Am Ende von Émile Bravos Geschichte über die frühe Jugend Spirous, „Porträt eines Helden als junger Tor“, wandern der ewige Hotelpage in roter Uniform und sein ungleicher Freund Fantasio in belgischer Soldatenuniform durch einen typischen wallonischen Laubwald, den man bereits von Hergés Tim-und-Struppi-Abenteuern zu kennen glaubt. Sie räsonnieren im Frühjahr 1940 – die deutschen Truppen haben Belgien gerade besetzt - über ihre mögliche Zukunft. Fantasio schwärmt davon, dass sie nach dem Krieg endlich fantastische Abenteuer erleben könnten. Fünf Jahre später, im Sommer 1945 – Spirou und Fantasio sind nach den schrecklichen Kriegserfahrungen nicht mehr dieselben wie vor dem Krieg - wandern die beiden bei Bravo tatsächlich durch die wallonische Hügellandschaft Richtung Rummelsdorf, hinaus aus der Wirklichkeit.
„Man muss sich an das erste albumlange Abenteuer von Spirou, André Franquins ,Der Zauberer von Rummelsdorf' erinnern. Das beginnt damit, dass Spirou und Fantasio mit ihren Rucksäcken in Rummelsdorf am Anwesen des Grafen ankommen, um Ferien zu machen. Im Grunde ist diese erste Begegnung mit dem Grafen symbolisch, so, als würde ich jetzt den Staffelstab wieder an Franquin übergeben. Meine Figuren ziehen nach ihren Kriegserlebnissen los, um ihm in seine Ära zu folgen. Es ist, wenn man so will, eine Umkehrung. Spirou und Fantasio sind einfach Comicfiguren, die ihre eigene Wirklichkeit als Comiccharaktere leben. So kennt man sie, seit Rob-Vel, Jijé und Franquin sie geschaffen haben. Mein Ansatz war der, sie vorher in unserer Realität zu platzieren und den jungen Leserinnen und Lesern von heute und deren Eltern vor Augen zu führen: Wo kommen diese Figuren denn eigentlich her? Sie kommen aus der Wirklichkeit.“
„Man muss sich an das erste albumlange Abenteuer von Spirou, André Franquins ,Der Zauberer von Rummelsdorf' erinnern. Das beginnt damit, dass Spirou und Fantasio mit ihren Rucksäcken in Rummelsdorf am Anwesen des Grafen ankommen, um Ferien zu machen. Im Grunde ist diese erste Begegnung mit dem Grafen symbolisch, so, als würde ich jetzt den Staffelstab wieder an Franquin übergeben. Meine Figuren ziehen nach ihren Kriegserlebnissen los, um ihm in seine Ära zu folgen. Es ist, wenn man so will, eine Umkehrung. Spirou und Fantasio sind einfach Comicfiguren, die ihre eigene Wirklichkeit als Comiccharaktere leben. So kennt man sie, seit Rob-Vel, Jijé und Franquin sie geschaffen haben. Mein Ansatz war der, sie vorher in unserer Realität zu platzieren und den jungen Leserinnen und Lesern von heute und deren Eltern vor Augen zu führen: Wo kommen diese Figuren denn eigentlich her? Sie kommen aus der Wirklichkeit.“
Eine Geschichte über Menschheit und Menschlichkeit
Émile Bravo setzt also die beiden Freunde und ihren ewigen Begleiter, das Eichhörnchen Pips, in ein realistisches Brüssel der 1940er-Jahre.
„Es brauchte 50 Jahre Vorstudien. Ich habe natürlich als junger Mensch in Frankreich die alten belgischen Comics gelesen und kannte die Szenerien. Noch wichtiger jedoch ist, sich in die Atmosphäre der Zeit zu versetzen. Meine Eltern haben mir viel über die Stimmung in den 1930er-, 1940er-Jahren erzählt, weil sie die Zeit viel wacher erlebt haben als viele andere. Deshalb hat mich die Zeit von Kindesbeinen an fasziniert. So kann ich sagen: Meine Recherchearbeit dauerte 50 Jahren. Das war immer im Hinterkopf, ohne dass ich bewusst recherchieren musste. Es ging mir im Grunde primär auch gar nicht so sehr darum, eine Spirougeschichte zu erzählen als vielmehr eine Geschichte über Menschheit und Menschlichkeit und diese Figuren dafür zu nutzen.“
Deshalb bewegt sich Émile Bravo von Beginn der Geschichte an im Milieu von Kindern in einem Brüsseler Stadtviertel, Anfang 1940. Dort hört man aus Kindermund Wahrheiten, die man von Erwachsenen so nie erfahren würde. Spirou ist unter den Kindern so etwas wie ein verständiger, friedliebender älterer Bruder, dem es fast immer gelingt, Streit zu schlichten, sei es bei banalen Anlässen wie Schneeballschlachten oder wenn die Gören die politische Gesinnung ihrer Eltern nachplappern und sich antisemitische und antikapitalistische Parolen um die Ohren hauen.
Fast auf jedem Bild ist Spirous Eichhörnchen Pips zu sehen, seit einem Stromschlag ein hochintelligentes Tier, das den beiden immer wieder mal aus der Patsche hilft, aber das Geschehen – im Gegensatz zu seiner Rolle bei anderen Interpreten – nur mit einem entschiedenen...
"Kriiiiiiiiii!"
… kommentiert.
„Es brauchte 50 Jahre Vorstudien. Ich habe natürlich als junger Mensch in Frankreich die alten belgischen Comics gelesen und kannte die Szenerien. Noch wichtiger jedoch ist, sich in die Atmosphäre der Zeit zu versetzen. Meine Eltern haben mir viel über die Stimmung in den 1930er-, 1940er-Jahren erzählt, weil sie die Zeit viel wacher erlebt haben als viele andere. Deshalb hat mich die Zeit von Kindesbeinen an fasziniert. So kann ich sagen: Meine Recherchearbeit dauerte 50 Jahren. Das war immer im Hinterkopf, ohne dass ich bewusst recherchieren musste. Es ging mir im Grunde primär auch gar nicht so sehr darum, eine Spirougeschichte zu erzählen als vielmehr eine Geschichte über Menschheit und Menschlichkeit und diese Figuren dafür zu nutzen.“
Deshalb bewegt sich Émile Bravo von Beginn der Geschichte an im Milieu von Kindern in einem Brüsseler Stadtviertel, Anfang 1940. Dort hört man aus Kindermund Wahrheiten, die man von Erwachsenen so nie erfahren würde. Spirou ist unter den Kindern so etwas wie ein verständiger, friedliebender älterer Bruder, dem es fast immer gelingt, Streit zu schlichten, sei es bei banalen Anlässen wie Schneeballschlachten oder wenn die Gören die politische Gesinnung ihrer Eltern nachplappern und sich antisemitische und antikapitalistische Parolen um die Ohren hauen.
Fast auf jedem Bild ist Spirous Eichhörnchen Pips zu sehen, seit einem Stromschlag ein hochintelligentes Tier, das den beiden immer wieder mal aus der Patsche hilft, aber das Geschehen – im Gegensatz zu seiner Rolle bei anderen Interpreten – nur mit einem entschiedenen...
"Kriiiiiiiiii!"
… kommentiert.
Ein blasierter schräger Vogel
Fantasio wird zu Beginn der Geschichte als blasierter schräger Vogel und Möchte-gern-Journalist charakterisiert, mit enormen Fehleinschätzungen des Ernstes der Lage, dessen guter Kern aber immer wieder zum Vorschein kommt.
„Er ist nicht so tugendhaft wie Spirou.“
Das Wichtigste an der Figurenzeichnung Bravos ist jedoch die Entwicklung der Charaktere durch die Kriegsereignisse. Wie in kaum einer anderen Comicgeschichte für Jugendliche – und deshalb ist sie inzwischen in Belgien Schullektüre - werden die Freunde mit der Orientierungslosigkeit der Menschen konfrontiert, mit Kollaboration, mit Opportunismus, Angst, Duckmäusertum, mit Brutalität und Gleichgültigkeit. Aber auch mit selbstloser Hilfe, mit aktivem und passivem Widerstand gegen die Besatzer, sowohl von wallonischer als auch von flämischer Seite.
Nicht zu vergessen, dass der tugendhafte Spirou – anders als Hergés Tim, ein reiner Tugenbold – immerhin so etwas Zartes wie die erste Liebe erlebt. Kassandra heißt seine Angebetete. Die polnische Jüdin, die als Zimmermädchen im Hotel „Moustic“ arbeitete, hat er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen. Sie überlebte das Todeslager Auschwitz und möchte sich nach dem Krieg in Palästina eine neue Existenz aufbauen. Dass sich die beiden wiedersehen, ist unwahrscheinlich, denn Spirou und Fantasio sind ja am Ende der Geschichte bereits auf dem Weg in die Parallelwelt Rummelsdorf. Die Unschuld der frühen Jahre haben sie verloren.
„Er ist weniger unschuldig. Er wird aber immer noch tugendhaft bleiben, weil er Spirou ist.“
„Er ist nicht so tugendhaft wie Spirou.“
Das Wichtigste an der Figurenzeichnung Bravos ist jedoch die Entwicklung der Charaktere durch die Kriegsereignisse. Wie in kaum einer anderen Comicgeschichte für Jugendliche – und deshalb ist sie inzwischen in Belgien Schullektüre - werden die Freunde mit der Orientierungslosigkeit der Menschen konfrontiert, mit Kollaboration, mit Opportunismus, Angst, Duckmäusertum, mit Brutalität und Gleichgültigkeit. Aber auch mit selbstloser Hilfe, mit aktivem und passivem Widerstand gegen die Besatzer, sowohl von wallonischer als auch von flämischer Seite.
Nicht zu vergessen, dass der tugendhafte Spirou – anders als Hergés Tim, ein reiner Tugenbold – immerhin so etwas Zartes wie die erste Liebe erlebt. Kassandra heißt seine Angebetete. Die polnische Jüdin, die als Zimmermädchen im Hotel „Moustic“ arbeitete, hat er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen. Sie überlebte das Todeslager Auschwitz und möchte sich nach dem Krieg in Palästina eine neue Existenz aufbauen. Dass sich die beiden wiedersehen, ist unwahrscheinlich, denn Spirou und Fantasio sind ja am Ende der Geschichte bereits auf dem Weg in die Parallelwelt Rummelsdorf. Die Unschuld der frühen Jahre haben sie verloren.
„Er ist weniger unschuldig. Er wird aber immer noch tugendhaft bleiben, weil er Spirou ist.“
Zweifel am Sieg des Guten, Wahren, Schönen
Spirou, der schon zu Beginn ein ebenso hoffender wie zweifelnder junger Mann war, wird am Ende des Krieges in seinen Zweifeln an einfachen Siegen des Guten, Wahren und Schönen eher bestärkt, als dass er sich von ihnen befreit. Und Fantasio? Der wird zwar in Teil 4 zum Kämpfer einer Widerstandsgruppe. Kurz nach dem Krieg aber kommt der alte Schlendrian in ihm wieder durch, den es erst nach Ruhe und dann nach Abenteuern jenseits der ernüchternden Wirklichkeit drängt.
Deshalb ist der Schlussdialog zwischen Spirou und Fantasio im letzten Teil der Geschichte von großer Bedeutung. Das Zitat bezieht sich auf die Kriegssatire „La bête est morte“ des berühmten französischen Comicautors Calvo aus den 1940er-Jahren. Fantasio also ist der festen Überzeugung, die Bestie, die das ganze Elend des Krieges verursacht habe, sei tot. Spirou hält entschieden dagegen:
„Nein, nein, nein, die Bestie ist nicht tot, sie ist in uns… Es steht uns noch viel Arbeit bevor, wenn wir wirklich menschlich werden wollen."
„Es wird natürlich kein gutes Ende in der Wirklichkeit geben können, denn das Tier ist eben nicht tot. Und Kassandra ist in Palästina, wir haben den nächsten Konflikt und wieder die Erkenntnis: Die Bestie ist nicht tot.“
Deshalb ist der Schlussdialog zwischen Spirou und Fantasio im letzten Teil der Geschichte von großer Bedeutung. Das Zitat bezieht sich auf die Kriegssatire „La bête est morte“ des berühmten französischen Comicautors Calvo aus den 1940er-Jahren. Fantasio also ist der festen Überzeugung, die Bestie, die das ganze Elend des Krieges verursacht habe, sei tot. Spirou hält entschieden dagegen:
„Nein, nein, nein, die Bestie ist nicht tot, sie ist in uns… Es steht uns noch viel Arbeit bevor, wenn wir wirklich menschlich werden wollen."
„Es wird natürlich kein gutes Ende in der Wirklichkeit geben können, denn das Tier ist eben nicht tot. Und Kassandra ist in Palästina, wir haben den nächsten Konflikt und wieder die Erkenntnis: Die Bestie ist nicht tot.“
Die Bestie kommt immer näher
Die Bestie ist nicht tot – sie wütet nicht nur in fernen Ländern, sondern kommt immer näher, wie der Krieg in der Ukraine zeigt. Könnte das ein Thema sein, dem sich Émile Bravo widmet?
„Man könnte das natürlich annehmen, aber es gibt eigentlich keinen Grund für mich, denn es ist die Wiederholung des Gleichen. Das Erschreckende an der jetzigen Situation ist, festzustellen: Wir haben nichts gelernt. Es ist immer ein Rückfall in und ein Rückgriff auf die bekannten Muster. Ich habe das in der jetzigen Spirougeschichte im Grunde alles verhandelt. Es gibt eigentlich keinen Anlass, es neu zu verhandeln.“
Und so radeln Spirou und Fantasio auf der letzten Seite der Geschichte in die Parallelwelten, die sie in den folgenden Jahrzehnten zu Helden der verrücktesten Abenteuer, jenseits der Grausamkeiten eines wirklichen Krieges, machen werden. Sie radeln davon, wie Lucky Luke auf seinem Gaul in den Sonnenuntergang reitet.
„Man könnte das natürlich annehmen, aber es gibt eigentlich keinen Grund für mich, denn es ist die Wiederholung des Gleichen. Das Erschreckende an der jetzigen Situation ist, festzustellen: Wir haben nichts gelernt. Es ist immer ein Rückfall in und ein Rückgriff auf die bekannten Muster. Ich habe das in der jetzigen Spirougeschichte im Grunde alles verhandelt. Es gibt eigentlich keinen Anlass, es neu zu verhandeln.“
Und so radeln Spirou und Fantasio auf der letzten Seite der Geschichte in die Parallelwelten, die sie in den folgenden Jahrzehnten zu Helden der verrücktesten Abenteuer, jenseits der Grausamkeiten eines wirklichen Krieges, machen werden. Sie radeln davon, wie Lucky Luke auf seinem Gaul in den Sonnenuntergang reitet.
Émile Bravo: "Spirou – Porträt eines Helden als junger Tor"
Aus dem Französischen von Martin Budde
Carlsen Comics, Hamburg. 76 Seiten 10 Euro, ab 8 Jahren.
Émile Bravo: "Spirou oder: die Hoffnung"
Teil 1: "Schlechter Start in neue Zeiten", 94 Seiten, 14 Euro
Teil 2: "Weiter auf dem Weg des Grauens", 94 Seiten, 14 Euro
Teil 3: "Dem Ende entgegen", 118 Seiten, 16 Euro
Teil 4: "Ein Ende und ein Neuanfang", 48 Seiten, 12 Euro
Aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Pröfrock
Carlsen Comics, Hamburg. Ab 10 Jahren.
Aus dem Französischen von Martin Budde
Carlsen Comics, Hamburg. 76 Seiten 10 Euro, ab 8 Jahren.
Émile Bravo: "Spirou oder: die Hoffnung"
Teil 1: "Schlechter Start in neue Zeiten", 94 Seiten, 14 Euro
Teil 2: "Weiter auf dem Weg des Grauens", 94 Seiten, 14 Euro
Teil 3: "Dem Ende entgegen", 118 Seiten, 16 Euro
Teil 4: "Ein Ende und ein Neuanfang", 48 Seiten, 12 Euro
Aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Pröfrock
Carlsen Comics, Hamburg. Ab 10 Jahren.