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Buchkritik: Winters Garten
Panorama einer von Krisen gezeichneten Zeit

Mit "Winters Garten" hat sich die Österreicherin Valerie Fritsch in die literarische Traditionslinie ihres Landes geschrieben. In opulenten Bildern geht es – scheinbar zeitlich entrückt, aber doch aktuell - um Sterben und Tod und eine vor dem Untergang stehenden Welt. Fritsch zeigt uns auch: In der Finsternis ist Leben.

Von Christoph Schröder |
    Porträtfoto der österreichischen Schriftstellerin Valerie Fritsch, die 2015 in Klagenfurt den Publikums- und den Kelag-Preis gewann
    Die österreichische Schriftstellerin Valerie Fritsch. (dpa / APA / Gert Eggenberger)
    Der Tod und das Sterben, so formulierte es der Mystiker Jakob Böhme, seien der Finsternis Leben. Und weiter: Die Natur bringe gute und böse Dinge hervor. Da aber alle Dinge von Gott kämen, so müsste auch das Böse von Gott kommen.
    Am Anfang von Valerie Fritschs Roman steht eine vermeintliche Idylle, eine prachtvoll blühende Landschaft, deren Zerfall bereits wie selbstverständlich angelegt ist. Dort, in einer unbestimmten Zeit, die der Jetztzeit zumindest nahe ist, wächst Anton Winter auf. Der Garten seiner Kindheit ist ein Ort, an dem Menschen, Tiere und Pflanzen in harmonischer Einheit und gegenseitiger Achtung miteinander existieren. Jedes Detail ist mit Leben und Fruchtbarkeit gefüllt, mit Farben, Gerüchen, Wahrnehmungen.
    "Die Kindheit ist schlussendlich ja nicht glücklich, aber doch geglückt, weil es eine Welt voller Zauber ist, gerade für Anton Winter, der in dieser organischen Welt voller Tiere und Pflanzen und einer organischen Natur, die den Menschen formt, aufwächst. Und später bleibt sie für ihn auch immer ein Sehnsuchtsort und ein Königreich, aus dem er vertrieben ist, und es ist auch der Ort, an den er in seiner schlechtesten Zeit, seiner schlechtesten Stunde wieder zurückkehren muss als einzig logische Konsequenz."
    Doch gleichzeitig wohnt diesem märchenhaften Szenario bereits etwas Morbides, aus sich selbst heraus Verfaulendes inne.Anton Winters Garten ist ein Reich, in dem die Begeisterung für das Lebendige und die dunkle Anziehungskraft des Todes sich die Waage halten. Dafür findet Valerie Fritsch, geboren 1989 in der Steiermark, die für diesen ihren zweiten Roman bereits mit dem Peter-Rosegger-Preis ausgezeichnet wurde, immer wieder bestechende Bilder und glänzende Formulierungen.
    Da ist beispielsweise Antons Großmutter, das eigentliche Familienoberhaupt. Im obersten Regal der Speisekammer, zwischen Käselaiben und Flaschen mit Holundersaft, bewahrt sie in sechs Gläsern ihre sechs Fehlgeburten auf. Immer wieder betrachtet der kleine Anton die in Formalin eingelegten Gebilde in all ihrer doppelbödigen Schönheit. Valerie Fritsch schreibt sich mit "Winters Garten" in eine urösterreichische Traditionslinie ein. Den sprachlich durchrhythmisierten Epitaphen eines Josef Winkler steht "Winters Garten" in Sachen Sprachfertigkeit und Vokabelreichtum in nichts nach.
    "Der Tod hat mich immer schon fasziniert, weil er doch recht nahe und unvermeidlich mit dem Leben verknüpft ist und weil sich der Tod auch direkt am Körper abspielt, und ich war schon immer recht fasziniert von der Integrität von Körpern, welche Geschichten darauf passieren und welche quasi finale Geschichte dann am Körper passiert, wenn man stirbt, wenn man geht."
    Die Vertreibung aus dem Paradies lässt nicht lange auf sich warten. Mit einem harten Schnitt wechselt Valerie Fritsch Ort und Zeit. Urplötzlich sind wir an der Seite des erwachsenen Anton Winter, der als Vogelzüchter isoliert über den Dächern einer von einem nicht näher bezeichneten Krieg verheerten Großstadt lebt. Eine apokalyptische Stimmung liegt in der Luft. Man weiß, dass etwas Schreckliches geschehen ist, und man ahnt, dass die endgültige Katastrophe erst noch bevor steht.
    Mit frappierender Eleganz und Leichtigkeit steuert Valerie Fritsch auf nichts Geringeres zu als auf den unmittelbar bevor stehenden Weltuntergang. Das ist weder Spiel noch Koketterie. Es geht um die Beschreibung einer Stimmung und eines Bewusstseins. Wie handeln, denken und fühlen Menschen, wenn sie wissen, dass sie keine Zukunft mehr haben? Und welche Konsequenzen hat eine solche Gewissheit?
    "Der Grundsatz war, dass ich mich ganz puristisch auf fundamentale Dinge konzentrieren wollte, alles runterreduzieren. Und dass es in österreichischer Tradition um den Tod geht oder was passiert, wenn man die Zukunft als Gewohnheit nicht mehr besitzt, welche Dinge sich auflösen und welche Dinge weiterwachsen, obwohl es kein Morgen mehr geben wird."
    Zu dem, was unzerstörbar ist, gehört die Liebe. Anton lernt Frederike kennen, eine ehemalige Seefahrerin und Kämpferin im Krieg, die sich nun im städtischen Krankenhaus um die Neugeborenen kümmert. Zwischen Anton und Frederike entspinnt sich ein Verhältnis, in dem die beiden verloren Dahintreibenden erst durch ihr jeweiliges Gegenüber zu einem Ich zurückfinden. Und das gleichzeitig geprägt ist von einer radikalen Bedingungslosigkeit und einer Konzentration auf den Augenblick.
    Durchsichtig ist Frederike, dünn und ausgezehrt wie Anton selbst auch. Aber in einem Land, in dem die Tiere und Menschen sterben, das Meer tobt und die Natur krank ist, eröffnet das Zusammensein eine Form von Freiheit, die Anton seit Kindheitstagen nicht mehr empfinden konnte.
    "Es ist vielleicht die Freiheit, die aus dieser Art von Todesangst erwächst, und dadurch dass es kein Morgen gibt, sind alle Dinge, die eine Liebe morgen kaputt machen könnten, schon im Vorhinein getilgt. Man kann sich nie wieder verlieren, das ist klar."
    Was aber nun ist „Winters Garten“, dieses schmale, sprachmächtige, vokabelreiche Buch? Eine harte Konfrontation von Utopie und Dystopie? Eine Reflexion über den Kreislauf von Werden und Vergehen? Oder lässt sich von Fritschs schwebender, scheinbar der Zeit enthobenen Welt, der als einzige Verbindung zur Jetztzeit der Joy Division-Song "Love will tear us apart" wie ein Soundtrack unterlegt ist, doch eine Brücke in die Gegenwart schlagen?
    Kaum ein Zeitraum hat in den vergangenen Jahrzehnten ein solches Ausmaß an neuen Konflikten, wieder aufgebrochenen Kämpfen und ungeahnten Grausamkeiten hervorgebracht wie die vergangenen Jahre. Vor diesem Hintergrund verdichten sich Valerie Fritschs opulent gestaltete Einzelbilder zu einem großen Panorama einer von Krisen gezeichneten Zeit. Die Sehnsucht nach Alternativen, nach Auswegen und auch nach Schönheit ist darin bereits angelegt.
    "In der gegenwärtigen Welt bricht momentan wieder vieles auf, und ich habe das Gefühl, gerade da braucht oder gibt es bereits vermehrt Gegenentwürfe, die sich auf die Natur beziehen. Es geht wieder mehr um fundamentale Dinge. Oder es ist zumindest ein Bedürfnis danach vorhanden."
    Der Roman endet dort, wo er begonnen hat: Außerhalb der großen Stadt, im mittlerweile herunter gekommenen Garten von Anton Winters Kindheit, in den Anton und Frederike sich zusammen mit Antons Bruder Leander und dessen Frau und Kind zurückgezogen haben, um auf den großen Knall zu warten. Die Heimat, so heißt es, sei der Ausgangs- und der Endpunkt einer jeden Reise. In Anton Winters Träumen ertönt Musik von Rachmaninow und, noch einmal, Joy Division. Man wird sehen, was passieren wird. Vielleicht ist es sogar schon passiert. Und möglicherweise tut sich am Horizont der versunkenen Welt ein kleiner Spalt auf, durch den Licht fällt. Auch die Finsternis hat ein Leben.
    Valerie Fritsch: "Winters Garten", Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 154 Seiten, 16,95 Euro