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Buchrezension "Das Drama der Stadt"
Urbane Krise trotz Wachstum?

Die deutschen Städte wachsen, vor allem die Großstädte registrieren Zuzug. Die Menschen wollen offenbar nach wie vor in die Stadt, wenn sie nicht an hohen Mieten oder Immobilienpreisen scheitern. Dennoch sieht der Berliner Historiker Eberhard Straub in seinem Buch "Das Drama der Stadt" eine urbane Krise.

Von Monika Dittrich |
    Der Verlag verkauft dieses Buch als Streitschrift. Doch man kann es auch als Liebeserklärung lesen, als Liebeserklärung an das Leben in der Stadt. In der wilden, freien und überraschenden Stadt. Vom Leben auf dem Land hält der Autor nichts.
    "Der Mensch ist kein natürliches Wesen. Die Natur des Menschen ist die Kultur. Er lebt nach eigenen, erfundenen Regeln in Welten, die er sich selber erschaffen hat. Die Natur ist in der Regel die Stiefmutter des Menschen gewesen; alle Kultur beruht darauf, dass man sich von der Natur und ihren Zwängen löste. Die Natur befreit nicht, sie zwingt."
    Stadtluft hingegen macht frei, schreibt Eberhard Straub. Der habilitierte Historiker und langjährige Feuilletonredakteur der "FAZ" resümiert in seinem Buch die Entwicklung urbanen Lebens seit der Antike.
    "Die Freiheit in der Stadt äußerte sich seit dem späten 4. Jahrhundert vor Christus als eine Freiheit der Lebensformen. Leben ist Zusammenleben und als solches erst einmal dramatisch, auch, wenn viele Bemühungen dabei der Absicht gelten, die unvermeidlichen Spannungen mit vernünftigen Übereinkünften, eben den Spielregeln der Höflichkeit, zu dämpfen. Die neuen geselligen Umgangsformen bezeichnen wir auch heute noch mit lateinischen Begriffen, die damals aufkamen und unmittelbar auf die Stadt verweisen: Urbanität und Civilitas oder Zivilität."
    Straub erzählt vom Mythos Athen und der vielfältigen Massengesellschaft im Rom der Kaiserzeit. Mit großer Kenntnis und hohem Tempo schlägt er den Bogen: Istanbul, Alexandria, Damaskus. Madrid als einstige Hauptstadt der Welt, die deutschen Residenzstädte, wo sich ökonomische und politische Macht verdichteten. Straub schreibt nicht streng wissenschaftlich, sondern er berichtet von den aufregendsten Städten der Geschichte, als wäre er selbst dort gewesen, wäre durch Gassen geschlendert und in Nachtlokale eingekehrt. Das liest sich gut.
    Überzeugend kann Straub darstellen, dass Städte schon immer die Orte waren, an denen sich Menschen kultivierten - im dauernden Austausch mit anderen Stadtbewohnern, die eine eigene Herkunft, Kultur, Sprache oder Religion mitbrachten.
    "Das erfordert mehr Fantasie und mehr Disziplin vom einzelnen Menschen, der in der Stadt lebt. Er muss sich auf viel mehr Menschen und Plötzlichkeiten und Unberechenbarkeiten einstellen, muss sehen, wie er damit fertig wird. Es kommt immer darauf an, Kompromisse zu finden, wie man das Zusammenleben erträglicher machen kann."
    Die Metropolen als brodelnde Mischkessel – und nicht alles, was darin zusammenkam, vertrug sich gleich. Genau das ist das Drama der Stadt, das Straub mitreißend beschreibt. Er sieht in der europäischen Stadt einen Jahrhunderte alten Übungsplatz für gegenseitigen Respekt. Straßen und Plätze wurden zur öffentlichen Bühne für Debatten und Demonstrationen, für Politik und Protest. Doch Straub beschreibt auch die "Krise der urbanen Lebensformen", deren Beginn er im 19. Jahrhundert identifiziert – als die Stadt erstmals als ein feindlicher Ort empfunden wurde:
    "Die große Stadt wurde wegen ihrer Unübersichtlichkeit, wegen der Massen, die sie verschmutzten und mit Lärm erfüllten, wegen der versumpften Luft, der Krankheiten, Seuchen, der Verrohung und Kriminalität als ungesund und lebensgefährlich beschrieben. Im Dickicht der Städte, in ihrem Dschungel lauerten auf einmal überall Gefahren für die geistige und körperliche Gesundheit. Der Großstädter galt jetzt als der unbehauste Mensch, wurzellos, isoliert, und unfähig zu festen Bindungen."
    Zu den großen Veränderungen städtischen Lebens gehört schon bald eine funktionale Differenzierung: Arbeiten im Zentrum, Schlafen und Wohnen im sicheren und sauberen Vorort. Bürger wurden zu Pendlern, zu "Wandlern zwischen Welten", wie Straub treffend schreibt. Und er erkennt hier auch ein stadtplanerisches und politisches Kalkül, um das Protestpotenzial des Großstadtmolochs zu ersticken: Der Arbeiter im suburbanen Umland wird schon nicht aufbegehren.
    "In der Vorstadt, in Siedlungen mit viel Licht, frischer Luft und Rasenflächen, aber ohne Straßen und Plätze, boten sich kaum Möglichkeiten, zu demonstrieren und für Forderungen auffällig zu werben. Es war die Stadt, die Straße, 'der Asphalt' als Inbegriff der Gegennatur, die förmlich dazu einluden, Kritik, Unzufriedenheit oder Unmut in die Öffentlichkeit zu tragen."
    Die Idylle der Vorstadt sorgt also auch im Zentrum für Ruhe und Ordnung – die Innenstädte allerdings werden Straub zufolge immer langweiliger und steriler. "Die Metropolen mussten aufhören, Großstadt zu sein", sagt der Historiker.
    "Das städtische Leben heute ist eigentlich dadurch bedroht, dass die Gesellschaft selber gar nicht mehr Herr ihres Lebens in der Stadt ist. Es wird eigentlich organisiert von der Stadt selber, die Stadt wird ja zur Party-Stadt, zur Event-Stadt. Ununterbrochen werden zur Hebung des Konsums irgendwelche Veranstaltungen ersonnen, die den Bürger in die Stadt hineindrängen sollen, um hier längst tot gewordene Innenstädte lebendig zu machen."
    So ähnlich beklagen es seit einiger Zeit auch die Akteure der sogenannten Recht-auf-Stadt-Bewegung: Demnach erleben wir eine totale Durchkommerzialisierung der Städte; Einkaufszentren und Passagen vernichten den öffentlichen Raum. Und Fußgänger sind vor allem als Konsumenten erwünscht. Auch der ehemalige "FAZ"-Mann Eberhard Straub sieht darin einen Verlust für das städtische Leben:
    "Der öffentliche Raum gehörte allen, nicht zuletzt den Armen, den Arbeitslosen, Behinderten, den Asozialen und den Lebenskünstlern unter den Kleinkriminellen. Das Zusammenleben der vielen Verschiedenen mit den vielen Anderen war immer dramatisch. Darin lag dessen Poesie, darauf beruhte die Anziehungskraft der Stadt. Jetzt soll das Leben überall – nicht nur in der eigenen Wohnung – ruhig, übersichtlich, geordnet, sicher und vor allem möglichst gefahrlos funktionieren, die Großstadt als Großraumbüro, wo alle einander brauchen, nett zueinander sind und einander wunderbar ergänzen."
    Früher war auch nicht alles besser, könnte man nun entgegnen und das Buch von Eberhard Straub für reichlich kulturpessimistisch halten. Allerdings bündelt der Historiker seine Argumente und Beobachtungen so plausibel, dass man ihm kaum widersprechen mag. Mehr noch: Manch ein Leser wird sich nach dieser Lektüre etwas von der wilden und rauen, der freien und überraschenden Stadt zurückwünschen, die der Autor so liebevoll beschreibt.
    Buchinfos:
    Eberhard Straub: "Das Drama der Stadt. Die Krise der urbanen Lebensformen", Nicolai Verlag, 208 Seiten, Preis: 19,95 Euro