Ein kleines Mädchen weint vor Angst, weil die AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Kommunalwahl in Istanbul verloren hat. Diese Aufnahme ging nach der ersten Istanbuler Wahl vom 31. März durch die sozialen Medien der Türkei.
Istanbul sei verloren, schreit das Kind verzweifelt, jetzt würden die Terroristen kommen. Nein, beruhigt die Mutter das Mädchen: Sie solle brav ihre Koransuren beten, dann werde sich das Wahlergebnis sicher ändern und Istanbul zur AKP zurückkehren.
Graben aus Angst, Ablehnung und Misstrauen überwinden
Mit dieser Prognose behielt die Mutter Unrecht, wie sich jetzt bei der Wahlwiederholung zeigte. Die Szene illustriert aber, welchen Graben an Angst, Ablehnung und Misstrauen die Opposition zu überbrücken hatte, um die Wählerinnen und Wähler der AKP zu erreichen. Dass es der kemalistischen CHP gelang, neben ihrer eigenen Basis und vielen taktisch wählenden Kurden auch etliche AKP-Wähler auf ihre Seite zu ziehen, ist ein wahres politisches Kunststück, das nicht nur mit dem Charisma ihres Bürgermeisterkandidaten Ekrem İmamoğlu zu erklären ist. Architekt dieses Erfolges ist der CHP-Parteistratege Ateş İlyas Başsoy, dessen Wahlkampfkonzept für die Türkei ganz neuartig ist. Başsoy nennt es "radikale Liebe":
"Radikale Liebe bedeutet, auch die Menschen zu lieben, die uns nicht mögen. Wenn man einen Menschen liebt, weil es einem zum Vorteil gereicht, dann ist das keine wahre Liebe. Wenn jemand sein Kind nur deshalb liebt, weil es ihn einst im Alter unterstützen soll, dann ist das keine wahre Liebe. So ist es auch mit der Liebe der AKP für das Volk: Sie liebt nur jene, die sie unterstützen, und beschimpft die andere Hälfte des Landes als Abschaum. Die CHP hat in ihrem Kommunalwahlkampf ausdrücklich alle Menschen umarmt, auch und gerade die Bürger, die uns nicht wählen."
Handbuch "Radikale Liebe" als Anleitung für den Wahlkampf
Wie das funktionieren kann, hat Parteistratege Başsoy in seinem "Buch der radikalen Liebe" aufgeschrieben - einem Handbuch, mit dem alle Wahlkampfhelfer der CHP geschult wurden. In vierzehn Punkten erläutert Başsoy darin ausführlich, wie die CHP-Wahlkämpfer auftreten sollten. Seine Tipps: Keine Beleidigungen; keine Unterstellungen; kein erhobener Zeigefinger; keine Besserwisserei; kein Hochmut; kein Sarkasmus; weniger reden, mehr zuhören; immer lächeln; und: Vorsicht in den sozialen Medien.
Anderswo mag es selbstverständlich erscheinen, Wähler nicht zu beleidigen, wenn man ihre Stimmen gewinnen will. In der Türkei ist das radikal und neu, sagt Başsoy: "Unsere Wähler sind alle freundliche und verbindliche Menschen, aber wenn sie in ein Caféhaus gehen und mit Wählern anderer Parteien über Politik diskutieren, geraten sie sofort in Streit. Sie werden wütend, und sie gebrauchen eine sektiererische Sprache, die andere Menschen abstößt."
Neuer Politikstil
Die CHP tritt nun für eine andere politische Kultur ein. Mit ihrer Umarmungs-Strategie war sie nicht nur in Istanbul erfolgreich, schon im März eroberte sie bei den Kommunalwahlen Ankara, Antalya, Adana und andere türkische Städte. Viele Wähler und Wählerinnen haben offenbar die unerbittliche Polarisierung satt, mit der Staatspräsident Erdoğan sie in jedem Wahlkampf gegeneinander aufwiegelte. Der neue Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu dagegen ist die lebende Verkörperung der "radikalen Liebe". Seine Siegesrede nach der wiederholten Wahl eröffnete er mit diesen Worten:
"Fasst bitte alle den Mitbürger neben euch bei der Hand und erhebt gemeinsam die Hände. Alle zusammen, Hand in Hand! Wir sind angetreten, um zu versöhnen, um uns zu begegnen, um uns zu verstehen, um uns zu lieben. Istanbul! Die Liebe hat gewonnen, die Liebe!"