Einer von Nathalie Kupermans Verlagen, die Pariser École des Loisirs, beschreibt die Autorin gerne als eine Träumerin. Eine Eigenschaft, die es ihr ermöglicht habe, überhaupt Schriftstellerin zu werden. Nathalie Kuperman selbst bestätigt das immerhin in Bezug auf ihre erste Geschichte für Kinder, die aus dem Wunsch entstand, sich dem Druck zu entziehen und sich einfach treiben zu lassen.
"Die erste Geschichte, die ich für Kinder geschrieben habe, entstand, als ich gerade an einem Roman für Erwachsene saß und eine Schreibblockade hatte. Um mich zu entspannen und eine Pause einzulegen, habe ich angefangen, eine kleine Geschichte zu schreiben. Und die hab ich dann einfach mal an eine Zeitschrift geschickt, die auch gleich zugegriffen und die Erzählung veröffentlicht hat. Es ging darin um ein kleines Mädchen, das - wie ich - unkonzentriert war, das sich langweilte ... ja, das passte in meine Situation in diesem Moment."
Die Zauberpille führt in eine Welt voller Poesie
Das gelangweilte Mädchen gerät durch eine Zauberpille – die "Pastille Magique" in eine Welt voller Sprachspielereien und Poesie. Nathalie Kuperman bemerkte mit Erstaunen, wie viel Freude ihr diese Art zu schreiben machte.
"Ich hätte nie gedacht, dass ich mal für Kinder schreiben würde. Aber dann habe ich doch großen Gefallen daran gefunden, mich in dieser Welt zu bewegen, die ich vorher gar nicht kannte. Das ist einfach so passiert, nur als Zwischenbeschäftigung. Aber als ich die Geschichte dann geschrieben war, dachte ich: Ja, warum eigentlich nicht? Das war bisschen wie eine Flaschenpost im Meer."
Heillos in Ausreden verwickelt
Auf Deutsch findet man von Nathalie Kuperman nur ein Kinderbuch: "Wer zweimal lügt", die Geschichte über Clara, ein Mädchen, das sich heillos in ihre eigenen Ausreden verwickelt.
"An der Tafel steht in großer Schrift: "Erkläre, wie der Däumling sich und seine Brüder rettet." Frau Gorse, unsere Lehrerin, wagt es tatsächlich: Sie lässt uns noch ein paar Tage vor den Weihnachtsferien einen unangekündigten Test schreiben! Den Däumling habe ich nicht gelesen. Ich kann also gar nicht erklären, wie er sich und seine Brüder rettet. Ich stelle mir schon vor, wie Frau Gorse mich fragt, warum ich das Buch nicht gelesen habe. Ich kann ihr doch nicht antworten: "Lesen mag ich einfach nicht. Ich liebe Filme, treffe mich unheimlich gern mit meinen Freundinnen, gehe mit Vergnügen spazieren und habe richtig Spaß daran, Gedichte auswendig zu lernen und mir Geschichten auszudenken."
Ein Familiengeheimnis wird aufgedeckt
"Mensonge et vérité" - "Wer einmal lügt": Da geht es um ein Familiengeheimnis, das aufgedeckt wird durch eine Lüge - die gar keine ist. Um einer schlechten Note zu entgehen, erzählt Clara der Lehrerin: "Ich habe erfahren, dass ich von meinen Eltern adoptiert worden bin." Eine Riesenlüge, aber - ganz langsam stellt sich heraus, dass das Mädchen etwas gespürt hat, was vor ihm versteckt worden war, sodass die Erfindung dieser Geschichte am Ende vielleicht doch kein reiner Zufall war.
"Wie bist du darauf gekommen zu erzählen, wir wären nicht deine echten Eltern?" – "Ich weiß es nicht", habe ich geflüstert. Hätte ich es wissen müssen? Mir dämmerte plötzlich, dass etwas schwer zu Begreifendes, Heimtückisches und Tiefgreifendes auf mich zukam."
Heimliches und Unheimliches
"Die meisten Bücher, die ich für Kinder geschrieben habe, sind Familiengeschichten, oft Familiengeheimnisse, wie in "Pas un mot", der Geschichte eines kleinen Mädchens, das beschließt, nicht mehr zu sprechen. Und dann stellt sich langsam heraus, dass sie anstelle eines verstorbenen Bruders geboren wurde."
Das Verhältnis zwischen Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen - diese Motive beschäftigen Nathalie Kuperman auch in ihren Romanen für Erwachsene, wie zum Beispiel in "Frühstück mit Mick Jagger":
"Meine Mutter hat nur mir gesagt: "Geh in dein Zimmer und komm nicht raus, bis ich dich hole." Ruhig, olympisch, selbstsicher. In meinen Träumen würde sie immer so auftreten, als große Dame. Ich fand sie dabei schön, das war mir seit der Kindheit nicht mehr passiert. Ich sollte öfters Scheiße bauen und ihr die Möglichkeit geben, an mir erwachsen zu werden und groß und mit hochgezogenen Augenbrauen zu zeigen, wer hier das Sagen hat."
Zwischen Obsession und tiefer Einsamkeit
"Frühstück mit Mick Jagger" erzählt von einem heranwachsenden Mädchen, das die Autorin Nathalie Kuperman nennt. Die mental meist abwesende Mutter leidet an chronischer Müdigkeit, während der Vater sich nach Berlin abgesetzt hat. Das Mädchen fantasiert sich in eine erotische Beziehung mit Mick Jagger, den sie sich täglich zum Frühstück herbei träumt, weil er einerseits ein Sexsymbol verkörpert und andererseits ihr, die in der Kindheit sexuelle Übergriffe erleiden musste, nichts anhaben kann. Die Autorin beschreibt das Erwachsenwerden des Mädchens zwischen Vulgarität und Zartheit, Obsession und tiefer Einsamkeit. "Frühstück mit Mick Jagger" ist Kupermans einziger auf Deutsch erhältlicher Roman für Erwachsene.
Grenzgänge für Jugendliche und Erwachsene
"Frühstück mit Mick Jagger" - das entstand aus einem Gespräch mit einem Verleger, der mich schon kannte und der verschiedene Schriftsteller gebeten hat, von ihren persönlichen Helden zu schreiben. Und ich sagte - eigentlich nur im Witz - naja, wenn Sie mich schon so fragen, dann würde ich über Mick Jagger schreiben. Ich hab schon mal mit ihm gefrühstückt. Das war alles nur ein Scherz, aber er sagte: Na, dann los - schreiben Sie! Und so hab ich "Petit déjeuner avec Mick Jagger" geschrieben. Das ist ein Buch für Erwachsene, das aber auch für heranwachsende Leser gut passt, natürlich.
Jugendbücher, die als solche gekennzeichnet wären, schreibt Nathalie Kuperman nicht. Gerne bewegt sie sich aber auf der Grenze zwischen den Genres.
"Manche Erwachsene lesen und lieben bestimmte Jugendbücher. Warum nicht? Das Genre hat immer etwas Unklares: Für wen schreibt man eigentlich? Ich glaube, es geht darum, dass man sich in diesen Geistes- und Seelenzustand der Pubertät hinein begibt. Ich finde, die Jugend ist ein faszinierendes Alter, in dem einem dauernd schwindelig ist, in dem man den Boden unter den Füßen verliert, Erfahrungen macht, die erste Liebe erlebt, aber auch das Unglück, das damit zusammenhängt - also, wenn ich schreibe, inspiriert mich diese Lebensphase, die auch in mir noch lebendig ist. Auch wenn ich für die Jüngsten schreibe, habe ich das Gefühl, in die Pantoffeln meiner Kindheit zu schlüpfen. Dabei habe ich gar nicht so viele Kindheitserinnerungen - aber ich habe den Eindruck, mich wie ein Fisch durchs Wasser zu bewegen. Mit dieser Zielgruppe fühle ich mich sehr wohl, ohne zu wissen, warum."
Ins Deutsche übersetzt
Nathalie Kuperman gehört in Deutschland nicht zu den bekanntesten französischen Autorinnen. Umso mehr freute sie die Übersetzung von "Wer einmal lügt", erschienen im Boje Verlag.
"Ich bin sehr beglückt darüber, denn ich war in jüngeren Jahren viel in Deutschland, außerdem ist Deutsch die Muttersprache meines Vaters, ich war oft in Berlin, ich kenne Köln und Brühl, wo ich Freunde habe. Also es gibt viele Verbindungen, und ich hab mich deshalb enorm gefreut - auch über die Einladung zur internationalen Buchwoche mit französischen Autoren in Köln.
"Es ist einfach berührend, wenn man erfährt, dass ein Text über die Grenze läuft. Und dann Kinder bei einer Lesung zu treffen, ihnen den Text vorzulesen, ihre Reaktion zu bemerken, ach - das ist schon wunderschön, eine wirkliche Öffnung."
Manfred Mai: "Lena liest ums Leben". Fabulus Verlag. 176 Seiten. 14,95 Euro. Ab 10 Jahren.
Die Liste von Erzählungen und Romanen des Kinder- und Jugendbuchautors Manfred Mai ist kaum überschaubar. Seit 1978 sind etwa 150 Bücher erschienen und so ist es kein Wunder, dass der schwäbische Autor sein Handwerk des Schreibens routiniert beherrscht. Nachdem im vergangenen Herbst erst sein Roman "Wunderbare Möglichkeiten" im Fabulus Verlag erschienen ist, liegt nun schon ein Nachfolger vor: "Lena liest ums Leben". In beiden Büchern spielt das Lesen bzw. Vorlesen eine große Rolle und das lichte himmelblau der Umschlaggestaltung mit einer Illustration von Quint Buchholz weist in den grenzenlosen Raum der Literatur.
"Ein gutes Buch zur rechten Zeit"
Es ist schlechthin der Glücksfall allen Lesens, ein gutes Buch zur rechten Zeit in die Hand zu bekommen, wie Manfred Mai aus eigener Erfahrung weiß:
"Bei mir haben ein, zwei Bücher, die ich zur richtigen Zeit in die Hand bekommen habe, mein Leben wirklich verändert und ich hab gemerkt, was ich bis dahin versäumt hatte und seit dieser Zeit ist mir einfach wichtig nicht nur selbst zu lesen, sondern auch zu vermitteln, was Lesen einem geben kann."
"Lesen ist ein großes Wunder". Dieses Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach hat Manfred Mai seinem Buch "Lena liest ums Leben" vorangestellt. Und um ein wahres Wunder geht es in der Geschichte auch, denn das Idyll der schwäbischen Kleinfamilie bricht jäh zusammen, als der Vater auf Montage plötzlich zusammenbricht und eine Krankenhaus-Odyssee antreten muss, an deren Ende er abgemagert und eingefallen nur deshalb nach Hause kommt, weil die Ärzte ratlos sind.
Vorlesen als Medizin
Er scheint dem Tod geweiht, was Lena unter keinen Umständen hören will, sondern ihrer Mutter mit angstvollem Trotz das Wort abschneidet: "Wir machen ihn wieder gesund." Und sie findet eine Medizin – das Vorlesen. Wie Papa noch sechs Wochen zuvor an ihrem Bett gesessen und die ersten beiden Kapitel aus "Der geheimnisvolle Erfinder" vorgelesen hatte, einem älteren Buch Manfred Mais, so sitzt nun Lena an seinem Bett. Jeden Tag liest sie die Geschichte weiter und hört an der spannendsten Stelle auf, sodass der Kranke auf die Fortsetzung am nächsten Tag neugierig ist.
Das Kompositionsprinzip einer Geschichte in der Geschichte, einer im wahrsten Sinne lebensrettenden, in die Rahmenhandlung eingebauten Binnenerzählung bestätigt die Assoziation, die schon der Titel des Buchs "Lena liest ums Leben" eingegeben hat: Scheherazade und ihre Erzählungen aus tausendundeiner Nacht. Doch während Scheherazade, ihren Tod am Morgen nach der Liebesnacht mit König Schahriyar vor Augen, die Spannung ihrer Erzählungen wachhält, um ihr eigenes Leben zu retten, liest Lena um das Leben ihres Vaters.
Dabei geht es in beiden Konstellationen um die liebevolle Hinwendung zu einem Kranken – in "Tausendundeine Nacht" zu dem durch Treuebruch tief gekränkten, rachsüchtigen König und in Manfred Mais Buch zu dem unbekannt erkrankten, abgemagerten Vater. Hier wie dort erweitern Geschichten das Blickfeld in eine Welt jenseits des eigenen, schwer erträglich gewordenen Lebens. Es ist das Stillen einer unausgesprochenen Sehnsucht durch die Macht der Fantasie in der Erzählkunst; ein Wiedererkennen in den Charakteren von fiktiven Figuren, denen gelingt, was die Zuhörer in ihrer Realität (noch) nicht geschafft haben.
"Ich möchte die Leser direkt erleben lassen, … dass eine Buchfigur, wenn sie liest und über das Lesen sich verändert."
"Nicht bereit, sich dem Üblichen ein- und unterzuordnen"
So entpuppt sich die Hauptfigur Martin Maier in Lenas Vorlesebuch als Aussteiger aus dem erfolgreichen, aber stressigen Berufsleben eines technischen Entwicklers, der Nutzen und Notwendigkeit seiner Erfindungen infrage gestellt hat und sich zweckfreien, 'nur' schönen Dingen zuwendet. Er hat ein altes Haus am Dorfrand bezogen, bunt angemalt und mit merkwürdigen, dämonisch anmutenden Holzfiguren und Spruchtafeln im Garten umstellt.
Ganz wie es der oberschwäbische Maler Melchior Setz mit seinem sogenannten Hexenhäuschen in Neukirch am Bodensee gemacht hatte. Das ist vom Giebel bis zum Boden mit farbigen Masken bestückt, wird von Totempfählen beschützt und von einer wahren Herde skurriler Tiere und furchteinflößender Monster bewacht. Was zu Lebzeiten von Melchior Setz bei den Nachbarn Kopfschütteln und Missbilligung fand, ist heute eine kleine Touristenattraktion und ein Riesenspaß für Kinder. Von der humor- und fantasievollen Hinterlassenschaft dieses eigenwilligen Künstlers wurde Manfred Mai vor Jahren inspiriert:
"Ich hab dann mit seiner Witwe geredet und sie hat mir erzählt, was sie alles mit- und durchgemacht hat, weil ihr Mann einfach nicht bereit war, sich dem Üblichen da ein- und unterzuordnen und das Haus auch gestaltet hat."
"Als hoffnungslos abgeschrieben"
In die literarische Figur ist aber, so die Andeutung des Autors, auch etwas eigene Erfahrung eingeflossen.
"Den hab ich erfunden, den Namen. es ist ja ein MM-Name und da können sich die Leute auch ein bisschen was denken."
"Martin Maier wird mir immer sympathischer", sagt Lenas Vater einmal. "So wie der würde ich auch gern leben." Und eben nicht mit Überstunden und auf Montage, immer schneller durch den Alltag kreisend. Nicht von ungefähr hat Manfred Mai ihn – als Vorboten seiner Krankheit – auf der ersten Buchseite vor Schwindel zusammensacken lassen, als er seine Tochter im Kreis durch die Luft wirbelt. Und wie Martin Maier als Fremdling von den Dorfbewohnern argwöhnisch beäugt und in die Außenseiterrolle gedrängt wird, so wird auch Lenas vormals so lebenstüchtiger Vater von der Gesellschaft ausgeschlossen. Beide erfüllen nicht mehr deren vorherrschende Erwartungen, sodass ihnen schließlich Gleichgültigkeit und sogar aufkeimende Boshaftigkeit entgegengebracht werden.
Heldinnen mit Empathie und kindlichem Trotz
In der Binnenerzählung setzt sich Franziska mit ihrer Freundin mutig über die Vorurteile ihrer Umgebung hinweg, als sich die Situation durch die üblen Streiche einiger Jungs zuspitzt. Sie ist vom Autor als Pendant zu Lena konzipiert, die sich gegen Mutmaßungen, ihr Vater habe Krebs und müsse als hoffnungslos abgeschrieben werden, zur Wehr setzt. In ihrer Unvoreingenommenheit und einer Mischung aus Empathie und kindlichem Trotz hat Manfred Mai die beiden Mädchenfiguren zu unprätentiösen Heldinnen seiner miteinander verwobenen und motivisch aufeinander bezogenen Erzählungen gemacht. Und er hat in den Geschichten die Wirkungsmacht der Kunst thematisiert, auch wenn er seine Leser über eine aufrichtige Akzeptanz des einen und eine dauerhafte Genesung des anderen Außenseiters im Ungewissen lässt.