Strukturumbruch, Internet, größte Medienrevolution seit Gutenberg - leben wir nicht in wunderbaren Zeiten? Auf dem Podium eines Trendforscher-Kongresses hätte man so eine Meinung vermutlich nicht exklusiv. Kleine, unabhängige Verlage allerdings tun sich mit solcher Chuzpe schwer; sie nehmen die Herausforderung, die darin besteht, für ihre Kundschaft überhaupt noch sichtbar zu bleiben, oft wie Fußballteams im Abstiegskampf an: Spiele werden hinten gewonnen, gilt da; kontrollierte Defensive statt Offensive. Wendelin Hess, einer der drei Köpfe des Zürcher Echtzeit Verlags, ist anders gestrickt. Während viele auf iPad und Reader starren wie das berühmte Kaninchen auf die Schlange, sieht er die Buch- und Medienbranche in der spannendsten Ausgangslage seit Jahren.
"Lustiger Weise habe ich das Gefühl, dass das "Window-Dressing", also, dass man schlechte Inhalte schön verpacken kann - das geht ein bisschen zu Ende. Es ist mittlerweile alles zu jeder Zeit verfügbar. Das heißt, man muss sich nicht mehr mit weniger begnügen, als eigentlich man suchen möchte. Ich finde das sehr interessant."
Der Schweizer weiß, wovon er spricht: Sein 1994 gemeinsam mit dem Kompagnon Beat Müller gegründetes Atelier ist auf Gestaltung für Printmedien sowie Corporate Design im Bereich Kunst und Kultur spezialisiert. Seit mehr als 12 Jahren betreuen sie das Erscheinungsbild von Art Basel und Art Basel Miami Beach, der größten Kunstmesse der Welt. Von 1999 bis 2004 verantworteten sie unter anderem das Redesign und die Art-Direktion von Zeitschriften wie "Das Magazin", "Die Weltwoche" und "Du".
"Für mich war das eine Teilbefreiung aus dem dienstleistenden Bereich des Grafikdesigns. Also, Grafikdesign ist immer: Inhalte anderer schön machen. Und beim Journalismus war's schon so, dass man auf der Redaktion viel Mitspracherecht hat. Und ich war auch nicht ein rein visueller, als Art Director, sondern ein maßgeblich Beteiligter an dem, was im Heft steht, wie es gemacht wird."
Ein Umstand, der letztlich mit dazu führte, dass Hess 2007 zusammen mit Beat Müller und dem Journalisten Markus Schneider den Echtzeit Verlag gründete. "Warum", so dachten sich die drei, "machen wir nur Produkte, die am Samstag ins Altpapier gehen?’ Gut 50 Bücher sind in den letzten fünf Jahren entstanden, die thematische Bandbreite ist verblüffend: Das Spektrum reicht von investigativen Reportagen über Schweizer Söldner oder die Hooliganszene der Alpenrepublik bis zur Geschichte der Popband Yello und opulenten Kochbüchern. "Wie Frau sein", das meinungsfreudige Plädoyer der Journalistin Michèle Roten für einen zeitgemäßen Feminismus, schaffte es 2012 sogar auf die Hotlist der zehn besten Bücher aus deutschsprachigen Independent-Verlagen. Der Weltzugriff bei Echtzeit ist querköpfig, radikal subjektiv:
"Ich glaube, das Thema, oder der Ansatz, wie das Thema bearbeitet ist, muss uns ähnlich interessieren, wie uns damals eine journalistische Geschichte überzeugt hat, dass die auf den Titel von der "Weltwoche" oder vom "Magazin" kommen kann. Es passiert oft so: Wir lesen in einer Zeitschrift oder in einer Zeitung einen Artikel, und dann merkt man, dass der bei 20.000 Zeichen nicht fertig ist. Im Kopf des Autoren. Und dann nehmen wir Kontakt auf und sagen: Sag' mal, ist ja Wahnsinn, was du da geschrieben hast, aber das ist ja 100.000 Zeichen oder mehr. Und dann sagen die: Ja, ja, es war ganz schlimm, ich musste alles weglassen und kürzen. Und das ist dann oft der Einstieg in das Projekt."
Formale Klammer aller Echtzeit-Produktionen ist, kein Wunder bei der Vita der Macher, die exzellente gestalterische und typografische Qualität: Das beginnt bei der auffälligen, vom Zeitschriftendesign inspirierten Bildsprache und reicht bis zur gestürzten Titelzeile auf dem Cover, die Hess und Müller – gegen allen Rat aus der Verlagsbranche – als Markenzeichen durchgesetzt haben. Einen unkonventionellen Weg beschritten die Schweizer auch mit ihrer bereits im Spätsommer 2011 als virtuelle "Verlagsbuchhandlung" gestarteten Echtzeit-App: Sie erlaubt es, in sämtlichen Büchern des Programms zu blättern, Klappentexte zu studieren und die ersten 30 Seiten jedes Titels zu lesen. Für Indieverlage eine Chance, inmitten der algorithmisch gesteuerten Angebotsflut der großen Onlineportale, zwischen Kaffeemaschinen, Wurst und Buchbestsellern, sichtbar zu bleiben – auch mit älteren Titeln, die längst aus den Regalen des Sortiments verschwunden sind. Neben der portofreien Lieferung physischer Bücher bietet Echtzeit ausgewählte Titel auch als E-Book an – wobei die Schweizer, um größtmögliche Nähe zum visuellen Eindruck des gedruckten Buchs bemüht, klar aufs PDF-Format setzen.
"Gott sei Dank hat Steve Jobs das iPad genau so groß gemacht wie unsere Bücher, das heißt, dass die Dateien, die wir in die Druckerei geben, eins zu eins als PDF's in die App wandern. Das macht, dass die Typografie, die Schriftgröße, die ästhetischen Details, die Text-Bild-Beziehung nicht aufgelöst wird – sondern ganz genau so stehen bleibt, wie wir sie auch gestalterisch fürs Buch entschieden haben. Das ist ein großer Unterschied zum E-Book, was quasi mit Schrift-Skalieren aus allem einen Riesen-Salat macht. Und eigentlich nur noch fließt. Also, E-Books sind eigentlich Word-Dateien. Und sind keine Bücher mehr, die dem ästhetischen Auge des Lesers genügen. Und unser Ziel war, das so zu machen, dass es größtmögliche Nähe zum visuellen Einruck des Buches hat."
Dass sich die uralte, vom Netz adaptierte Idee der Verlagsbuchhandlung auch wieder ins reale Leben zurückverpflanzen lässt, beweisen Hess und seine Freunde seit 2010 mit dem "Westflügel". Der kleine Laden entstand im Zuge der Sanierung eines alten Bahnviadukts im Zürcher Kreis 5. In den 50 ehemaligen Brückenbögen haben sich nun teure Biker-Shops und Boutiquen einquartiert. Der ideale Ort für eine Buchhandlung der etwas anderen Art: In Kooperation mit dem Magazin des "Tagesanzeigers" lässt der "Westflügel" sein Sortiment von Schriftstellern, Chefredakteuren, Filmemachern oder Ökonomie-Professoren zusammenstellen. Was die prominenten Zeitgenossen in kurzen Rezensionen empfehlen, kann vor Ort oder im Netz gekauft werden. Die Kollektion der befreundeten Baseler Möbel-Designer veredelt das Ganze nicht nur zu einem wunderbaren Showroom – auch sie ist im Laden zu haben. Die Sache läuft so gut, dass Echtzeit nicht nur über ein schickes, quasi kostenfreies Zürcher Büro verfügt, sondern hin und wieder die Bücherregale selbst knapp werden. Die Umsätze mit Gedrucktem halten sich in Grenzen. Doch das Feedback, das man mit einem "betretbaren Verlag" bekommt, ist unbezahlbar.
"Ich saß da mal, morgens, im Sommer, die Tür war offen, dann stand ein kleines Kind in der Tür und hat die Mutter gefragt: Wohnt da jemand? (lacht) Und so es ein bisschen. Und das hat auch mit den Büchern zu tun. Also, nicht zu viel. Sondern, die Menge Bücher, die da sind, die geben eine Stimmung ... Und das ist das Modell, was eigentlich diese Buchhandlung ausmacht. Den Möbelladen ausmacht. Und uns unser Zürcher Büro finanziert. Zusätzlich machen wir Lesungen hier, wir haben 50 Stühle hinten, können das mit Tonanlage und Bestuhlung herrichten für kleinere Lesungen und Buchvernissagen. Und machen eigentlich regelmäßig hier Veranstaltungen auch. "
Und, Wunder über Wunder: Wird ein 20 Jahre alter Titel mit Verve von einem Rapper oder Hollywood-Schauspieler bejubelt, kann der eingerostete Verkaufspegel im Schweizer Buchzentrum, dem führenden Dienstleistungsunternehmen für den Buchhandel der Alpenrepublik, schon mal hektisch nach oben ausschlagen. Weshalb die Auslieferung "Bücher fürs Leben", das Echtzeit-Brevier mit den 60 schönsten Empfehlungstexten, auf eigene Kosten produzieren ließ und an den Buchhandel verteilte – zur Weitergabe ans geneigte Publikum. Eine intelligentere Werbung fürs Lesen als manche der hierzulande am Welttag des Buches exekutierten Aktionen. Zurzeit sitzt Wendelin Hess am Folgeband, für den auch Angela Merkel eine Buchempfehlung verfassen sollte. Die Bundeskanzlerin mochte lieber nicht. Aber wer weiß? Vielleicht publizieren die umtriebigen Eidgenossen diesmal auch die Absagen.
"Lustiger Weise habe ich das Gefühl, dass das "Window-Dressing", also, dass man schlechte Inhalte schön verpacken kann - das geht ein bisschen zu Ende. Es ist mittlerweile alles zu jeder Zeit verfügbar. Das heißt, man muss sich nicht mehr mit weniger begnügen, als eigentlich man suchen möchte. Ich finde das sehr interessant."
Der Schweizer weiß, wovon er spricht: Sein 1994 gemeinsam mit dem Kompagnon Beat Müller gegründetes Atelier ist auf Gestaltung für Printmedien sowie Corporate Design im Bereich Kunst und Kultur spezialisiert. Seit mehr als 12 Jahren betreuen sie das Erscheinungsbild von Art Basel und Art Basel Miami Beach, der größten Kunstmesse der Welt. Von 1999 bis 2004 verantworteten sie unter anderem das Redesign und die Art-Direktion von Zeitschriften wie "Das Magazin", "Die Weltwoche" und "Du".
"Für mich war das eine Teilbefreiung aus dem dienstleistenden Bereich des Grafikdesigns. Also, Grafikdesign ist immer: Inhalte anderer schön machen. Und beim Journalismus war's schon so, dass man auf der Redaktion viel Mitspracherecht hat. Und ich war auch nicht ein rein visueller, als Art Director, sondern ein maßgeblich Beteiligter an dem, was im Heft steht, wie es gemacht wird."
Ein Umstand, der letztlich mit dazu führte, dass Hess 2007 zusammen mit Beat Müller und dem Journalisten Markus Schneider den Echtzeit Verlag gründete. "Warum", so dachten sich die drei, "machen wir nur Produkte, die am Samstag ins Altpapier gehen?’ Gut 50 Bücher sind in den letzten fünf Jahren entstanden, die thematische Bandbreite ist verblüffend: Das Spektrum reicht von investigativen Reportagen über Schweizer Söldner oder die Hooliganszene der Alpenrepublik bis zur Geschichte der Popband Yello und opulenten Kochbüchern. "Wie Frau sein", das meinungsfreudige Plädoyer der Journalistin Michèle Roten für einen zeitgemäßen Feminismus, schaffte es 2012 sogar auf die Hotlist der zehn besten Bücher aus deutschsprachigen Independent-Verlagen. Der Weltzugriff bei Echtzeit ist querköpfig, radikal subjektiv:
"Ich glaube, das Thema, oder der Ansatz, wie das Thema bearbeitet ist, muss uns ähnlich interessieren, wie uns damals eine journalistische Geschichte überzeugt hat, dass die auf den Titel von der "Weltwoche" oder vom "Magazin" kommen kann. Es passiert oft so: Wir lesen in einer Zeitschrift oder in einer Zeitung einen Artikel, und dann merkt man, dass der bei 20.000 Zeichen nicht fertig ist. Im Kopf des Autoren. Und dann nehmen wir Kontakt auf und sagen: Sag' mal, ist ja Wahnsinn, was du da geschrieben hast, aber das ist ja 100.000 Zeichen oder mehr. Und dann sagen die: Ja, ja, es war ganz schlimm, ich musste alles weglassen und kürzen. Und das ist dann oft der Einstieg in das Projekt."
Formale Klammer aller Echtzeit-Produktionen ist, kein Wunder bei der Vita der Macher, die exzellente gestalterische und typografische Qualität: Das beginnt bei der auffälligen, vom Zeitschriftendesign inspirierten Bildsprache und reicht bis zur gestürzten Titelzeile auf dem Cover, die Hess und Müller – gegen allen Rat aus der Verlagsbranche – als Markenzeichen durchgesetzt haben. Einen unkonventionellen Weg beschritten die Schweizer auch mit ihrer bereits im Spätsommer 2011 als virtuelle "Verlagsbuchhandlung" gestarteten Echtzeit-App: Sie erlaubt es, in sämtlichen Büchern des Programms zu blättern, Klappentexte zu studieren und die ersten 30 Seiten jedes Titels zu lesen. Für Indieverlage eine Chance, inmitten der algorithmisch gesteuerten Angebotsflut der großen Onlineportale, zwischen Kaffeemaschinen, Wurst und Buchbestsellern, sichtbar zu bleiben – auch mit älteren Titeln, die längst aus den Regalen des Sortiments verschwunden sind. Neben der portofreien Lieferung physischer Bücher bietet Echtzeit ausgewählte Titel auch als E-Book an – wobei die Schweizer, um größtmögliche Nähe zum visuellen Eindruck des gedruckten Buchs bemüht, klar aufs PDF-Format setzen.
"Gott sei Dank hat Steve Jobs das iPad genau so groß gemacht wie unsere Bücher, das heißt, dass die Dateien, die wir in die Druckerei geben, eins zu eins als PDF's in die App wandern. Das macht, dass die Typografie, die Schriftgröße, die ästhetischen Details, die Text-Bild-Beziehung nicht aufgelöst wird – sondern ganz genau so stehen bleibt, wie wir sie auch gestalterisch fürs Buch entschieden haben. Das ist ein großer Unterschied zum E-Book, was quasi mit Schrift-Skalieren aus allem einen Riesen-Salat macht. Und eigentlich nur noch fließt. Also, E-Books sind eigentlich Word-Dateien. Und sind keine Bücher mehr, die dem ästhetischen Auge des Lesers genügen. Und unser Ziel war, das so zu machen, dass es größtmögliche Nähe zum visuellen Einruck des Buches hat."
Dass sich die uralte, vom Netz adaptierte Idee der Verlagsbuchhandlung auch wieder ins reale Leben zurückverpflanzen lässt, beweisen Hess und seine Freunde seit 2010 mit dem "Westflügel". Der kleine Laden entstand im Zuge der Sanierung eines alten Bahnviadukts im Zürcher Kreis 5. In den 50 ehemaligen Brückenbögen haben sich nun teure Biker-Shops und Boutiquen einquartiert. Der ideale Ort für eine Buchhandlung der etwas anderen Art: In Kooperation mit dem Magazin des "Tagesanzeigers" lässt der "Westflügel" sein Sortiment von Schriftstellern, Chefredakteuren, Filmemachern oder Ökonomie-Professoren zusammenstellen. Was die prominenten Zeitgenossen in kurzen Rezensionen empfehlen, kann vor Ort oder im Netz gekauft werden. Die Kollektion der befreundeten Baseler Möbel-Designer veredelt das Ganze nicht nur zu einem wunderbaren Showroom – auch sie ist im Laden zu haben. Die Sache läuft so gut, dass Echtzeit nicht nur über ein schickes, quasi kostenfreies Zürcher Büro verfügt, sondern hin und wieder die Bücherregale selbst knapp werden. Die Umsätze mit Gedrucktem halten sich in Grenzen. Doch das Feedback, das man mit einem "betretbaren Verlag" bekommt, ist unbezahlbar.
"Ich saß da mal, morgens, im Sommer, die Tür war offen, dann stand ein kleines Kind in der Tür und hat die Mutter gefragt: Wohnt da jemand? (lacht) Und so es ein bisschen. Und das hat auch mit den Büchern zu tun. Also, nicht zu viel. Sondern, die Menge Bücher, die da sind, die geben eine Stimmung ... Und das ist das Modell, was eigentlich diese Buchhandlung ausmacht. Den Möbelladen ausmacht. Und uns unser Zürcher Büro finanziert. Zusätzlich machen wir Lesungen hier, wir haben 50 Stühle hinten, können das mit Tonanlage und Bestuhlung herrichten für kleinere Lesungen und Buchvernissagen. Und machen eigentlich regelmäßig hier Veranstaltungen auch. "
Und, Wunder über Wunder: Wird ein 20 Jahre alter Titel mit Verve von einem Rapper oder Hollywood-Schauspieler bejubelt, kann der eingerostete Verkaufspegel im Schweizer Buchzentrum, dem führenden Dienstleistungsunternehmen für den Buchhandel der Alpenrepublik, schon mal hektisch nach oben ausschlagen. Weshalb die Auslieferung "Bücher fürs Leben", das Echtzeit-Brevier mit den 60 schönsten Empfehlungstexten, auf eigene Kosten produzieren ließ und an den Buchhandel verteilte – zur Weitergabe ans geneigte Publikum. Eine intelligentere Werbung fürs Lesen als manche der hierzulande am Welttag des Buches exekutierten Aktionen. Zurzeit sitzt Wendelin Hess am Folgeband, für den auch Angela Merkel eine Buchempfehlung verfassen sollte. Die Bundeskanzlerin mochte lieber nicht. Aber wer weiß? Vielleicht publizieren die umtriebigen Eidgenossen diesmal auch die Absagen.