Eine Dreiviertelstunde dauerte die Rede, der Wirbel, den sie ausgelöst hat, bezieht sich auf das letzte Drittel. Da sprach Sibylle Lewitscharoff, nachdem sie sich anhand dreier Beispiele - ihrer Großmutter, ihres Vaters und ihrer Mutter - ausgiebig mit dem Sterben auseinandergesetzt hatte, über die Entstehung von Leben. Pränatale Diagnostik und Abtreibung waren die ersten heiklen Punkte, die sie streifte und deren seelische Kosten für die Frauen sie thematisierte.
"Verstehen Sie mich jetzt aber bitte nicht falsch. Ich zähle mich nicht zu den Abtreibungsgegnern, niemals würde ich ein Begehren unterschreiben, das den Paragrafen 218 wieder einführen möchte. Ganz gewiss nicht."
Doch dann ging es um die sogenannte Reproduktionsmedizin, die unfruchtbaren Paaren häufig eine Möglichkeit eröffnet, Kinder zu bekommen. Sibylle Lewitscharoff hält zwar die Umstände, unter denen so etwas im Labor vollzogen wird, für widerwärtig, aber sie findet es verständlich, dass Frau und Mann so etwas versuchen, wenn es auf natürlichem Wege nicht klappt.
"Grotesk wird es aber spätestens in anderen, inzwischen durchaus zahlreichen Fällen, in denen sich Frauen Spermien aus einem Katalog verschaffen, worin die Rasse und gewisse körperliche Merkmale und soziale Eigenschaften des anonymen Samenspenders verzeichnet sind, oder in denen sich lesbische Paare ein Kind besorgen, indem entweder ebenfalls ein anonymer Spender oder ein naher Verwandter der Freundin der künftigen Mutter herangezogen wird, um sein Sperma abzuliefern.
Dabei ist eine Selbstermächtigung der Frauen im Spiel, die mir zutiefst suspekt ist. Im Grunde liegt solchen Machinationen die Vorstellung zugrunde, Männer seien verzichtbar, oder ihr Einfluss sei auf das Notwendigste zu reduzieren, eben auf ihren Samen. Als Väter kommen sie jedenfalls nicht in Frage. Am Schönsten wäre es für diese Frauen gewiss, man könnte den Samen selbst auch noch künstlich erzeugen und mit einem im Voraus definierbaren Bündel an erwünschten Merkmalen ausstatten, was bisher noch nicht möglich ist."
Sibylle Lewitscharoffs Vater war ein an Depressionen leidender Gynäkologe. Er hat sich umgebracht, als sie elf Jahre alt war. Sie selbst ist absichtsvoll kinderlos geblieben. Aber sie hat genügend Vorstellungsvermögen, um die metaphysischen Zustände und Prozesse zu beschreiben, die mit dem Wunder der Mutterschaft einhergehen.
"Absolut grauenerregend ist auch die Praxis, ein Kind durch eine Leihmutter austragen zu lassen. Sie kommt zwar selten vor, treibt die Widerwärtigkeit aber auf die Spitze. Nicht nur, dass dafür meistens Frauen aus armen Ländern als Gebärmaschinen herhalten müssen. Diese wahrhaft vom Teufel ersonnene Art, an ein Kind zu gelangen, verkennt völlig, welche Bedeutung das Erleben eines Embryos im Mutterleib hat. (...)
Eine Leihmutter, die sich aus ökonomischen Verzweiflungsgründen zu so etwas hergibt, wird sich ganz gewiss nicht erlauben können, mütterliche Gefühle zu hegen, zumal sie ja weiß, dass ihr das Kind sofort nach der Geburt genommen werden wird."
"Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe"
Dass die Autorin im Wesentlichen aus christlicher Sicht spricht, tritt nicht bloß zwischen den Zeilen hervor; sie hat selbst darauf hingewiesen, wie wichtig ihr der Glaube an Gott ist. Das unterscheidet sie von Peter Sloterdijk, auf dessen 14 Jahre alten Text "Regeln für den Menschenpark" sie an einer Stelle anspielt. Vielleicht schwante ihr, dass ihre Rede ähnlich skandalisiert werden würde. Vielleicht drückte sie deshalb mit den folgenden Wendungen noch extra auf die Tube:
"Mit Verlaub, angesichts dieser Entwicklungen kommen mir die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden blauäugigen SS-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor. Ich übertreibe, das ist klar, übertreibe, weil mir das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse derart widerwärtig erscheint, dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas. Das ist gewiss ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft."
Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff hat mit ihrer Dresdner Rede keine Vernunftübung abgeliefert, sondern ein Gefühlsgeständnis. Allerdings zu einem Thema, das tatsächlich höher ist als alle Vernunft.