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Uwe Wittstock: "Februar '33. Der Winter der Literatur"
Es wird dunkel in Deutschland

30. Januar 1933: Hitler wird Reichskanzler und die Nazis schaffen es, die Demokratie in nur sechs Wochen abzuschaffen. Uwe Wittstock erzählt von diesem rasanten Absturz in die Diktatur aus der wechselnden Sicht prominenter Autoren und Autorinnen. Für sie alle wird der Februar entscheidend.

Von Gisa Funck |
Uwe Wittstock: "Februar 33- Der Winter der Literatur"
Zu sehen sind der Autor und das Cover zu seinem Buch
Uwe Wittstock und sein Buch "Februar 33- Der Winter der Literatur" (Lennart Wittstock)
Berlin, Samstagabend, 28. Januar 1933: Die Schönen und Erfolgreichen der deutschen Gesellschaft tanzen in den Zoo-Sälen auf dem Presseball. 5000 Karten wurden verkauft, 1500 Ehrengäste sind geladen – darunter auch viele Stars der großen Berliner Bühnen:
"Die hohe, asketische Gestalt Wilhelm Furtwänglers, Dirigent der Berliner Philharmoniker, ist leicht im Gedränge auszumachen, dazu der strenge immer etwas melancholisch blickende Arnold Schönberg (...) Gustaf Gründgens und Werner Krauß sind offenbar gleich nach ihrer Vorstellung aus dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt gekommen, wo sie derzeit als Mephisto und Faust auftreten. (...) Ein Fotograf bittet den Erfolgsdramatiker Carl Zuckmayer kurz aus der Loge zu einem Gruppenfoto. (...) Kurz darauf taucht Josef von Sternberg, der Regisseur des Blauen Engels, aus der Menge auf, standesgemäß umgeben von blutjungen blonden Starlets. "

Der letzte Tanz vorm Abgrund

Die deutsche Zwischenkriegsgeneration tanzt und feiert in Berlin, bis kurz nach Mitternacht ein ungeheuerliches Gerücht die Runde macht. Ausgerechnet Adolf Hitler, so hört man, dieser extremistische Wirrkopf aus München, soll von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt werden. Ausgeschlossen, glauben zu diesem Zeitpunkt noch viele Ballgäste. Nur wenige Stunden später aber ist klar: Hitler wird tatsächlich am 30. Januar 1933 Reichskanzler. Doch selbst jetzt halten noch viele Beobachter die sogenannte Machtergreifung der Nazis nur für einen bösen Spuk, der bald wieder vorbei sein wird. Eine fatale Fehleinschätzung, wie man heute natürlich weiß.

Vielstimmige Tagebuchchronik

Die vielstimmige Chronik „Februar ‘33“ des Literaturkritikers Uwe Wittstock liest sich trotzdem ungemein spannend. Denn es handelt sich dabei um eine Art kollektives Tagebuch, das aus ganz unterschiedlichen Perspektiven noch einmal detailliert von der damaligen  Gleichschaltung des Kulturbetriebs erzählt – und einem nicht zuletzt vor Augen führt, in was für einem atemberaubenden Tempo sich die Zerstörung des deutschen Geisteslebens 1933 vollzog. Oder, wie es Uwe Wittstock selbst im Nachwort auf den Nenner bringt:
"Wer Ende Januar aus dem deutschen Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück"
Wie aber war dieser rasante Absturz der Weimarer Republik in die Barbarei in so kurzer Zeit möglich? Um das erfahrbar zu machen, wählt Wittstock ähnlich wie vor ihm schon Florian Illies in seinem bestsellerträchtigen Jahresporträt „1913“ mit dem Februar 1933 einen Zeitabschnitt, in dem sich die große Geschichte wie unter einem Brennglas verdichtet. Und genauso wie vor ihm schon Illies greift auch Wittstock auf die filmische Erzähltechnik der Short-Cuts-Collage zurück – und schildert die Ereignisse als Abfolge hart aneinandergeschnittener Szenen aus dem Leben ganz unterschiedlicher Literaten.
Es geht ums nackte Überleben
Da begleitet man etwa den steinreichen Dandy Harry Graf Kessler zu einigen erlauchten Abendessen, der Hitlers Aufstieg eher snobistisch-gelassen, aus Ästheten-Sicht betrachtet. Im scharfen Kontrast dazu geht’s bei Kesslers Schreibkollegen Hermann Kesten und Alfred Kerr – oder auch bei Gabriele Tergit im Februar 1933 schnell ums nackte Überleben. Schließlich stehen sie als Juden ganz oben auf den Verhaftungslisten der marodierenden SA-Trupps.
Genauso wie die deutsche Bevölkerung damals war auch die deutsche Literatur-Elite nach Hitlers Ernennung schlagartig in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite standen die mutigen Verteidiger der Republik wie Carl von Ossietzky, Heinrich Mann oder Alfred Döblin, die – im Widerstand zwangsvereint mit den Kommunisten wie Bertold Brecht oder Ernst Toller – gegen die neuen Machthaber protestierten. Auf der anderen Seite befanden sich opportunistische Mitläufer wie Oskar Loerke und fanatische Nazi-Anhänger wie Hanns Johst oder Max von Schillings – oder auch der Dichter Gottfried Benn, der im NS-Terror zunächst elitär verblendet eine Urgewalt von mythischer Größe sah. Jubelnd schrieb Benn am 27. Februar 1933 an seinen Freund Egmont Seyerlen:
"Die Revolution ist da und die Geschichte spricht. Wer das nicht sieht, ist schwachsinnig. (...) Dies ist eine neue Epoche des geschichtlichen Seins! "

Der freie Umgang mit den Fakten

Uwe Wittstock gibt selbst in seinem Nachwort zu, dass er sich für seine Chronik recht ungeniert bei den Lebenserinnerungen anderer Autoren bedient hat, ohne dies immer klar kenntlich zu machen. Manchmal hat er Zusammenhänge auch frei herbeiassoziiert. Beides kann man ihm natürlich vorwerfen. Andererseits ist es aber gerade der freiere Umgang mit den Fakten, der die literarische Qualität seines Buches ausmacht.
Die deutsche Literaturelite erscheint darin wie eine tragische Schicksalsgemeinschaft, in der fast jeder jeden und jede kannte, zumindest über zwei Ecken hinweg. Und Wittstock beschreibt diese Literaturfamilie von 1933 dann so einfühlsam und anschaulich, dass man sie plastisch vor sich sieht – und sich mittendrin im Geschehen fühlt.

Keine Widerstandshelden-Verklärung

Glücklicherweise aber hat er der Versuchung widerstanden, die antifaschistischen Autoren zu Widerstandshelden zu verklären. Alle im Buch auftretenden Figuren haben auch ihre Schattenseiten. Und letztlich taugt nur der bis zuletzt aufrecht gegen die Nazis kämpfende Carl von Ossietzky zum politischen Märtyrer.
Ansonsten macht sich unter den porträtierten Literaten schon bald Panik und Eigennutz breit – und überlegt sogar der Nobelpreisträger Thomas Mann im Februar 1933 zunächst schniefig, ob er sich nicht besser Karriere-taktisch mit den Nazis arrangieren sollte.

Hochspannender Rückblick mit aktuellen Bezügen

Nicht nur an dieser Stelle wirkt Wittstocks Rückblick auf die finsteren Tage der Diktatur beängstigend zeitlos, wenn nicht sogar hochaktuell. Denn die 1933 grassierende Grippewelle, die angespannte, hasserfüllte Stimmung im Land und die sich immer hemmungsloser entladene Gewalt: All’ das kann man durchaus auch wie eine Mahnung ans heutige Corona-Deutschland lesen. Umso mehr gehört „Februar ‘33“ zu den herausragenden, unbedingt empfehlenswerten Büchern dieses Herbstes!
Uwe Wittstock: „Februar ’33. Der Winter der Literatur“
Verlag C.H. Beck, München.
288 Seiten, 24 Euro.