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Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters

Wie oft ist er so beschrieben worden: als barocker Kraftmensch und Original-Genie, als genialer Erzähler und künstlerisches Allround-Talent, als ewiger Mahner und zäher Nörgler. Als ein Dichter, der sich politisch unentwegt und unermüdlich einmischt, nie still sein kann und damit immer wieder für Aufruhr sorgt. Wie oft hat man ihn literarisch für erledigt erklärt: nach "örtlich betäubt", nach den "Kopfgeburten", nach der "Rättin" und dem "Weiten Feld". In jedem Jahrzehnt seit der "Blechtrommel" wurde die große literaturkritische Hinrichtung ausgerufen, die er ein ums andere Mal triumphal parierte, mit dem "Butt", den "Unkenrufen", zuletzt mit "Im Krebsgang". Und der Nobelpreis hat auch international endgültig darüber entschieden: Günter Grass ist der größte lebende Schriftsteller der Deutschen. Dass hier die Maus keinen Faden abbeisst, an diesem Status nur noch die starrsinnigsten Kritiker rütteln, ist für den Biographen Michael Jürgs ausgemachte Sache. In solch Grundstimmung schreibt er sein Buch: als sagenhafte success story eines Mannes, der aus beengten kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt, es mit Kühnheit, Kraft und Trotz zur unschlagbaren Kombination von künstlerischem Weltruhm und Reichtum bringt, und dem allein schon dafür Anerkennung und unbedingter Respekt gebühren.

Joachim Scholl |
    Das ist der hagiographische rote Faden in dieser Biographie, ein Fürstenlob und –preis, zugleich die lustvolle Attacke auf die intellektuelle maladie allemande, nie richtig und rückhaltlos den Erfolg bewundern zu können oder zu wollen. Michael Jürgs tut es unverhohlen, er ist stolz auf seinen, auf unseren Dichter, schlägt sich entschlossen auf dessen Seite und die seines Millionenpublikums, das im Buchladen, bei Lesungen und Auftritten allen mäkelnden Kritikerstimmen noch stets die letztlich zählende Abfuhr erteilt hat. Aber dieser zunächst volltönende Einklang täuscht. Als gestandener Journalist ist Jürgs klug genug, die Hinterhältigkeiten einer Biographie zu Lebzeiten zu erkennen: Wie bleibt man distanziert und kritisch, wenn der große Mann seinen Biograph einlädt, man lange zusammensitzt, bei Tee, im Pfeifenrauch? Schwer ist es dann, sich aus dieser, im Fall von Grass bekanntlich machtvollen Aura zu lösen und dem stählernen Blick des andern auf’s Manuskript zu widerstehen. Jürgs umgeht diese Nettigkeits- und Einverständnisfalle, indem er sie offen benennt, sich als Biograph beim Schreiben selbst beobachtet und seine Position immer wieder überprüft. Das mag mancher als Eitelkeit auslegen, bisweilen wirkt es auch kokett, aber so gelingt dem Autor das Kunststück, Sympathie mit kritischer Distanz zu verknüpfen, das Ego des Künstlers zu kraulen und ihm gleichzeitig liebevoll das Fell zu gerben, wobei das widerborstige Naturell von Grass jener Prozedur überaus hilfreich ist.

    Der Selbstironie völlig abhold, fordert Grass Ergebenheit, jeder, der sich ihm nähert, muss den Kotau vollziehen, um ernst genommen zu werden. "Dieser Großdichter kann gar nicht anders, er muss angehimmelt sein" - diese Bemerkung der SPIEGEL-Redakteurin Ariane Barth, die Jürgs zitiert, ist stellvertretend für zahlreiche Stellen, an denen der Biograph jene Sucht des Dichters nach permanenter Bewunderung schildert, die den Umgang mit ihm so schwierig macht, automatisch Distanz schafft und dem Biographen die kritische Darstellung erleichtert.

    Mit zunehmender Popularität empfindet Grass jede Form von Widerspruch als Majestätsbeleidigung, "er liebt den Disput", schreibt Jürgs, "den Disput über sein Werk weniger". Den Hang auch zur politischen Besserwisserei dokumentiert Jürgs kühl mit zahlreichen Belegen, vom Ausspruch Rudolf Augsteins, Grass sei "nerviger als Helmut Schmidt" bis hin zum bösen Wort von Bundeskanzler Brandt, man solle ihm bloß diesen "Klugscheißer" Grass vom Leibe halten. Michael Jürgs interpretiert den Lebensweg von Grass nach eigenen Worten als "eine auch ganz deutsche Geschichte", und überhaupt sind es die spannendsten Kapitel, in denen die politische Entwicklung des "Bürgers" Grass geschildert werden. Minutiös und mitreißend erzählt Jürgs von diesen Jahren des Engagements, als Grass 1969 für "Willy" im VW-Bus über’s Land fuhr, 31 000 Kilometer, 94 Veranstaltungen, die Reden beim Fahren in eine Reise-Schreibmaschine gehackt und eine Zigarette nach der anderen, Marke Schwarzer Krauser, selbstgedreht. Wie ein Biograph angelsächsischer Couleur liebt Jürgs solche Details – auch das Autokennzeichen BN-AV 36 darf nicht fehlen - , und gerade diese Kleinigkeiten machen Bild und Klima lebendig. In groben Zügen kennt man das zwar alles, aber Jürgs‘ akribische Recherche verdeutlicht noch einmal, wie singulär und im Wortsinn sensationell es war, dass ein deutscher Schriftsteller, Bestseller- und Skandal-Autor, in Stadthallen, öffentlichen Plätzen und Gasthöfen vor das Mikrofon trat, Stellung bezog und die Häme, die nicht nur von der konservativen Presse, sondern auch seitens der Autorenkollegen reichlich kam, achselzuckend ertrug.

    Die germanistische Fachwelt hat sich inzwischen längst darauf geeinigt, diese Phase der Grass-Biographie als literarisch wenig ertragreich einzustufen, und die Bücher "örtlich betäubt" und das "Tagebuch einer Schnecke" demgemäß herablassend behandelt. Michael Jürgs ist kein Literaturwissenschaftler und hält sich von solchen Analysen wohltuend fern. Vielmehr zeigt seine Betrachtung, wie selbstverständlich bei Grass Leben und Werk ineinander fließen, wie entscheidend die Herkunft, die biographische Erfahrung von Krieg und Entwurzelung, das Gefühl politischer und historischer Verantwortung nach Terror und Völkermord für den ästhetischen Prozeß sind, aus dem heraus die Prosa, die Lyrik, Zeichnungen und Skulpturen entstehen. Man kann es begrüßen wie kritisierend vermissen: Jürgs hat sich gegen eine Werkbiographie entschieden und für ein Buch, das auf eine große, unakademische Leserschaft abzielt.

    Mit Freude wirft sich der Autor denn auch auf "den Ehemann. Den Vater. Den Menschen", wie es an einer Stelle, etwas pompös typographisch abgesetzt, heißt. Aber obwohl sich der ehemalige STERN-Chefredakteur hier heißere Nachrichten etwa zum Komplex "Grass und die Frauen" versprochen hatte – daraus wurde nichts, der Dichter schwieg hartnäckig, wie der Biograph ein wenig bekümmert notiert - fördert er doch wiederum interessante Bezüge zum Verständnis von Werk und Vita zutage. Die notorische erotische Treulosigkeit der vielen Grass’schen Helden verbunden mit rührendstem Familiensinn – auch das gehört zum Wesen des Dichters, der sich am liebsten als fürsorglicher Patriarch im Kreis der Frauen, der vielen Kinder und Enkel sieht. Und der Chef steht selbst am Herd.

    Heinz Ludwig Arnold hat jüngst in der FAZ darauf hingewiesen, auf welch natürliche Weise bei Grass zwischen Künstleratelier und Familientisch das Material für seine Literatur gefördert werde. Man erinnere sich an die ersten Sätze im "Butt": "Ilsebill salzte nach. Bevor gezeugt wurde, gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen, weil Anfang Oktober." Kochen und Erotik, Sinnenfreuden nebst family values – es macht großen Spaß, dieses Ambiente von Michael Jürgs erzählt zu bekommen. Da ist er dann wieder ganz eins mit dem tollen Kerl und frechen Macho. Und wenn dann die Tische beiseite gerückt werden, Musik erklingt und der Hausherr das Tanzbein schwingt, da tanzt der Biograph förmlich mit. "Nie habe jemand schöner getanzt, dies sei das Beste gewesen, was er seit zwanzig Jahren gesehen habe", soll ein Orchester-Musiker bei der Nobelpreisfeier in Stockholm bewundernd gesagt haben. Und nicht nur beim Tango. Sondern auch beim Rock’n’Roll mit verschiedenen Töchtern von verschiedenen Müttern. Das glauben wir auf’s Wort.