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Bürgerdialog in Ostbelgien
Per Los in die Politik

Das deutschsprachige Parlament in Belgien beteiligt seine Bürger an der Regionalpolitik: In einem Bürgerdialog dürfen Menschen ihrer Regierung Themen und mögliche Umsetzungen vorschlagen. Wer in dieser Arbeitsgruppe mitmachen darf, darüber entscheidet das Los.

Von Christoph Schäfer |
Das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Eupen, Belgien
Die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien beteiligt seine Bürger in einem Bürgerdialog des Parlaments. (Deutschlandradio/ Christoph Schäfer)
"Liebe Mitbürgerin, lieber Mitbürger, das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft hat Sie ausgelost."
So beginnt ein Brief, den rund 1000 Menschen in Ostbelgien erhalten haben. Verfasst hat ihn Anna Stuers. Sie hat Bürgerinnen und Bürger ausgewählt, die sich künftig stärker politisch in der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien einbringen können – in einem Bürgerdialog des Parlaments: "Es geht darum, dass Bürger ihre Meinung sagen können und den Politikern sagen können, was ihnen wichtig ist, welche Themen ihnen wichtig sind."
Politikverdrossenheit in Ostbelgien
Anna Stuers ist die ständige Sekretärin des Bürgerdialogs -und begleitet dessen Arbeit. Anna Stuers zufolge macht Politikverdrossenheit auch vor der deutschsprachigen Gemeinschaft mit ihren rund 77.000 Bewohnern nicht halt: die Menschen würden politische Entscheidungen nicht immer nachvollziehen können, so die ständige Sekretärin. Mit dem Bürgerdialog solle sich das jedoch ändern.
Dahinter verbergen sich konkret zwei Gremien: Im Bürgerrat legen die Mitglieder Themen fest, die sie bewegen und ihre Region betreffen. Zum Beispiel das Angebot an Kindertagesstätten. Dazu erarbeiten Mitglieder in der Bürgerversammlung Handlungsempfehlungen. Ihre Ideen legen sie ihrem Parlament und ihrer regionalen Regierung abschließend vor.
Die Besonderheit: Die Mitglieder des Bürgerdialogs werden ausgelost. Auf diese Weise soll laut Anna Stuers sichergestellt werden, dass die Zusammensetzung auch repräsentativ für die Bevölkerung der Gemeinschaft ist: "Also dass wirklich alle Altersgruppen, Wohnorte und sozioökonomischer Hintergrund, Geschlecht querbeet vertreten sind. Und diese Bürger hier sind ausgelost, um einmalig am Bürgerdialog mitzuwirken."
Die notwendigen Daten stammen aus Melderegistern und postalischen Befragungen. 115 Menschen haben sich auf das Experiment eingelassen. Sie werden an mehreren Wochenenden, innerhalb weniger Monate ihre Themen festlegen - für ein Anwesenheitsgeld von mindestens 64 Euro pro Sitzung.
"Immer kamen dieselben Personen"
"Das ist so ziemlich mein Baby, ja." Alexander Miesen hat den Bürgerdialog mit aus der Taufe gehoben. Er war bis Mai Parlamentspräsident für die Deutschsprachige Gemeinschaft. Nun ist er ihr Senator im nationalen Parlament in Brüssel.
In der Kaffeebar erinnert sich Alexander Miesen an erste Versuche mit Bürgerbeteiligungen in Ostbelgien: "Das hat so funktioniert, dass wir eine Projektidee haben, haben dann eingeladen und immer kamen dieselben Personen zu diesen Veranstaltungen. Deswegen auch das Losverfahren. Um auch mal Bürgerinnen und Bürger an den Tisch zu bekommen, die nicht üblicherweise an diesen Tischen sitzen. Und das macht Sinn." Auch Alexander Miesen hofft, dass die Bürgerinnen und Bürger im Zuge des Experiments politische Entscheidungsprozesse besser nachvollziehen können.
Aber ob die ausgelosten Mitglieder über ausreichend Expertise verfügen, um politisch mitzuentscheiden? "Menschen sind wirklich dazu bereit, sich in ein Thema einzulesen, sich zu informieren und Experten zuzuhören", meint Yves Dejaeghere. Er ist Politologe an der Universität in Antwerpen und hat als Mitglied des Think Tanks G1000 das Konzept des Bürgerdialogs mitentworfen.
"Ich glaube, es geht eher um die Motivation als um Wissen." Maßgeblich für seine Arbeit waren internationale Erfahrungen zu Bürgerbeteiligungen, etwa Referenden und Bürgerräte, in Irland, Polen, Australien und Kanada – die zeitlich begrenzt und nur zu einzelnen Themen wie der gleichgeschlechtlichen Ehe oder dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch anberaumt worden waren.
Im ostbelgischen Eupen wird längerfristiger gedacht. Der Bürgerdialog soll die Arbeit des Parlaments kontinuierlich begleiten.
Experiment ist durch Verfassung begrenzt
An seine Handlungsempfehlungen ist die regionale Regierung allerdings nicht gebunden. Das liegt laut Senator Alexander Miesen an der belgischen Verfassung: "Es ist immer noch das gewählte Parlament, dass die Verantwortung trägt und die Entscheidungen fällt - zusammen mit der Regierung natürlich. Aber wir sind dann letztlich doch soweit gegangen, wie es uns die Verfassung erlaubt, indem wir uns einer größtmöglichen Selbstverpflichtung unterworfen haben. Weiter kann man momentan nicht gehen. Aber ich glaube, das ist schon ein guter Schritt." Und die liegt darin, dass die Regierung öffentlich Rechenschaft ablegen muss, wenn sie einer Handlungsempfehlung nicht folgt.
Anna Stuers ist dennoch optimistisch. Ihr zufolge kann der Bürgerdialog auch als rein beratende Institution wirksam sein: "Hinzu kommt, dass die Politik ein gewisses Interesse hat, weil sie ihn ja selbst in die Wege geleitet hat. Deshalb denke ich, dass auch ein gewisses Interesse besteht, das Ganze als Kompass anzusehen."
Erste Erfahrungen mit der neuen Institution macht die deutschsprachige Gemeinschaft in Ostbelgien mit 12 der Ausgelosten. Sie beginnen ab jetzt mit ihrer Arbeit.