„Der schnelle Tod ohne Vorbereitung und Nachdenken ist nicht das, was Camus selbst als Ideal des Abschieds rühmen würde. Im Gegenteil: Der kalte Schnitt ins Leben bedeutet (...) die zugespitzte Sinnlosigkeit im Schicksal der Sterblichen“,
schreibt Martin Meyer in seiner Camus-Monografie und betont das Absurde von Camus‘ Tod im Auto seines Verlegers Michel Gallimard. Angesichts der damals ungeheuer hohen Zahlen an Verkehrsopfern erscheint der Tod im Auto dagegen als alltäglich und banal.
Vor dem angeblich absurden Tod Camus‘ erschauert auch Iris Radisch umso mehr, als sie ihre Biografie aus der Perspektive dieses frühen Todes schreibt:
„In seiner letzten Rolle ist er ein Verzweifelter, der zu ‚seinem Stern‘ zurück möchte. Im April 1959 zieht Camus Bilanz: (...) ich muss eine neue Wahrheit aufbauen – nachdem ich mein Leben lang in einer Art Lüge gelebt habe.‘ Ihm bleiben noch 251 Tage, um auf seinen Stern zurückzufinden.“
Niemand lebt indes aus der Perspektive seines Todes, jedenfalls, wenn er als Unfalltod nicht absehbar ist. Camus wusste nichts von den 251 Tagen. Ein Leben lässt sich nicht vor dem Hintergrund eines überraschenden Todes verstehen. Man kann Intentionen nicht von späteren Ereignissen her interpretieren, wenn diese nicht absehbar sind. Wenn Camus sein wichtigstes philosophisches Werk Der Mythos von Sisyphos im Februar 1942 abschließt, steht es noch unter dem Eindruck des unaufhaltsamen Vormarsches von Nazi-Deutschland. Dass Paris gut zwei Jahre später wieder befreit sein wird, lässt sich noch nicht absehen.
Tuberkulose und Frauengeschichten
Dass der eigene Tod für Camus an vielen Stellen seines Werks bedrohlich aufscheint, liegt vielmehr an seiner Tuberkulose-Erkrankung, die ihn seit seiner Jugend immer wieder dramatisch heimsucht. Damals war Tuberkulose in Europa noch eine häufige Todesursache. Diese Perspektive wird bei Iris Radisch zu wenig betrachtet. Im Vordergrund ihrer dezidiert biografischen Darstellung stehen stattdessen Camus‘ Frauengeschichten, auf die Martin Meyer in seinem an Camus‘ Werken orientierten Buch indes dezidiert nicht weiter eingeht. Dazu bemerkt er:
"Aber so, wie es tatsächlich war, war das nicht wirklich bedeutungsvoll. Man weiß auch relativ wenig, am meisten vielleicht noch über Maria Casarès, schöne dunkelhaarige Schauspielerin, die in vielen seinen Stücke jeweils aufgetreten ist, und es gab dann noch eine ganze Reihe von jüngeren bis sogar sehr jungen Frauen und Mädchen. Er war nun tatsächlich ein Homme à femme. Das ist nicht zu leugnen. Aber wie es damals in dieser Zeit ohne Handys, Facebook und Twitter noch möglich war, man konnte das relativ gut verbergen."
Was Camus vor allem zutiefst erschütterte, das war die Entwicklung in Algerien. Schon 1945 kommt es zu einem großen Aufstand der arabischen Bevölkerung gegen die französische Kolonialherrschaft. In den Fünfzigern verschärft sich der Befreiungskampf, der von beiden Seiten brutal geführt wird. Darauf geht Iris Radisch stärker biografisch ein. Martin Meyer interpretiert vor diesem Hintergrund seine späten Werke. Er sagt:
"Er war ja Algerienfranzose und hatte einerseits Verständnis dafür, dass die Bevölkerung, die arabische Bevölkerung, die muslimische Bevölkerung endlich zu ihren Rechten gelangt. Aber er hatte sich erhofft in Bezug auf Algerien, dass die dort ansässigen Algerienfranzosen gleichwohl ihre Rechte behalten konnten."
Zukunftweisende Vision oder unsinnige Hoffnung?
Camus plädierte dafür, dass die arabische Bevölkerung weitergehende Rechte bekommen soll. Das war aber nicht genug. Iris Radisch erklärt dagegen Camus‘ Position als wegweisend, wenn sie schreibt:
„Camus‘ ‚weiche‘ politische Vision für den Mittelmeerraum als überstaatliche, europäisch-muslimische Konföderation der vielen Stimmen, des Nichtbegradigens von Unterschieden und der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen entspricht mehr denn je dem heutigen Denken in einem postideologischen und universal vernetzten Zeitalter. Das (. . .) Denken Camus‘ hat sich als zukunftweisende Vision herausgestellt.“
Die Konflikte in der arabischen Welt bis heute und die ablehnenden Reaktionen in Europa auf den Wunsch der Türkei EU-Mitglied zu werden, bestätigen die Worte von Iris Radisch gerade nicht. Bereits seit Mitte der Fünfzigerjahre wurde das eine unsinnige Hoffnung. Sie brachte Camus' Kritik vonseiten arabischer Intellektueller wie von der französischen Linken ein, während viele Algerienfranzosen zu keinen Kompromissen bereit waren und ihre vorherrschende Position verteidigten. Martin Meyer:
"Man hat ihm dann einen gewissen verkappten Kolonialismus vorgeworfen. Es war wirklich für ihn ein sehr trauriges Erlebnis zu sehen, dass dieses Land sich nicht in dieser Art von dialogischer Harmonie würde sich zusammenfügen, wie er sich das vorgestellt hatte und wie er es als Kind eben auch noch erlebt hatte, sondern dass das alles in eine ganz andere Richtung ging und danach hat er sich auch nach dieser algerischen Enttäuschung nicht mehr politisch geäußert."
Camus hat sich in den letzten Jahren vor seinem Tod 1960 daraufhin mit seiner Autobiografie, und zwar in Romanform, beschäftigt unter dem Titel Der erste Mensch. Das unvollendete Werk erschien erst in den Neunzigerjahren. Camus schildert seine Kindheit in ärmsten Verhältnissen mit einer Mutter als Analphabetin.
"Es ist aber vielleicht auch sein entspanntestes, sein schönstes Buch, weil es wirklich im Stil von Marcel Proust Kindheitserinnerungen, Kindheitsmuster aufruft und diese zu sehr bunten aber auch nachdenklichen Szenen fügt."
Radisch wird Sartre nicht gerecht
Camus hatte sich indes bereits seit den frühen Fünfzigerjahren mit der französischen Linken, insbesondere mit der Gruppe um Jean-Paul Sartre darüber zerstritten, ob man die sowjetischen Konzentrationslager kritisieren soll. Sartre wollte dabei vor allem nicht die bürgerliche Presse unterstützen. Camus war nicht bereit, darüber zu schweigen. Iris Radisch widmet dieser Auseinandersetzung viele Seiten mit einer sehr unausgewogenen Argumentation, die Sartre nicht gerecht wird, hat sie Sartre wahrscheinlich entweder nicht gelesen oder nicht verstanden. Martin Meyer geht auf diese Auseinandersetzung behutsamer ein. Im Zentrum steht Camus‘ 1951 erschienenes zweites großes philosophisches Buch Der Mensch in der Revolte, in dem Camus einerseits dem revoltierenden Menschen seiner Zeit eine lange Vorgeschichte zuschreibt. Andererseits weist er auf die aus der Revolte heraus entstandenen Verbrechen insbesondere des Totalitarismus hin. Martin Meyer betont indes stärker die allgemeinmenschlichen Aspekte des Werkes:
"Auch da in diesem ausgreifenden und ein wenig umstrittenen Essay über den Menschen zeigt sich, dass Camus nicht nur geschichtlich und geschichtsphilosophisch denkt und argumentiert, sondern auch fundamentalanthropologisch. Was ist der Mensch? Woher kommt er? Was bewegt ihn letztlich? Wo und wie scheitert er? Wo und wie sucht er Hoffnung und wo und wie wird er enttäuscht?"
Ähnlich weniger zeitbezogen versteht Martin Mayer auch Camus‘ Mythos von Sisyphos. Es entwirft in den Jahren des nazideutschen Vormarsches ein Konzept des Widerstands im Angesicht seiner Aussichtslosigkeit, das berühmte Camus’sche Trotzdem. Andererseits geht es von einer existenziellen Situation aus, die Iris Radisch ähnlich beschreibt wie Martin Meyer:
"Der Mensch sucht nach Sinn, begreift sein eigenes Leben in der Endlichkeit und Sterblichkeit und erwartet von der Schöpfung eigentlich den Zuspruch dieses Sinns und realisiert dabei, dass es ihn nicht gibt oder dass er ihn nur selbst konstruiert. Und diese Geworfenheit in ein Dasein ohne Sinnerfüllung und Heilsgewissheit, das bewirkt dann auch entsprechend das Gefühl des Absurden. Bei Sisyphos ist es ja interessant, dass dieser Mythos von Camus ja sozusagen auf den Kopf gestellt wird. Am Ende schreibt Camus ja, man müsse sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen, und zwar gerade dann, wenn er vom Berg wieder runtersteigt, um dann den Stein von Neuem zu stemmen, das heißt, im Grunde genommen ist das eine Einwilligung in die Endlichkeit des Daseins. Etwas anderes ist für Camus unvernünftig zu erwarten."
Grundproblem Algerien
Martin Meyers Monografie versucht dabei Camus’ Denken immer wieder an seine philosophischen Anfänge zurückzubinden. Camus schreibt 1936 seine Diplomarbeit nämlich über das Verhältnis zwischen spätantiker Philosophie und dem Christentum der Kirchenväter. Das weitet den Blick auf Camus als gelernten Philosophen, den Sartre nicht anerkennen wollte. Aber Sartre legte als Bester seines Jahrgangs 1929 sein Staatsexamen an der Pariser Eliteuniversität École normale supérieure ab, Camus ‚nur‘ an der Universität von Algier, in der Kolonie.
Man verengt zudem den Blick auf Camus, wenn man ihn auf seine Pariser Zeit in den Vierzigerjahren reduziert. Camus‘ Grundproblem bleibt Algerien. Er sucht nach einem mittelmeerischen Denken, das Sonne und Strand prägen, ein Denken des Maßes, wie es Iris Radisch betont. Sie zitiert Camus:
„Aufgewachsen im Anblick der Schönheit, die mein einziger Reichtum war, hatte ich in der Fülle begonnen. Dann war der Stacheldraht dazwischengekommen, das heißt die Tyrannei, der Krieg, die Polizei, die Zeit der Revolte. Man musste mit der Nacht leben lernen: Die Schönheit des Tages war nur noch eine Erinnerung.“
Camus‘ Tragik bleibt, dass sich diese Nacht nur kurz während der Befreiung Frankreichs aufhellte, aber bald darauf in Algerien wieder verdunkelte. Vor allem dort wurde er brutal angefeindet und vom Präsidenten der Republik De Gaulle nicht mehr ernst genommen. Camus war ein Kind des Kolonialismus und dieser war am Ende. Darüber konnten ihn sein Ruhm und der Nobelpreis 1957 schwerlich hinwegtrösten. Die Entwicklung Algeriens nach seinem Tod bis heute hätte ihn wahrscheinlich entsetzt.
Martin Meyer: Albert Camus - Die Freiheit leben, Carl Hanser Verlag, München 2013, gebunden, 368 S.
Iris Radisch: Camus - Das Ideal der Einfachheit - Eine Biografie, Rowohlt, Reinbek 2013, zahlreiche Abbildungen, gebunden, 352 S.