Während im realen Leben immer noch viele Kinder mit Vater und Mutter in einem Haushalt wohnen, muss man die traditionelle Familienkonstellation in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur suchen. Oftmals sind die Mütter für die sogenannte Primärbeziehung zuständig. Die Väter sind engagiert oder einfach nur anwesend, sie sind Wochenendväter, aus dem Leben ihrer Mädchen oder Jungen nach und nach verschwunden oder gänzlich unsichtbar. Und so erscheinen in den heutigen Alltagsgeschichten recht unterschiedliche Vatertypen, die normalen Papas und die unnormalen Papas, wie die 11-jährige Polleke aus Guus Kuijers Kinderbuch "Wir alle für immer zusammen" feststellen muss.
"Du kannst also einen Vater haben, der nicht dein Vater ist. Oder einen Vater, der zwar dein Vater ist, der aber woanders wohnt. Oder einen Vater, den es zwar gibt, aber du hast keine Ahnung, wo. Oder einen Vater aus einem Reagenzglas, den du nicht kennst. Oder einen Vater aus einem Reagenzglas, den du zwar kennst, zu dem du aber nicht Papa sagst, weil du zu dem Mann deiner Mutter Papa sagst. Oder einen Vater aus einem Reagenzglas, zu dem du Papa sagst, obwohl er nicht der Mann deiner Mutter ist. Oder einen Vater, von dem du weißt, wo er ist, zu dem du aber nicht hindarfst. Oder du hast zwei Väter, die auf Männer stehen. Oder zwei Väter, die beide Frauen sind, aber lesbisch."
Abkehr vom Patriarch
Vaterschaft ist heute vielfältig, denn der Vater, der einst als autoritäres Familienoberhaupt seine Kinder als Besitz vorführte, existiert nicht mehr. Bereits in der Aufklärung entwickelte sich beim Adel und gebildeten Bürgertum die Einsicht, dass der Vater als Erzieher und Vorbild für das Glück seines Kindes zuständig ist. Mit der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert wandelte sich der Wirkungsbereich des Vaters. Sein Arbeitsplatz befand sich nicht mehr in den häuslichen Räumen, Frauen und staatliche Institutionen übernahmen die Erziehungsarbeit.
Durch die Gleichberechtigung der Frau und das Erbe der 68er Generation hat sich die Vaterschaft erneut verändert. Nicht mehr Befehlen wird nun in der Familie gefolgt, sondern seit den 1970er Jahren wird verhandelt. Dadurch sind auch die Kinder in alle möglichen Familienprobleme involviert und zeitgleich ist die Literatur für Kinder und Jugendliche in der Moderne angelangt. Die Familie als kleinste Zelle der Gesellschaft existiert auch weiterhin und doch ist zu beobachten, dass die klaren Orientierungsmuster und Rollenvorbilder für das Vaterbild fehlen. Diese Entwicklung spiegelt die Literatur seit vielen Jahren, mal ernsthaft realistisch, aber auch komisch unterhaltsam.
"Keine heile Welt vorspielen"
Der Kinderbuchautor Oliver Scherz muss allerdings gar nicht lang nachdenken, wenn er nach seiner Vaterrolle befragt wird:
"Ja, ich kann sagen, dass ich ganz grundsätzlich am wichtigsten finde, das man emotional miteinander umgeht und offen ist und auch aufrichtig. Das versuche ich auch meinen Kindern vorzuleben, ich möchte mich nicht verstellen ihnen gegenüber und so sein, wie ich bin. Auch kein heiles Familienbild oder keine heile Welt vorspielen, sondern sie dürfen alles mitbekommen. Ich möchte sie dadurch sehr ernst nehmen."
Susanne Weber findet es ideal, wenn beide, Vater und Mutter, viel Zeit mit ihren Kindern verbringen können. Aber:
"Ich glaube auch, dass es nicht mehr so festgelegt ist, wie eine Mutter zu sein hat und wie ein Vater zu sein hat. Das verschwimmt natürlich irgendwie. Aber auch bei uns gibt es so bestimmte Sachen, die die Kinder lieber mit dem Vater oder mit mir machen, irgendwie rumtoben ist dann doch eher mit dem Papa und Lego spielen und andere Sachen, die sie dann lieber mit mir machen. Aber das ist vielleicht auch von den Persönlichkeiten dann jeweils abhängig."
"In seine eigene Kindheit zurückrutschen"
"Also in erster Linie sollte der Vater präsent sein, sehr viel mehr als früher. Er sollte Zeit mit den Kindern verbringen und er sollte auch die Fähigkeit haben, tatsächlich in seine eigene Kindheit zurückrutschen zu können, für den Moment, um sich besser einfühlen zu können, so in die Bedürfnisse des Kindes und auch in die Gedankenwelt der Kinder."
... meint die Autorin Deniz Selek und beschreibt bereits die Vaterfigur, die oftmals im Bilderbuch anzutreffen ist. Hier ist der Vater, in welcher Gestalt auch immer, einfühlsam, ein ruhender Fels in der Brandung und zugleich verständnisvoller Beschützer, so in dem Bilderbuch von Philipp Correntin "Papa!", in den Bilderbüchern von Martin Waddell, z.B. "Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?" oder in Carl Noracs Hommage an den Vater "Mein Papa ist ein Riese".
Verloren im Sandkasten
In dem Bilderbuch "Das brauch ich alles noch!" von Petra Postert und Jens Rassmus fantasieren Papa und Jim aus all den Utensilien, die sie in Jims Hosentasche finden, eine aufregende Abenteuergeschichte. Laut Studien würde ein Drittel der Väter gern mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. In seinem Bilderbuch "Sohntage" erzählt der Autor und Illustrator Philip Waechter von einem schlaksigen, jungen Vater, der sich nach der Geburt seines Sohnes liebevoll um ihn kümmert. Er wickelt ihn, tobt mit ihm, hört mit ihm Fußballübertragungen, sucht den engen Körperkontakt, sammelt Erfahrungen und fragt doch unsicher seine Frau:
"Meinst du, er hat mich schon ein bisschen lieb?"
Philip Waechter macht Lust auf die Zweisamkeit mit einem Kind. Augenzwinkernd zeigt er die Sonnenseiten und verschweigt nicht, dass Vaterschaft weniger Freiheit und Flexibilität, geringere Risikobereitschaft und Schlafmangel mit sich bringen. Und er spiegelt in seinen situativen Illustrationen die gesellschaftliche Realität, z.B. wenn der Vater neben vielen laut und wichtig daherredenden Müttern als einziger Mann stumm und ein bisschen verloren im Sandkasten sitzt.
Kind bewusst wahrnehmen
Von tatsächlich gelebter Vaterschaft erzählt die Berliner Autorin Susanne Weber in ihren Vorlesegeschichten "Paul & Papa". Paul wächst in einer intakten Familie auf und Papas Bürojob ermöglicht es, dass er seinen Sohn am Nachmittag vom Kindergarten abholen kann. Susanne Weber hat ihrem ganz persönlichen Umfeld viel abgelauscht.
"Ja, da steckt viel Autobiographisches drin, die sind nicht eins zu eins so passiert die Geschichten, sondern oft ist es ein einzelner Satz oder eine kleine Szene oder eine Situation, die im Alltag passiert ist und aus der ich dann eine Geschichte gemacht habe. Und wenn mir nichts mehr eingefallen ist, habe ich auch schon meinen Sohn gefragt, was könnte ich denn noch schreiben und dann hat er gesagt, er will unbedingt 'ne Geschichte mit einem Bagger oder der könnte jetzt mal mit dem ICE irgendwo hinfahren, der Paul. Und dann habe ich mir dazu was ausgedacht."
Susanne Webers Vaterfigur ist ein dem Kind völlig zugewandter, interessierter Erwachsener, der liebend gern und geduldig spielt, Dinge ausdiskutiert und Verständnis zeigt. Pauls Papa verkörpert einen idealisierten Vater, der nicht der beruflichen Karriere hinterherhechelt und sein Kind bewusst wahrnimmt.
"Paul und Papa machen ein Spaghetti-Wett-Schlürfen und die Soße spritzt nur so herum. Auf Papas und Pauls T-Shirts sind lauter rote Flecken. 'Gewonnen!' ruft Paul, als die letzte Nudel in seinem Mund verschwindet. 'Das ist gemein', sagt Papa mit verschmiertem Mund. 'Meine Portion war viel größer!'
'Hihi', kichert Paul, als auch Papa fertig ist. 'Dein Mund sieht aus wie von einem Monster!' 'Deiner auch', sagt Papa und schneidet eine Grimasse."
'Hihi', kichert Paul, als auch Papa fertig ist. 'Dein Mund sieht aus wie von einem Monster!' 'Deiner auch', sagt Papa und schneidet eine Grimasse."
Verlorene Zeit
"Ja, ich denke der Vater holt seine Kindheit zum Teil nach. Bei der einen Geschichte, wo es ums Aufräumen geht, da sagt er ja auch, dass sein eigener Vater wenig Zeit für ihn hatte und das er das sehr schade fand. Man merkt auch, dass er das ihm ein bisschen übel nimmt. Und ich glaube, er holt sich das auch wieder, in der Zeit, die er mit seinem Sohn jetzt verbringen kann."
Nie fällt ein böses Wort zwischen Vater und Sohn und wenn mal schlechte Laune aufkommt, dann dauert diese nie lang an. Entstanden sind zwanzig warmherzige Wohlfühl - Geschichten, in denen eigentlich gar nicht viel passiert.
"Ich habe mir das wirklich nicht so vorgenommen und mir überlegt, was damit möglich ist. Ich schreibe auch sehr schnell, sehr impulsiv, das fließt einfach aus mir raus, das ist unser Alltag, den wir so erleben und sicherlich steckt auch von mir ein Teil in Papa drin."
Gelassene Väter
Ziemlich gelassene Väter sind die beiden Papas von Hanna in Markus Orths' Erstlesebuch "Das Zebra unterm Bett". Papa Paul und Papa Konrad sind schon etwas verwundert als sie Bräuninger, das lebendige und sprechende Zebra an Hannas Seite entdecken. Komisch ist, dass die Väter nichts hinterfragen und sich mehr darum sorgen, dass Hanna und das Zebra nach ihren Nutellabroten auch ordentlich die Zähne putzen. Hannas Schulkameraden gewönnen sich schnell an Bräuninger. Die Tatsache, dass Hanna zwei Väter hat, finden sie allerdings merkwürdig.
Der Vater als verlässlicher Held mag im Bilderbuch und den Vorlesegeschichten noch seine Berechtigung haben, im Kinder- und Jugendbuch wird er jedoch kritischer und durchaus realistischer reflektiert. So erzählt zum Beispiel der sonst so schweigsame Vater in Salah Naouras Kinderroman "Matti und Sami und die größten Fehler des Universums" eine fette Lügengeschichte. Sohn Matti nimmt sich freudig ein Beispiel am Vater und flunkert heftig, was zur Folge hat, dass die Familie alle Zelte in Deutschland abbricht und völlig mittellos in Finnland strandet. Väter versagen, wenn ihre Welt gefährliche Risse bekommt, so in Ursula Poznanskis neuem Jugendroman "Layers". Der 17- jährige Dorian kann den prügelnden und im Selbstmitleid versinkenden Vater, der den frühen Tod seiner Frau beklagt, nicht mehr ertragen und landet auf der Straße.
Das Aufbegehren
Der Rückzug des Vaters aus einer schwierigen Lebenssituation ist auch ein Thema in Finn - Ole Heinrichs Trilogie "Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt".
Die zehnjährige, eigenwillige Paulina, Maulina genannt, begehrt als Ich-Erzählerin vehement gegen den Vater auf, obwohl sich die Mutter getrennt hat. Maulina nennt ihn nur noch "der Mann".
"Und das ist überhaupt die größte Gemeinheit, dass der Mann alles kriegt und wir nur ein Plastikhaus in einer Scheißstraße mit lauter Nachbarn, die sogar zu alt sind, um einem noch schwungvoll den Buckel runterzurutschen. Das verstößt gegen alle Logik. Wir sind zu zweit, er ist allein. Das gebietet doch die heilige Gerechtigkeit, dass er seine Sachen packt und sich vom Acker macht und nicht Mama und ich. Das verstehe ich nicht!"
Ohnmächtige Wut
Der Vater lässt Maulina ihre ohnmächtige Wut und ihre maßlos ungerechte Kritik an seinem Verhalten austoben. Er weiß, das Kind muss mit dem Schicksalsschlag klarkommen, dass die Mutter an einer tödlichen Krankheit leidet. Immer wieder sucht er die Nähe der Tochter und lebt doch, was Maulina verärgert, längst sein eigenes Leben mit neuer Familie.
Dass Väter allein die Kinder großziehen, ist eher die Ausnahme. Christian Duda erzählt in seinem neuesten Kinderbuch "Elke" von Kasimir und seinem alleinerziehenden Vater. Gerade am Morgen geht wie in vielen Familien alles nicht schnell genug.
"Vor allem für Vater. Sein Kind musste früh aufstehen, obwohl nur Vater pünktlich ins Büro musste. Sein Kind durfte nicht träumen, weil er Verpflichtungen hatte. Er hatte ein schlechtes Gewissen, auch weil er nachmittags pünktlich aufhören musste, um nicht zu spät in den Kindergarten zu kommen. Vater wurde von der Uhr gehetzt, den Zwängen und Schwierigkeiten – von den Zufällen ganz zu schweigen."
Der gehetzte Vater
Als wunderbarer Zufall wird die dicke Elke in Kasimirs Leben treten und ihre Hilfe dem gehetzten Vater anbieten. Stressen Kasimirs Vater die Konflikte des Alltags und der Wunsch, alles richtig zu machen, so kümmert sich Lissies alleinerziehender Papa Jakob in David Almonds Kinderbuch "Mein Papa kann fliegen" um ganz andere Dinge. Er schiebt sich Wanzen, Fliegen oder Tausendfüßler in den Mund und macht im Schlafanzug seltsame Flugversuche. Seine Tochter ahnt, der Vater will sich für den Menschen-Vogelflug-Wettbewerb anmelden. Allerdings ist ihm klar, dass die Sache mit dem Abheben und Dahinsegeln gar nicht so einfach ist. Lissie muss ihn unterstützen.
"Lissie und Papa standen zusammen an der Tür, beide trugen ihre Flügel. Sie waren erschöpft, aber sie waren auch so froh, so stolz auf sich. Lissie lehnte sich an ihren Papa und sagte, er habe recht, sie seien ein fantastisches Team. ... Da fiel Papa ein, was sie als Nächstes tun könnten, und er lachte leise in sich hinein."
'Wir brauchen ein Nest, Lissie', sagte er."
'Wir brauchen ein Nest, Lissie', sagte er."
Der peinliche und der Phantom-Vater
Nur Tante Doreen ist über das Verhalten des Vaters, der doch Autorität ausstrahlen sollte, empört. David Almond kündigt mit seiner kindisch naiven Vaterfigur das vermeintlich sichere Rollenmuster auf. Jakobs Beschäftigung hat keinen wahren Wert und doch schmiedet gerade diese Flugaktion Vater und Tochter zusammen. Ist Lissie zu Beginn der Geschichte in der falschen Rolle als diejenige, die die Ordnung in die Welt bringen soll, so wird sie auch wieder zum Kind, in dem Moment, wo der Vater seine verrückte Idee gemeinsam mit ihr in die Tat umsetzen will.
Manche Väter sind ein bisschen peinlich und wieder andere sind für manche Kinder ein schwer greifbares Phantom, z.B. wenn der Vater sozusagen aus dem Glasröhrchen stammt. Der niederländische Autor Gideon Samson erzähl in seinem Buch "70 Tricks, um nicht baden zu gehen" von Gidd, der den Schwimmunterricht abgrundtief hasst.
"Mama erzählt, dass Opa auch kein großer Schwimmer war. Dass ich es also genauso gut von ihm haben kann.
'Wieso hast du keinen Meisterschwimmer genommen?'
'Wie meinst du das?'
'Na', sage ich, 'man kann doch wählen, ob man einen Vater mit blauen Augen will oder mit braunen... Bestimmt kann man sich auch aussuchen, dass er sehr gut im Schwimmen ist.'"
'Wieso hast du keinen Meisterschwimmer genommen?'
'Wie meinst du das?'
'Na', sage ich, 'man kann doch wählen, ob man einen Vater mit blauen Augen will oder mit braunen... Bestimmt kann man sich auch aussuchen, dass er sehr gut im Schwimmen ist.'"
Der abwesende, unsichtbare Vater
Aber Gidds Mutter hat sich überhaupt nichts ausgesucht. Sie nennt sich eine bewusst alleinerziehende Mutter und ihr Kind kann noch nicht mal den unbekannten Vater für seine Schwimmunfähigkeit verantwortlich machen. Der abwesende, unsichtbare Vater, ob er nun von seiner Vaterschaft Kenntnis hat oder nicht, beschäftigt aktuell und international viele Autoren. Oftmals spüren die jungen Protagonisten in den Geschichten den verschollenen Vater gegen den Willen der Mütter auf. Sie sehnen sich nach einer Vaterfigur, von der sie überrascht oder enttäuscht sind oder sie sind in der Phase, in der sie nach ihrer eigenen Identität suchen und diese Leerstelle in ihrem Leben ausfüllen müssen. Ob es dann wirklich zu einer Annäherung zwischen Vater und Kind kommt, wird offen gelassen. Meistens existiert ein Vorname vom Vater, aber in den wenigsten Fällen gibt es für die Nachforschungen ein Bild. Und so kauft sich die fünfzehnjährige Eve, die Hauptfigur und Ich-Erzählerin in Deniz Seleks Jugendbuch "Aprikosensommer", einen antiken Bilderrahmen für ein mögliches Foto vom Vater. Aber auch das ist eine Illusion.
"Sie hat im Grunde nur eine leere Fläche, sie hat eigentlich das Nichts. Sie kann sich den Vater nicht wirklich vorstellen, sie stellt ihn sich natürlich auch immer mal wieder vor. Aber es ist eigentlich genauso, wie es im Buch beschrieben, es ist ein leerer Rahmen und dahinter scheint im Grunde ihr Zimmer durch, d.h. sie guckt in diesen Rahmen und sieht immer nur das Vertraute, was sie kennt."
Eves Mutter verweigert kategorisch jegliche Auskunft über den Vater, der, das weiß die Tochter zumindest, aus der Türkei stammt. Als Eves Eltern sich während der Ferien verliebten, waren beide gerade mal 18 Jahre alt. Erst zurück in Deutschland bemerkt Eves Mutter die Schwangerschaft. Sie ahnt, welche vor allem familiären Hürden beide nehmen müssten, um zueinander zu kommen und entschließt sich, ihr Kind allein großzuziehen. Für Eve wird diese bewusste und sicher nicht leichte Entscheidung der Mutter zu einem richtigen Problem.
Mutter gefangen in Angst
"Sie war in der Zeit mit ihrem Kind beschäftigt, konnte gewisse Entwicklungen einfach nicht machen und sie ist, was die emotionale Entwicklung angeht, noch recht naiv und kindlich und deshalb sind diese Reaktionen von ihr so heftig und eigentlich ja auch nicht wirklich nachvollziehbar. Wenn man ein Kind hat, natürlich hat das ein Anrecht darauf, zu wissen, wer der Vater ist. Aber die Mutter ist noch in sich gefangen, in dieser Angst. Oh, Gott, was passiert denn, wenn ich den tatsächlich finde. Was passiert denn dann mit mir?"
"Alle paar Jahre gebe ich seinen Namen im Internet ein, um zu gucken, was er macht und ob es Fotos von ihm gibt, doch ich finde nie eine Zeile von ihm. Keinen Hinweis auf seine Person, nichts. Weil ich dir die Enttäuschung ersparen wollte, habe ich so lange geschwiegen." Vielleicht aber auch, um deine eigene Enttäuschung zu vergessen, dachte ich und guckte meine Mutter an, ohne sie auf ihre Lüge hinzuweisen ..."
"Mir war diese Sehnsucht für diese Geschichte am allerwichtigsten, diese Suche und auch den emotionalen Konflikt mit ihrer Mutter, den wollte ich herausstellen. Das war ein wichtiger Moment, weil das ja vielen Jugendlichen so geht, dass sie gerade in diesem Alter einen starken Konflikt mit ihrer Mutter bekommen, dieser Ablöseprozess von der Mutter, das eigenständig sein wollen, seine eigenen Ziele verfolgen und diese auch wirklich, ja, durchsetzen."
Tagträume über den Vater
Diese Auseinandersetzung führen aber nicht nur rebellierende Jugendliche. Auch der kleine Stig, den alle Zwiebelchen nennen, empfindet seinen unsichtbaren Vater als psychische Belastung. Immer wieder fragt er seine Mutter nach dem Papa, der in Stockholm leben soll. Ihn nervt das Mitleid der anderen Kinder. In ihrer Geschichte "Frohe Weihnachten, Zwiebelchen!" verdeutlicht die schwedische Autorin Frida Nilsson, wie viele hoffnungsvolle Gedanken und Tagträume ein Kind mit dem abwesenden Vater verbindet und wie wenig die Argumente der Mutter gegen ihn nützen.
"'Dieser Mann. Ich wollte ihn nicht. Ich wollte nur dich.'
Da sagt Zwiebelchen etwas, das er noch nie zuvor gesagt hat, aber was er schon sehr, sehr oft gedacht hat. Vielleicht jeden Tag: 'Aber ich wollte ihn.' Mama schluckt. Ihre Augen schwimmen."
Da sagt Zwiebelchen etwas, das er noch nie zuvor gesagt hat, aber was er schon sehr, sehr oft gedacht hat. Vielleicht jeden Tag: 'Aber ich wollte ihn.' Mama schluckt. Ihre Augen schwimmen."
Als Zwiebelchen verzweifelt auf seinem geklauten Fahrrad im dicksten Schnee Richtung Stockholm radelt, wird ihm klar, dass der Papa ihn vielleicht nicht wollte. Ein völlig abwegiger Gedanke, den die Mutter zum Glück geraderücken kann.
"'Ich habe nie begriffen, wie sehr du ihn haben willst. Ich dachte, ich würde dir reichen. Verzeih mir, Zwiebelchen. Ich habe nur an mich gedacht.'"
Selbstherrliche Mütter
Der richtige Vater wird in dieser Geschichte nicht auftauchen, denn die Mutter hat wirklich keine Ahnung, wie Zwiebelchens Vater heißt oder wo er wohnt. Aber der Junge findet einen Papa und den sucht er sich selbst aus. Mütter entscheiden eigenmächtig und auch selbstherrlich über die Beziehung oder Nichtbeziehung von Vater und Kind. Wie die Kinder jedoch damit umgehen, diese Motiventwicklung muss nicht zwangsläufig zu traurigen Geschichten führen. In vielen komödiantischen Varianten, so z.B. in Anna Woltz' Kinderbuch "Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess" wird erzählt, wie ein resolutes elfjähriges Mädchen ihren unbekannten Vater erobert, dessen Namen sie im Reisetagebuch der Mutter findet. Sie sucht seine Adresse im Internet und lädt ihn ohne Wissen der Mutter unter einem Vorwand ins Ferienhaus ein. Tess will ihren ahnungslosen Vater erst mal prüfen, um dann zu entscheiden, ob sie ihm wirklich sagt, wer sie ist. Mit ihrem Ferienfreund Samuel, der gleich die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter feststellt, teilt sie ihr Geheimnis und ihre Erwartungen.
"'Wie kann ich denn wissen, dass dieser Mann mein Vater ist? Ich kenne ihn doch gar nicht! Ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen. Ich habe ihn mir angeschaut, aber ich habe nichts gespürt. Rein gar nichts!'
Ich trat einen Schritt zurück, denn sie schrie so, dass Spucketröpfchen flogen.
'Gar nichts?', fragte ich. 'Kein Bibbern oder Seufzen oder ein winziges Kribbeln?'
'Jetzt weiß ich es', sagte sie heiser. 'Die Erwachsenen belügen uns. Sie tun, als wäre Familie was ganz Besonderes. Aber eigentlich steckt nichts dahinter.'"
Ich trat einen Schritt zurück, denn sie schrie so, dass Spucketröpfchen flogen.
'Gar nichts?', fragte ich. 'Kein Bibbern oder Seufzen oder ein winziges Kribbeln?'
'Jetzt weiß ich es', sagte sie heiser. 'Die Erwachsenen belügen uns. Sie tun, als wäre Familie was ganz Besonderes. Aber eigentlich steckt nichts dahinter.'"
Entscheidungen der Erwachsenen ausgeliefert
Ohne die emotionale Situation des Kindes zu verharmlosen, erzählt Anna Woltz mit viel Situationskomik von der überforderten Tess und ihren ehrlichen Bemühungen um den Vater. Das Gefühl, den Entscheidungen der Erwachsenen ausgeliefert zu sein, kennen viele Kinder, auch der elfjährige Carlo. Er greift wie Tess in Oliver Scherz' Kinderbuch "Keiner hält Don Carlo auf" zur Eigeninitiative. Der Junge sehnt sich nach seinem italienischen, ziemlich unzuverlässigen Papa, den die Mama rigoros in Bochum vor die Tür gesetzt hat. Alle großartigen Versprechungen, die der Papa am Telefon verkündet, gehen nicht in Erfüllung. Und so beschließt Carlo, allein zum Vater nach Palermo zu reisen, in der Hoffnung ihn zurückzuholen. Immer wieder denkt Carlo während der abenteuerlichen Fahrt an den Papa und erinnert sich an gemeinsame Gespräche.
"'Weißt du Carlo, warum wir beide so dick sind?', hat er mich beim letzten Mal am Telefon gefragt. 'Wegen der Kürbiskerne', hab ich gesagt.
'Quatsch. Damit wir uns sehen können, wenn wir uns von den Balkonen aus zuwinken.' Das fand ich lustig. Aber Papas Balkon ist eben in Italien und meiner in Bochum. Papa sagt oft Sachen, die gut klingen, aber eigentlich ganz anders sind."
'Quatsch. Damit wir uns sehen können, wenn wir uns von den Balkonen aus zuwinken.' Das fand ich lustig. Aber Papas Balkon ist eben in Italien und meiner in Bochum. Papa sagt oft Sachen, die gut klingen, aber eigentlich ganz anders sind."
"Der Carlo idealisiert seinen Vater ein Stück weit oder man könnte auch sagen, er sieht ihn etwas einseitig. Er findet ihn witzig, voller Lebensfreude oder das er stark ist, und das ist der Papa ja auch. Aber die Kehrseite, die dieser Vater als Lebemann so mit sich bringt, dass er seiner Verantwortung nicht so nachkommt, die beginnt der Carlo erst zu sehen, so im Laufe seiner langen Reise. Und dann hinterfragt er ja seinen Vater ja auch immer mehr bis es am Ende ja auch zu der offenen Aussprache kommt im Buch, die sehr wichtig ist auch, für beide. Die ja zumindest Hoffnung macht auf Veränderung."
Der Idealtyp
Ein Vater, der kompetent, emotional und aktiv sich an der Kindererziehung beteiligt, partnerschaftlich agiert und die finanzielle Versorgung der Familie absichert, mag ein Ideal sein. Dabei hat der moderne Vater, wenn er von seiner Vaterschaft weiß, heutzutage verschiedene Optionen. Er kann sich entscheiden, was für ein Vater er sein will, ein engagierter oder nur anwesender, ein Sonntagsvater oder ein unsichtbarer.
Wie Kinder und Jugendliche ihre Väter wirklich wahrnehmen, schmerzlich vermissen oder hoffnungsvoll suchen, davon erzählt die realistische Kinder- und Jugendliteratur ernsthaft, glaubwürdig und unsentimental.
Literaturhinweise:
Frida Nilsson: Frohe Weihnachten, Zwiebelchen!, Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2015, 122 Seiten, €12,95, 978-3-8369-5860-8
Susanne Weber, Susanne Göhlich ( Ill.): Paul & Papa, mixtvision Verlag, München 2015, 70 Seiten, €11,90, 978-3-95854-027-9
Oliver Scherz, Peter Schössow ( Ill.): Keiner hält Don Carlo auf, Thienemann Verlag, Stuttgart 2015, 107 Seiten, €9,99, 978-3-522-18395-6
Finn-Ole Heinrich, Rán Flygenring ( Ill.), Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt, Carl Hanser Verlag, München 2014, 180 Seiten, €12,90, 978-3-446-24627-0
Philip Waechter: Sohntage, Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2014, 56 Seiten, €9,95, 978-3-407-79369-0
Anna Woltz: Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess, Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann, Mit Bildern von Regina Kehn, Carlsen Verlag, Hamburg 2015, 176 Seiten, €10,99, 978-3-551-55099-6
Deniz Selek: Aprikosensommer, Fischer Kinder- und Jugendbuchverlag, TB, Frankfurt a.M. 2015, 283 Seiten, € 9,99, 978-3-7335-0066-5
David Almond: Mein Papa kann fliegen, Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther, Carl Hanser Verlag, München 2007, 117 Seiten, €12,90, 978-3-446-23304-1
Christian Duda: Elke, Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2015, 159 Seiten, €12,95, 978-3-407-82082-2
Guus Kuijer: Wir alle für immer zusammen, Aus dem Niederländischen von Sylke Hachmeister, cbj, München 2005, TB, 93 Seiten, €9,99, 978-3570-21417-6
Frida Nilsson: Frohe Weihnachten, Zwiebelchen!, Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2015, 122 Seiten, €12,95, 978-3-8369-5860-8
Susanne Weber, Susanne Göhlich ( Ill.): Paul & Papa, mixtvision Verlag, München 2015, 70 Seiten, €11,90, 978-3-95854-027-9
Oliver Scherz, Peter Schössow ( Ill.): Keiner hält Don Carlo auf, Thienemann Verlag, Stuttgart 2015, 107 Seiten, €9,99, 978-3-522-18395-6
Finn-Ole Heinrich, Rán Flygenring ( Ill.), Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt, Carl Hanser Verlag, München 2014, 180 Seiten, €12,90, 978-3-446-24627-0
Philip Waechter: Sohntage, Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2014, 56 Seiten, €9,95, 978-3-407-79369-0
Anna Woltz: Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess, Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann, Mit Bildern von Regina Kehn, Carlsen Verlag, Hamburg 2015, 176 Seiten, €10,99, 978-3-551-55099-6
Deniz Selek: Aprikosensommer, Fischer Kinder- und Jugendbuchverlag, TB, Frankfurt a.M. 2015, 283 Seiten, € 9,99, 978-3-7335-0066-5
David Almond: Mein Papa kann fliegen, Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther, Carl Hanser Verlag, München 2007, 117 Seiten, €12,90, 978-3-446-23304-1
Christian Duda: Elke, Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2015, 159 Seiten, €12,95, 978-3-407-82082-2
Guus Kuijer: Wir alle für immer zusammen, Aus dem Niederländischen von Sylke Hachmeister, cbj, München 2005, TB, 93 Seiten, €9,99, 978-3570-21417-6