfassten Text über die "Akkumulation des Kapitals" wieder herauszubringen. Zuerst zerschlug sich der Plan zweier Studenten, dafür heimlich die Offset-Druckmaschine eines amerikanischen Rundfunkpredigers zu benutzen, bei dem sie einen Aushilfsjob hatten. Stattdessen wurde der Band 1 eines "Archivs sozialistischer Bewegungen" nun mittels einer neu angeschafften kleinen Hausdruckerei erstellt, und damit entstand auch der Verlag "Neue Kritik".
    Linke Klassiker neu zu drucken, lag in der Luft. Mitunter dienten Bibliotheksexemplare als Vorlagen. Der Übergang zu Raubdrucken bereits erhältlicher Bücher wurde dabei kaum bemerkt, Fragen nach Rechten und Lizenzen spielten keine Rolle. Am häufigsten wurden Wilhelm Reich, Walter Benjamin und Georg Lukács billig nachgedruckt und ohne Impressum und Copyright-Angabe für wenig Geld unter die Leute gebracht. Aus Verkaufstischen in der Mensa entwickelte sich dann ziemlich schnell ein neuer Typus von Buchladen, der die theoriewütigen Studenten mit dem neuen Stoff versorgte, abseits der im Börsenverein registrierten gewohnten Buchläden mit dem dazugehörigen Vertriebssystem.
    Mensa, Kneipen und Klinkenputzen mit dem Fahrrad bildeten den Beginn eines alternativen Buchhandels. Ein Verlag wie die Berliner "Oberbaumpresse" hatte sich 1966 gegründet und brachte zunächst Broschüren von Peter Handke und Rolf-Dieter Brinkmann heraus. Ein Jahr später, nach der Erschießung Benno Ohnesorgs bei der Anti-Schah-Demonstration, bezeichnete sich die Oberbaumpresse bereits als "politische Aktionsgemeinschaft" und begann mit einer "kleinen revolutionären Bibliothek" – die selbstredend auch aus Raubdrucken bestand.
    Organisation statt Emanzipation
    Wie man die Dinge damals sah, erkennt man in einem Artikel des später berühmten Schriftstellers Wilhelm Genazino 1970 in der Zeitschrift "pardon". Er hatte den Titel: "Erziehung zu niedrigen Preisen. Raubdrucker werden finanzielle Vorbilder für die großen Verlage." Und Theodor W. Adorno soll einmal einen Assistenten geschickt haben, den Raubdruck seiner "Dialektik der Aufklärung" zu erwerben, weil er selbst kein Exemplar besaß.
    Von drei Westberliner Buchladenkollektiven ging der Anstoß zur Gründung eines linken Dachverbands aus, der die Schlagkraft erhöhen sollte. Man wollte mittlerweile auch gegen sogenannte "Linksgewinnler" vorgehen, die das Geld für private Zwecke abzweigten und mit Raubdrucken von Büchern aus linken Verlagen unsolidarisch handelten. Rasch änderten sich für den VLB jedoch die Rahmenbedingungen.
    Nach der lese- und theoriehungrigen Anfangsphase auf dem Höhepunkt der 68er-Bewegung, der Günter Grass 1969 deswegen auch vorwarf, sich ihre Revolution nur "angelesen" zu haben, folgte in Hochgeschwindigkeit eine Dogmatisierung. Statt "Emanzipation" hieß es nun "Organisation". Der VLB spaltete sich sofort, weil etliche Mitglieder sich als maoistische und stalinistische Speerspitzen gerierten und keine Kompromisse mit als "Spontis" denunzierten Genossen eingehen wollten. Es ist respekteinflößend, wie eingehend sich Sonnenberg hier mit Diskussionspapieren auseinandersetzt und besonnene Gegenstimmen wie die vom Offenbacher "Sozialistischen Büro" referiert.
    Maulwurf entsprach dem Selbstbild
    Bald isolierten sich die K-Gruppen selbst. Die größte, der Kommunistische Bund Westdeutschland, schloss seine Buchhandlungen, weil sie zuviel Distanz zum Proletariat schufen. Das führte dazu, dass sich der VLB 1973 noch einmal neu konstituierte. Bis zum "Deutschen Herbst" 1977 hatte er dann seine Glanzzeit.
    Für ein wissenschaftliches Werk mit zahlreichen absichernden Fußnoten und enorm viel Quellenmaterial ist Sonnenbergs Buch erstaunlich flüssig geschrieben. Es lebt durchaus auch von seinen Anekdoten, von Stimmungsberichten direkt von der Basis. Der Münchner Trikont-Verlag oder der Marburger Buchladen "Roter Stern" sind Schauplätze heftiger Polit- und Selbstverwirklichungs-Bewegungen.
    Manchmal konnte ein Buchladen tagsüber auch mal geschlossen sein, mit dem Hinweis, dass das Kollektiv bzw. die Wohngemeinschaft gerade eine interne Sitzung abhielt. Vor allem in Universitätsstädten bildeten die linken Buchläden rasch eine Brückenfunktion zwischen dem studentischen Milieu und der ortsansässigen linksliberalen Mittelschicht.
    "Von Marx zum Maulwurf", der Titel von Uwe Sonnenbergs Buch, bezieht sich auf die Veränderung der Plastiktüten, mit denen die VLB-Buchläden für sich warben: Der Maulwurf entsprach ab Mitte der siebziger Jahre offenkundig eher dem Selbstbild. Durch die von der Bader-Meinhof-Gruppe dominierte deutsche Innenpolitik sah sich der VLB zusehends dazu genötigt, in erster Linie ein Schutzverband zu sein und sich gegen politische Repression zur Wehr zu setzen.
    Buchmägde und Buchknechte
    Sonnenberg sieht den VLB zerrissen zwischen Bestrebungen des Börsenvereins, der eigens einen recht halbseidenen, aber ungemein teuren Privatdetektiv auf illegale Praktiken der linken Buchhandelsszene ansetzte, und staatlichen Restriktionen. Das von der CDU eingebrachte und von der Regierung Helmut Schmidt umgesetzte Gesetz zum "Schutz des Gemeinschaftsfriedens" erlaubte zahlreiche, zum Teil äußerst willkürliche Beschlagnahmungen und Anklagen. Wie sich die Mitglieder des VLB an einer angemessenen Haltung zum Terrorismus der Roten Armee Fraktion abarbeiteten, ist äußerst spannend nachzulesen.
    Nach der "Nacht von Stammheim" 1977 war die Zeit der 68er-Bewegung endgültig vorbei. Der Paradigmenwechsel von linker Politik zum alternativen Milieu hatte sich indes schon länger angedeutet. Symptomatisch ist, wie die Taraxacum-Buchhandlung im ostfriesischen Leer im Sommer 1980 plötzlich ihr Publikum ansprach: statt "Liebe Genossen" hieß es nun "Freaks, Tussies, Fans, Buchmägde und Buchknechte". Uwe Sonnenberg hat ein Grundlagenwerk geschrieben, das die roten und alternativen Jahre der alten Bundesrepublik erhellend vor Augen führt – unterhaltsam, aber auch sehr ernsthaft.
    Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren
    Wallstein Verlag, Göttingen 2016
    568 Seiten, 44 Euro