Den Autor hat das Juroren-Urteil wohl weniger geschmerzt als bestätigt. Tatsächlich ist das kulturelle Gedächtnis Rußlands im 20. Jahrhundert sein Thema, und Pelewin konnte nicht erwarten, daß sein Roman-Programm den Erbepflegern Freude bereiten würde. Pelewin ist ein Mythoklast und, wenn man so will, ein Resteverwerter. Den Nihilismus, den ihm seine Kritiker vorwerfen, hat er seinerseits schon vorgefunden. Aus den Ruinensteinen des kollabierten Imperiums baut Pelewin seine literarische Skulptur. Eine Maschine wie von Tinguely, deren Bauteile vom Wertstoffhof stammen, um dann ungeahnten Zwecken und Referenzen zugeführt zu werden. Das Ergebnis ist bestechend. Pelewins Roman setzt Maßstäbe, nicht nur für die russische Literatur: in seinem Witz, seinem heiteren Zynismus, seiner Einbildungskraft und analytischen Schärfe. Die exzellente Übersetzung von Andreas Tretner tut ein übriges.
Was dem russischen Leser geläufig ist, nämlich Person und Mythos des roten Feldkommandeurs Tschapajew, das muß dem deutschen Leser erst einmal vermittelt werden. Der Verlag war gut beraten, als er dem Roman einen Vortragstext des Autors beigab. Erst von den Voraussetzungen, die Pelewin hier liefert, erschließt sich die doppelte Provokation, die der Roman den Hütern der russischen Kultur bereiten muß. Als, so schreibt Pelewin, aus den Trümmern der alten Welt die radikal neue Welt des Sowjetsystems erstand, erschuf es sich alsbald einen eigenen Götterhimmel. Tschapajew, bekannt nicht nur als der reale Offizier der roten Armee, der 1919 im Ural he-roische Feldschlachten gegen die Weißen schlug, bekannter noch als Titelfigur im Filmklassiker der Brüder Wassiljew, dieser Tschapajew war einer seiner Titanen. Wahrhaft populär wurde er dann aber erst als die beliebteste Witzfigur im sowjetischen Rußland. Daß die meisten Tschapajew-Witze obszöne Untertöne hatten, hängt nach Pelewin mit der "Erbsünde der sowjetischen Welt" zusammen. Ihr Ursprung, schreibt er, sei unrein, auf immer verbunden mit Blut, Dreck, Tod und Zerstšrung. Wer aus dieser unreinen Welt den sozialistischen Helden in seiner Reinheit auferstehen läßt, handelt, wie Pelewin sagt, gemäß der "'Verarbeitungslogik des 'sozrealistischen' Textes".
Pelewin hat etwas anderes im Sinn: er imaginiert den Fall, "daß der sowjetische Mythos nicht der Lack auf einer ungestalten Wirklichkeit, sondern im Gegenteil die Verzerrung und Fälschung einer heroischen, grandiosen Wahrheit" wäre. Tschepajew, das ist Pelewins leitende Idee, war in Wahrheit ein "geheimnisumwitterter, unbegreifbarer buddhistischer Meister" - ein Umstand, den demnach die sowjetische Propaganda gleich doppelt verschleiert und von dem nur die Populärkultur etwas begriffen hätte, indem sie blasphemische Witze über einen Zen-Meister riß. Dieses Gedankenspiel steht im Zentrum von "Buddhas kleiner Finger", oder wie der Roman auf russisch betitelt ist, "Tschapajew und Pustota". Den deutschen Titel verdankt der Roman Tschapajews Panzerfahrzeug, dem Buddhas kleiner Finger als Kanone aufsitzt. Nicht nur russische Revolutionen lassen sich mit diesem kleinen Fahrzeug gewinnen, sondern es läßt sich auch die gesamte Materie im Nu in Nichts verwandeln.
Pustota, das russische Wort für "Leere", ist der Name der Romanfigur, die uns Geschichte und Geschichten von Tschapajew - nebst turbulenten Begebenheiten aus der eigenen Vita - nahebringt. Pjotr Pustota ist ein Dichter und Bohemien aus St. Petersburg, den es im Jahre 1919 auf der Flucht vor der Tscheka nach Moskau verschlagen hat. Dort trifft er einen alten Freund, der ihn in eine Geheimdienst-Falle locken will. Petka kommt dem zuvor, indem er den Spitzel erwürgt und kurzerhand dessen Identität annimmt. Wenig später findet sich Petka nicht nur in einer Irrenanstalt wieder, sondern auch im Moskau von heute, einem Psychiater ausgeliefert, der dem Patienten eine "lupenreine Pseudopersönlichkeitsspaltung" attestiert: "Da kollidieren", meint Professor Kanaschnikow, "äußerlich völlig verschiedene Bewußtseinsinhalte miteinander; mexikanische Seifenoper, Hollywood-Thriller und die ungefestigte russische Demokratie". Im nächsten Kapitel kehrt Petka wieder in das Revolutionsjahr 1919 zurück und wird von Tschapajew zum Politkommissar ernannt. So pendelt die Handlung fortan zwischen Passagen, in denen Petka mit Tschapajew alkoholhaltige Gespräche über Bewußtsein und Wirklichkeit führt und solchen, in denen sich der labile Held einem ins Krasse und Fiebrige gesteigerten Moskauer Alltag der neunziger Jahre konfrontiert sieht, vor dem ihm allein die Irrenanstalt Zuflucht bietet.
Kollision ist das Organisationsprinzip dieses Romans, und es bleibt unentscheidbar, auf welcher seiner Spuren die "eigentliche" Geschichte stattfindet. Sind die postkommunistischen Psychiatrieerlebnisse ein Zukunfts-Wahn des Dichters Pustota, oder hat sich umgekehrt der Insasse P. in einem Moskauer psychiatrischen Krankenhaus ein Vorleben als Tschapajews Weggefährte zusammengefabelt? Aber was zählen solche Fragen, wenn schon im nächsten Moment Genosse Tschapajew mit Buddhas kleinem Finger jede Erscheinung der sichtbaren Welt annihilieren kann? Und was zählen solche Fragen vor der Freiheit eines Autors, der mit Computern, Drogen und Buddhismen seine Erfahrungen gemacht hat und den es danach verlangte, mit ihrer Hilfe die russische Kultur zu zerlegen? Viktor Pelewin ist bei diesem Experiment ein glänzender Roman gelungen.
Was dem russischen Leser geläufig ist, nämlich Person und Mythos des roten Feldkommandeurs Tschapajew, das muß dem deutschen Leser erst einmal vermittelt werden. Der Verlag war gut beraten, als er dem Roman einen Vortragstext des Autors beigab. Erst von den Voraussetzungen, die Pelewin hier liefert, erschließt sich die doppelte Provokation, die der Roman den Hütern der russischen Kultur bereiten muß. Als, so schreibt Pelewin, aus den Trümmern der alten Welt die radikal neue Welt des Sowjetsystems erstand, erschuf es sich alsbald einen eigenen Götterhimmel. Tschapajew, bekannt nicht nur als der reale Offizier der roten Armee, der 1919 im Ural he-roische Feldschlachten gegen die Weißen schlug, bekannter noch als Titelfigur im Filmklassiker der Brüder Wassiljew, dieser Tschapajew war einer seiner Titanen. Wahrhaft populär wurde er dann aber erst als die beliebteste Witzfigur im sowjetischen Rußland. Daß die meisten Tschapajew-Witze obszöne Untertöne hatten, hängt nach Pelewin mit der "Erbsünde der sowjetischen Welt" zusammen. Ihr Ursprung, schreibt er, sei unrein, auf immer verbunden mit Blut, Dreck, Tod und Zerstšrung. Wer aus dieser unreinen Welt den sozialistischen Helden in seiner Reinheit auferstehen läßt, handelt, wie Pelewin sagt, gemäß der "'Verarbeitungslogik des 'sozrealistischen' Textes".
Pelewin hat etwas anderes im Sinn: er imaginiert den Fall, "daß der sowjetische Mythos nicht der Lack auf einer ungestalten Wirklichkeit, sondern im Gegenteil die Verzerrung und Fälschung einer heroischen, grandiosen Wahrheit" wäre. Tschepajew, das ist Pelewins leitende Idee, war in Wahrheit ein "geheimnisumwitterter, unbegreifbarer buddhistischer Meister" - ein Umstand, den demnach die sowjetische Propaganda gleich doppelt verschleiert und von dem nur die Populärkultur etwas begriffen hätte, indem sie blasphemische Witze über einen Zen-Meister riß. Dieses Gedankenspiel steht im Zentrum von "Buddhas kleiner Finger", oder wie der Roman auf russisch betitelt ist, "Tschapajew und Pustota". Den deutschen Titel verdankt der Roman Tschapajews Panzerfahrzeug, dem Buddhas kleiner Finger als Kanone aufsitzt. Nicht nur russische Revolutionen lassen sich mit diesem kleinen Fahrzeug gewinnen, sondern es läßt sich auch die gesamte Materie im Nu in Nichts verwandeln.
Pustota, das russische Wort für "Leere", ist der Name der Romanfigur, die uns Geschichte und Geschichten von Tschapajew - nebst turbulenten Begebenheiten aus der eigenen Vita - nahebringt. Pjotr Pustota ist ein Dichter und Bohemien aus St. Petersburg, den es im Jahre 1919 auf der Flucht vor der Tscheka nach Moskau verschlagen hat. Dort trifft er einen alten Freund, der ihn in eine Geheimdienst-Falle locken will. Petka kommt dem zuvor, indem er den Spitzel erwürgt und kurzerhand dessen Identität annimmt. Wenig später findet sich Petka nicht nur in einer Irrenanstalt wieder, sondern auch im Moskau von heute, einem Psychiater ausgeliefert, der dem Patienten eine "lupenreine Pseudopersönlichkeitsspaltung" attestiert: "Da kollidieren", meint Professor Kanaschnikow, "äußerlich völlig verschiedene Bewußtseinsinhalte miteinander; mexikanische Seifenoper, Hollywood-Thriller und die ungefestigte russische Demokratie". Im nächsten Kapitel kehrt Petka wieder in das Revolutionsjahr 1919 zurück und wird von Tschapajew zum Politkommissar ernannt. So pendelt die Handlung fortan zwischen Passagen, in denen Petka mit Tschapajew alkoholhaltige Gespräche über Bewußtsein und Wirklichkeit führt und solchen, in denen sich der labile Held einem ins Krasse und Fiebrige gesteigerten Moskauer Alltag der neunziger Jahre konfrontiert sieht, vor dem ihm allein die Irrenanstalt Zuflucht bietet.
Kollision ist das Organisationsprinzip dieses Romans, und es bleibt unentscheidbar, auf welcher seiner Spuren die "eigentliche" Geschichte stattfindet. Sind die postkommunistischen Psychiatrieerlebnisse ein Zukunfts-Wahn des Dichters Pustota, oder hat sich umgekehrt der Insasse P. in einem Moskauer psychiatrischen Krankenhaus ein Vorleben als Tschapajews Weggefährte zusammengefabelt? Aber was zählen solche Fragen, wenn schon im nächsten Moment Genosse Tschapajew mit Buddhas kleinem Finger jede Erscheinung der sichtbaren Welt annihilieren kann? Und was zählen solche Fragen vor der Freiheit eines Autors, der mit Computern, Drogen und Buddhismen seine Erfahrungen gemacht hat und den es danach verlangte, mit ihrer Hilfe die russische Kultur zu zerlegen? Viktor Pelewin ist bei diesem Experiment ein glänzender Roman gelungen.