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Reflexionen über ein gespaltenes Land
Bürgerrechte, Gruppenidentität und Demokratie in Israel

Das Primat der Gruppenidentität in Israel schuf eine Ordnung, die einzelne Gruppen privilegierte, andere marginalisierte und die Zusammenarbeit erschwerte. Braucht Israel 74 Jahre nach der Staatsgründung eine gemeinsame staatsbürgerliche Identität?

Von Daniel Cil Brecher |
Verschiedene Marktbesucher auf dem Machane-Jehuda-Markt in Jerusalem
Marktbesucher auf dem Machane-Jehuda-Markt in Jerusalem (imago images / Winfried Rothermel)
Der ehemalige Staatspräsident Reuven Rivlin nannte sie „die vier Stämme Israels“: die ultra-orthodoxen Juden, die zionistisch gesinnten religiösen Juden, die weltlichen Juden und die Palästinenser. Sie leben nicht miteinander, sondern nebeneinander und oft gegeneinander.
Die Gruppenidentitäten sind Teil eines 1948 geschaffenen institutionalisierten Kommunalismus, der sich in separaten Parteien, getrennten Schulsystemen und in einer gesetzlich verankerten Hierarchie ausdrückt. Das autonome Personenstandsrecht der Gruppen (Heirat, Scheidung, Erbrecht) schränkt zudem individuelle Bürgerrechte stark ein.
Das System gerät jetzt unter Druck, unter anderem durch demographischen Wandel und Entideologisierung. Im Juni 2021 trat zum ersten Mal eine palästinensische Partei einer israelischen Regierung bei. Gleichzeitig kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Juden und Palästinensern in gemischten Städten.

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Der politische Charakter des Staates Israel ist schwer zu fassen. „Die einzige Demokratie im Nahen Osten“, „Apartheidstaat“, „Ethnokratie“, „Nationalstaat der Juden“. Diese Floskeln entstammen dem Grabenkrieg des israelisch‑palästinensischen Konflikts. Eine in Israel gerne gebrauchte Formel spricht vom Staat als „jüdisch“ und „demokratisch“, zwei Attribute, die sich nach mehrheitlicher Meinung in Israel nicht gegenseitig ausschließen. Die Spannung zwischen dem universalistischen Anspruch von „demokratisch“ und der ethnischen Bestimmung „jüdisch“ ist allerding nicht zu übersehen.
Die Formulierung „jüdisch“ und „demokratisch“ tauchte verfassungsrechtlich 1985 in einer Reihe von neuen Grundgesetzen auf. Sie sollten fast 40 Jahre nach der Staatsgründung die bürgerlichen Grundrechte sowie die demokratischen Prozeduren neu beschreiben. Die Unabhängigkeitserklärung von 1948, die bis dahin als Richtschnur galt, hatte nicht von Demokratie, sondern nur vom „jüdischen Staat“ gesprochen und den staatlichen Aufgaben, die damit verbunden waren. Darunter befand sich die „jüdische Einwanderung und die Heimholung des Exils“ als zentrale Aufgabe.
Mit den palästinensischen Bürgern Israels als neuer politischer Kraft wird sich Daniel Cil Brecher 2022 auch in einem Feature beschäftigen.
Jüdische Einwanderung in großem Umfang bildete die wichtigste Voraussetzung für eine zumindest formelle Versöhnung von „jüdisch“ und „demokratisch“. Ohne jüdische Mehrheit kann die Idee vom Staat für Juden auf demokratische Weise nicht gewährleistet werden. Gleichzeitig sicherte die Unabhängigkeitserklärung den nichtjüdischen Bewohnern des Landes „soziale und politische Gleichberechtigung“ und „gleichberechtigte Vertretung in allen staatlichen Organen“ zu. Mehrdeutigkeit war also von Anfang an angelegt.
Die Unabhängigkeitserklärung bietet einige Einsichten in das entstehende Paradigma vom „Jüdischen Staat“. Die Erklärung erfolgte nicht im Namen der Bewohner des Landes, auch nicht der jüdischen, sondern im Namen des „jüdischen Volkes“. Das jüdische Volk war allerdings nicht befragt worden und wohnte größtenteils anderswo. Zur Zeit der Staatsgründung befanden sich etwas mehr als eine halbe Million Juden im Land, rund fünf Prozent der damals 12 Millionen Juden der Welt. Die nichtjüdischen Bürger, 65 Prozent der Bewohner Palästinas und fast die Hälfte der Bevölkerung im avisierten Staatsgebiet, werden nur einmal erwähnt, als „Mitglieder des arabischen Volkes, die Bewohner des Staates Israels sind“.
Am 30. Juni 1948 um 12:45 Uhr wird im Hafen von Haifa die britische Flagge, der "Union Jack", endgültig eingezogen.
Am 30. Juni 1948 um 12:45 Uhr wird im Hafen von Haifa die britische Flagge, der "Union Jack", endgültig eingezogen. Laut UN-Beschluß sollten die letzten Briten bis zum 15. Mai 1948 Palästina geräumt haben. (picture-alliance / dpa / AFP)
Der Text gibt auch die avisierten Gruppenbeziehungen an. Der neue Staat verwirkliche das „Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung“ in „seiner Heimat“. Damit komme dem jüdischen Volk der „Rang einer gleichberechtigten Nation in der Völkerfamilie“ zu. Die Vorstellungswelt des Zionismus war im Kontext des europäischen Kolonialismus und Nationalismus entstanden.
Die Zionistische Bewegung konnte sich auf den kolonialen Mythos der Verfügbarkeit berufen, der Gebiete im Globalen Süden europäischen Besiedlungsprojekten eröffnete. Und sie bezog sich auf europäische Vorstellungen von „Nation“, einer kulturell und ethnisch homogenen Bevölkerung, die Staatlichkeit besitzt oder anstrebt. Juden seien als staatenlose, transnationale Minderheit Opfer ihrer Staatenlosigkeit geworden, analysierte der Zionismus. Das Problem könnten sie nur durch Nationalstaatlichkeit lösen. Diese Idee einer Kongruenz von Territorium, Volk und Staat nahm die Zionistische Bewegung mit in den Nahen Osten.
Israel wurde zum Nationalstaat des jüdischen Volkes erklärt, während den nichtjüdischen Bewohnern ein anderer Status zukommen sollte. Als Mitglieder des „arabischen Volkes“ wurden sie als Teil einer transnationalen Ethnizität definiert, die Heimat und nationale Rechte woanders suchen sollten. Wer Araber war, konnte in Palästina beheimatet sein, aber hier keine nationale Heimat besitzen. Die Unabhängigkeitserklärung sicherte den Juden also Rechte als Gruppe zu, den anderen nur als Individuen.
Das Verlangen nach einem jüdischen Nationalstaat in dieser Umgebung, und gleichzeitig nach Gleichheit und Freiheit aller Bürger, war also nur wenig schlüssig. Die Bevölkerungsmehrheit wurde zwar von Juden gebildet, dem intendierten Staatsvolk. Eine verlässliche Mehrheit von Juden aber war erst kurzfristig durch Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948 entstanden. Der jüdischen Sache zu dienen bedeutete also zuerst Förderung der Einwanderung der einen und Verhinderung der Rückkehr der anderen. Von Gleichheit - selbst für Einzelne - konnte nicht die Rede sein.
Gleichzeitig wurden die verbliebenen Palästinenser, die für die jüdische Mehrheit die Gegner des Bürgerkrieges von 1948 darstellten, unter Militärverwaltung gestellt. Ihre vollen demokratischen Rechte blieben bis 1966 suspendiert. Erst danach konnten palästinensische Bürger am demokratischen Leben teilnehmen und damit beginnen, das Versprechen der Unabhängigkeitserklärung auszuloten.
Angehörige der israelischen Küstenwache untersuchen ein im Mai 1948 an der Küste bei Tel Aviv niedergegangenes ägyptisches Flugzeug.
Angehörige der israelischen Küstenwache untersuchen ein im Mai 1948 an der Küste bei Tel Aviv niedergegangenes ägyptisches Flugzeug. Nach dem Ende des britischen UN-Mandats für Palästina hatte der Nationalrat der Juden am 14. Mai 1948 im Stadtmuseum von Tel Aviv den Staat Israel ausgerufen, einen Tag später begann der erste israelisch-arabische Krieg. (picture-alliance / dpa )
Das Konstrukt des Staates für Juden schuf eine Reihe von Problemen, bei Fragen der Zuwanderung und Staatsbürgerschaft und beim Grund- und Privateigentum, das sich zum größten Teil in den Händen der Geflüchteten befand. Die Regierungen der Zeit fanden hier „kreative“ Lösungen, die allerdings weder dem Geist der Unabhängigkeitserklärung entsprachen, noch, wie sich heute abzeichnet, langfristig politische Legitimität besitzen.
Die jüdische Bevölkerungsmehrheit sah sich dabei keineswegs als Teil eines kolonialen Siedlerstaates, der langfristig zwischen unter- und übergeordneten Bevölkerungen unterscheiden wollte. Zwar hatte sich die Zionistische Bewegung der Kolonialmacht Großbritannien als Juniorpartner angeboten, aber sie predigte und lebte gleichzeitig auch politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Das zionistische Ethos hatte sich von Anfang an explizit auch auf universalistische, humanistische Werte berufen.
Das „Demokratische“ am jüdischen Staat war kein Lippenbekenntnis, sondern ein Versprechen, das aber zuerst einmal nur für die jüdische Bevölkerung galt. Die im Zionismus verwurzelte Ambivalenz, universalistisch und ethnozentrisch zugleich, unterdrückend gegenüber der Ursprungsbevölkerung, aber auch emanzipierend, ist einer der Schlüssel zum Verständnis der weiteren Entwicklung.
Die Unterscheidung zwischen den ethnisch-religiösen Gruppen des Landes beeinträchtigte die Rechte einzelner Bürger. Beim Erwerb der Staatsbürgerschaft, der Zuwanderung und Familienzusammenführung unterscheiden sich die Rechte von Juden und Nichtjuden radikal. Als Staat aller Juden stehen die Tore Israels jüdischen Einwanderern weit offen. Für die meisten Nichtjuden, und besonders für die 1948 verdrängten palästinensischen Bürger des Landes und ihre Nachkommen, bleiben sie geschlossen.
Das Primat der Gruppenzugehörigkeit kam auch in anderen Bereichen zum Ausdruck. So sah sich die erste Regierung genötigt, gruppenbezogene Regelungen im Personenstandsrecht und in der Schulerziehung einzuführen. Dahinter verbargen sich einerseits kurzfristige politische Interessen. Ben Gurion brauchte 1948 jüdisch-religiöse Parteien für eine Koalition.
Proklamation der Unabhängigkeit des Staates Israel durch Ministerpräsident David Ben Gurion im Stadtmuseum von Tel Aviv am 14.05.1948.
Proklamation der Unabhängigkeit des Staates Israel durch Ministerpräsident David Ben Gurion im Stadtmuseum von Tel Aviv am 14.05.1948. (picture-alliance/dpa/akg-images)
Andererseits hätte eine für alle Bürger des Landes gültige, universelle Grundordnung, die nicht zwischen Religion und Ethnizität unterschieden hätte, auch die Frage nach dem Status der Palästinenser aufgeworfen.
Die nichtjüdische Bevölkerung bestand im Wesentlichen aus Muslimen, Drusen, griechisch-orthodoxen und römisch-katholischen Christen. Juden teilten sich in eine große säkulare Mehrheit, in ultra-orthodoxe Gruppen, darunter die Chassidischen Sekten, die der säkular-nationalistischen Idee des jüdischen Staates feindlich gegenüberstanden; und in so genannte „national-religiöse“ Juden, ebenfalls Teil der orthodoxen Strömung, die den Zionismus bejahten. Diese Strömung inspirierte nach der Eroberung der Westbank und des Gazastreifens die Siedlerbewegung.
Die gruppenbezogenen Regelungen von Personenstandsrecht und Schulerziehung schufen einen Flickenteppich an Institutionen. Das Arrangement war eine Fortschreibung des Millet-Systems des Osmanischen Reiches, zu dem Palästina bis 1918 gehört hatte. Das Millet-System bot einige Vorteile. Die koloniale Macht konnte die untergebene Bevölkerung teilen und beherrschen, die religiösen Gruppen erhielten weitgehende Selbständigkeit und die Chance, ihre eigenen internen Hierarchien und Traditionen mit Hilfe der Staatsmacht zu konservieren.
Die britische Kolonialverwaltung hatte das System 1918 übernommen. Jetzt bestanden die jüdisch-religiösen Parteien darauf, dass diese im Ursprung koloniale und einer modernen Demokratie widersprechende Rechtsordnung auch in Israel gelten sollte. Die jüdische Orthodoxie wollte ihre Traditionen und vor allem ihre innerjüdische Vormachtstellung verteidigen, diesmal gegenüber einem jüdischen Staat.
Das gruppenbezogene Familienrecht gab die Regie über existenzielle Fragen in die Hände patriarchalischer Institutionen, die mittelalterlichen Traditionen verpflichtet sind. Die Benachteiligung von Frauen bei Scheidung und Unterhalt und von gleichgeschlechtlichen Partnern war damit zementiert. Der Staat durfte keinen zivilrechtlichen Ausweg bieten. Wer ein Mitglied einer anderen ethnisch-religiösen Gruppe zum Partner wollte, stand vor verschlossenen Türen. Jüdisches Religionsrecht lehnt interreligiöse Ehen ab, und Übertritte sind äußerst zeitraubend.
Ähnliches gilt für die meisten christlichen Denominationen. Nur unter der Scharia darf ein Muslim eine Nicht-Muslimin heiraten, die dann durch Heirat Muslima wird. Eine Muslima darf allerdings keinen Nicht-Muslim zum Ehemann nehmen. Interreligiöse Ehen sind in Israel eine seltene Ausnahme. Wer interreligiös heiraten will, muss Grenzen im wörtlichen Sinne überschreiten und zum Beispiel nach Zypern fliegen.
Die Gruppenzugehörigkeit wurde von den Bewohnern des Landes nicht in Frage gestellt, sehr wohl aber die Bevormundung durch den staatlich ermächtigten Klerus. Sie führte unter der jüdisch-säkularen Mehrheit zu einem starken Unwillen gegenüber der religiös-jüdischen Bevölkerung und ihren Parteien. Dies verfestigte wiederum innerjüdische Gruppenidentitäten. Die Abgrenzung zwischen Religiösen und Nichtreligiösen erscheint den Bürgern Israels inzwischen ebenso organisch wie die Abgrenzung zwischen Juden und Palästinensern.
Der ehemalige Staatspräsident Reuven Rivlin münzte 2015 für dieses kulturelle Schema den Ausdruck der „vier Stämme Israels“: säkular-jüdisch, religiös-zionistisch, ultra-orthodox jüdisch und „Araber Israels“. Rivlin erhob die Palästinenser damit zum vierten „Stamm“ Israels. Im Geist der Unabhängigkeitserklärung sah er sie allerdings nicht als nationale Gruppe, sondern weiterhin nur als verstreute Reste des „Arabischen Volkes“.
Reuven Rivlin war von 2014 bis zum Juli 2021 Israels zehnter Staatspräsident
Reuven Rivlin vor einer israelischen Flagge (picture alliance/dpa/Abir Sultan)
Sozial und geografisch gesehen wohnen, arbeiten und spielen israelische Bürger getrennt. Zwei Gruppen, Palästinenser und Ultra-Orthodoxe, besetzen dabei die politisch-räumliche Peripherie, in eigenen Dörfern, Stadteilen und Städten, die strukturell vernachlässigt und wirtschaftlich schwach sind.
In bestimmten Bereichen, dort, wo höhere Bildung und Einkommen die sozialen und beruflichen Grenzen überwindbar machen, kommen Gruppen zusammen. Diese begrenzte Interaktion findet in den säkularen Städten Tel Aviv und Haifa statt, an den Universitäten und zum Beispiel im Gesundheitswesen, wo palästinensisches Personal, von der Krankenschwester bis zum Oberarzt, gut vertreten ist. Bestimmend für diese gemeinsamen Bereiche von Wohnen und Arbeiten bleibt die Gruppenhierarchie: Oben steht der jüdische Mann europäischen Ursprungs, unten die Frau mit Kopftuch.
Auch das Primar- und Sekundarschulwesen trägt zum starken ethnisch-religiösen Gruppenbewusstsein bei. Kinder, die in Israel aufwachsen, begegnen nur Kindern, Lehrkräften und Eltern ihrer eigenen Gruppe. Im späteren Leben ändert sich daran fast nichts.
In allen staatlichen Schulen, auch in den arabischsprachigen, wird die Geschichte Israels, Landes- und Gemeinschaftskunde aus Sicht des zionistischen Narrativs unterrichtet. Der Lehrstoff soll die „Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel“ fördern, wie das Bildungsministerium betont. Obwohl das Programm auch im arabischsprachigen Bildungssystem angewandt wird, enthält es keine Inhalte, die sich auf die palästinensische Geschichte des Landes und die Nakba, also die Vertreibungen 1948 beziehen. Im Unterricht zum „Religiösen Erbe“ wird an arabischsprachigen Schulen Material zum Islam, Christentum und der Drusischen Religion angeboten, in hebräisch-sprachigen aber nicht.
Der Staat Israel hat sich mit der Institutionalisierung von Gruppenunterschieden ein ausgeklügeltes aber sehr anfälliges System von Marginalisierungen und Privilegierungen geschaffen. Es basiert auf den Kräfteverhältnissen von 1948. Seitdem haben vor allem die beiden marginalisierten Gruppen, die Palästinenser und die Ultra-Orthodoxen, ihren Anteil an der Bevölkerung mehr als verdoppelt. Sie machen inzwischen zusammen rund 40 Prozent der Bevölkerung aus. Mit Hilfe eigener politischer Parteien versuchen sie ihre Position zu verbessern - mit einigem Erfolg.
Das israelische Verhältniswahlrecht mit niedriger Sperrklausel setzt das Gruppenschema ins Kleinste um. Es begünstigt dabei allerdings das säkular‑zionistische Lager, das in große, etwa gleich starke links- und rechtszionistische Blöcke geteilt ist. Koalitionen beruhen meist auf sechs bis acht Parteien unter Führung von einem der beiden Blöcke und verfügen nur über sehr knappe Mehrheiten. Palästinensische und ultra-orthodoxe Parteien werden doppelt benachteiligt. Mit Mehrheitswahlrecht könnten sie in ihren kulturell homogenen Gebieten mehr Sitze erlangen. Zusätzlich erhalten sie beim Wahlgang die Quittung für ihre Staatsferne: Eine deutlich geringere Wahlbeteiligung in ihren Sektoren kostet sie jeweils etwa fünf Sitze.
Die politischen Ziele der ultra-orthodoxen Parteien beschränken sich auf den eigenen Sektor: Wahrung und Förderung eines völlig separaten religiösen und gesellschaftlichen Lebens und eines eigenen Schulsystems. Sie binden etwa 15 Prozent der Wähler an sich und haben sich mehrmals an rechts-zionistischen Koalitionen beteiligt. Sie engagieren sich kaum bei Fragen, die über die direkten Belange der ultra-orthodoxen Enklaven hinausgehen. So hat ihr Separatismus, auch ohne ideologische Präferenzen, unter anderem die Ausweitung der Besatzung und die Blockade der Zwei-Staaten-Lösung erst möglich gemacht.
Obwohl die Palästinenser 20 Prozent der Bevölkerung bilden, erhalten palästinensische Parteien regelmäßig nur rund 13 Prozent der Wählerstimmen. Nur eine der vier heute in der Knesset vertretenen Parteien, die „Vereinigte Arabische Liste“, vertritt dabei eine den Ultra-Orthodoxen vergleichbare Politik des Separatismus. Dieser Separatismus schließt Regierungsteilnahme ausdrücklich ein, allerdings mit Zielen, die auf den eigenen Sektor beschränkt sind.
Die Vereinigte Arabische Liste ist seit Juni 2021 Teil einer israelischen Regierungskoalition. Nur einmal haben palästinensische Parteien davor eine jüdisch‑zionistische Regierung unterstützt: die Minderheitsregierung unter Yitzchak Rabin, die 1992 den Friedensprozess mit der PLO einleitete.
Die Vereinigte Arabische Liste ist sozial konservativ und propagiert das Primat des Islam in Familie und Gesellschaft. Schon bei ihrer Gründung 1996 sprach sie sich für die Teilnahme an Regierungen mit jüdischen Parteien aus und stimmte für die Oslo‑Verträge und die Zwei-Staaten-Lösung. Im Gegensatz zu den anderen palästinensischen Parteien verfolgt sie eine Politik sektoraler, aber nicht nationaler Rechte.
Kurz nach der Installierung der Regierung Bennet im Juni 2021 kritisierte der palästinensische Politologe Ameer Fakhoury, dass die Vereinigte Arabische Liste ein palästinensisches „Stetl“ in Israel errichten wolle. Palästinenser fügten sich damit, schrieb er, der Logik der vier Stämme und geständen ein, dass sie mit anderen Israelis nichts Gemeinsames hätten. Für Palästinenser bedeutete dies einen einseitigen Verzicht auf das Prinzip der Staatsbürgerschaft.
Dominant sind im palästinensischen Sektor seit 20 Jahren aber andere Parteien. Deren Ziele haben sich von einem Kampf um individuelle Rechte von palästinensischen Bürgern über kollektive Rechte hin zur Forderung nach einem eignen nationalen Status entwickelt. Israels solle sich entsprechend vom „Staat der Juden“ zum „Staat aller Bürger“ transformieren.
Auch der damalige israelische Staatspräsident Rivlin sprach in seiner Grundsatzrede 2015 die Probleme der institutionalisierten Gruppenidentitäten an. Sie ist in Israel als die „Vier-Stämme-Rede“ bekannt. Rivlin wies auf die wachsende Unregierbarkeit des Landes und die Behinderung wirtschaftlichen Wachstums. Sein Hauptargument aber war von einer anderen Qualität: die zionistisch-säkulare Mehrheit des Landes beginne ihre Mehrheit zu verlieren und damit die Kontrolle über das System. 1992 hätten noch 52 Prozent der Schulanfänger das staatlich-säkulare Schulsystem besucht. 2018 würden es nur noch 38 Prozent sein. 25 Prozent würden dann arabischsprachige Schulen besuchen, und 22 Prozent ultra-orthodoxe.
Das alte Bild von der zionistisch-säkularen Bevölkerung, die das kulturelle und politische Zentrum Israels bilde, sei nicht mehr gültig. Eine neue Ordnung sei im Entstehen. Die Stämme müssten zu einem neuen Konzept der Partnerschaft übergehen, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Rivlin erkannte die kulturellen Eigenheiten der „Stämme“ ausdrücklich als wertvoll an und forderte, dass der Staat diese kulturellen Unterschiede schützen müsse. Jede Gruppe müsse wissen, dass ihre Identität nicht bedroht sei.
Seine Vorschläge legten eine Verschiebung in der ideologischen Landschaft bloß. Hier formulierte ein Rechtszionist Vorschläge, die 30 Jahre zuvor aus dem Mund eines linken Zionisten gekommen wären. Die linkszionistischen Parteien haben sich inzwischen in Richtung eines postzionistischen Realismus bewegt - einer teilweisen Anerkennung palästinensischer Anliegen und dem Willen, die Besatzung zu beenden.
Die zionistische Rechte hält dagegen weiter am Modell des jüdischen Nationalstaats fest, und damit an den gegensätzlichen Zielen von Gleichheit und ethnischer Dominanz, und an der angestrebten Kongruenz von Territorium, Volk und Staat. Diese Idee hat jedoch mit der Besiedelung der Westbank durch jüdische Israelis eine Sackgasse erreicht. Mit sieben Millionen Juden und sieben Millionen Palästinensern in „Groß-Israel“, also dem gesamten ehemaligen Mandatsgebiet ist kein jüdischer und gleichzeitig demokratischer Staat mehr zu machen.
Parallel zu Rivlins Initiative propagierten rechtszionistische Politiker ein anderes Mittel, um eine zukünftige Kollision von „jüdisch“ und „demokratisch“ abzuwenden: das sogenannte „Nationalstaatgesetz“. Dieses Gesetz, zuerst 2011 als Zusatz zu den israelischen Grundgesetzen eingebracht, wurde 2018 mit einer Mehrheit von zwei Stimmen verabschiedet. Hier wird zum ersten Mal in einem Gesetz vom Staat Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes gesprochen und von Israel als dem Ort, an dem es exklusiv nationale, kulturelle und religiöse Selbstbestimmung ausübe.
Das Gesetz rief in Israel und in der internationalen Gemeinschaft viel Kritik hervor. Die Opposition ließ seine Verfassungsmäßigkeit prüfen. Im Juli 2021 entschied der Oberste Gerichtshof, dass das Gesetz den demokratischen Charakter des Staates und das Prinzip der Gleichheit nicht negiere. Die Präsidentin des Gerichtshofs erklärte, dass das Gesetz nur das Offensichtliche deklariere: dass Israel ein jüdischer Staat sei.
Der rein deklarative Charakter des Nationalstaatgesetzes und die Tatsache, dass es mit einer Mehrheit von nur zwei Stimmen verabschiedet wurde, lässt keinen Zweifel daran, wie prekär das Verhältnis von „jüdisch“ und „demokratisch“ inzwischen ist. Sollte die heutige Konstruktion des „Nationalstaates der Juden“ eines Tages die Mehrheit verlieren, könnte Israel ohne weiteres auf das „Demokratische“ zurückfallen.
Eine Partnerschaft mit einer palästinensischen Partei war neu, aber was bedeutete sie? Koalitionen mit den Ultra-Orthodoxen hatten bislang den Rang eines ungeliebten Zweckbündnisses - eines notwendigen Übels, bei dem die Minderheit finanzielle Unterstützung für ihre peripheren Ziele erhielt im Tausch für ihre Stimmen.
Aus der Perspektive der zionistischen Mitte leben Palästinenser und Ultra-Orthodoxe in einem selbstgewählten Randdasein. Dieser Diskurs hat sich im Laufe der letzten Jahre verstärkt. Den Gruppen werden dabei Eigenschaften zugeordnet, die ihnen das Recht auf volle staatsbürgerliche Beteiligung quasi von selbst nehmen. Wie der israelische Soziologe Baruch Kimmerling vor 20 Jahren zeigte, entstand die neue israelische Identität direkt aus der Ablehnung dieser Kulturen - dem „dekadenten“ und schwächlichen Diasporajudentum und dem orientalisierten, zivilisatorisch unterlegenen „Araber“.
Die Kritik am ultra-orthodoxen Sektor richtet sich gegen das „Ghettohaftige“, das Festhalten an anti-modernen Traditionen, die Trennung der Lebenswelten von Männern und Frauen und den Verzicht auf säkulare Bildung. Die Vorstellungen über die Palästinensische Peripherie zeigen ein ähnliches Muster. Neben einem deutlichen Respektgefälle und starken kulturellen Vorurteilen werden palästinensische Politiker regelmäßig als „Terroristen“ bezeichnet oder als Unterstützer von „Hamas-Mördern“. Politiker der Linken, die in Wahlkämpfen eine mögliche Koalition mit palästinensischen Parteien nicht von vornherein explizit ausschließen, riskieren Wählerstimmen.
Die Dämonisierung palästinensischer Parteien ist vor dem Hintergrund ihrer Wahlerfolge zu einer politischen Waffe ersten Ranges geworden. Naheliegende Partnerschaften zwischen jüdischen und palästinensischen Parteien - zur Liberalisierung der Gesellschaft oder um eine permanente Lösung für die besetzten Gebiete zu finden - kamen so bislang nicht zustande. Dieses Tabu konnte nur von einer rechten Partei durchbrochen werden. Im Anlauf zu den Wahlen im März 2021 war es die Likud-Partei Benjamin Netanjahus, die um ihr Überleben kämpfte und sich offen um die Unterstützung durch die Vereinigte Arabische Liste bemühte.
Die Institutionalisierung von Gruppenidentitäten war von Anfang an mit dem Paradigma vom „Jüdischen Staat“ verbunden. Der Staat sollte mit staatlichen Mitteln den jüdischen Charakter des Landes garantieren, durch Privilegierung der Juden und Verdrängung von anderen. Ist das heute noch nötig? - Durch Einwanderung von mehr als drei Millionen Juden und der Schaffung einer jüdischen Mehrheit von 75 Prozent scheint mir die kulturelle und politische Dominanz dieser Gruppe gesichert, zumindest in Israel selbst. Die Besiedlung der besetzten Gebiete und die Entschlossenheit der zionistischen Rechten, die Gebiete zu behalten, stellen die Frage allerdings neu.
Auch generationelle Unterschiede fordern das System heraus. Unter jungen Israelis, Juden wie Palästinensern, herrscht ein zunehmender Individualismus. Sie wollen in einer modernen, liberalen Gesellschaft ohne Gruppenzwänge leben. Und auch auf ihre Eltern ist längst nicht mehr Verlass. So haben bei den Wahlen der letzten Jahre jüdische Israelis zum ersten Mal in großer Zahl palästinensische Parteien gewählt. Neue politische Allianzen von Juden und Palästinensern scheinen jetzt zum ersten Mal in Reichweite.
Wie können die Bürger Israels zu einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Identität gelangen? Die Frage der besetzen Gebiete spielt hier eine große Rolle. Auf welches Israel soll sich das Bewusstsein einer gemeinsamen Verantwortung für Staat und Gesellschaft beziehen? Auf ein demokratisches Land, dessen grundlegende Politik und Grenzen auf einem breiten Konsens beruhen? Oder auf einen Staat, der viele Schattierungen von institutionalisierter Ungleichheit in Stand hält? Ohne Konsens in diesen Fragen ist eine Zusammenarbeit der „Stämme“ zum Wohle der gesamten Gesellschaft kaum möglich.
Welche Stellung sollte den Gruppen in Zukunft zukommen? Jede Gruppe müsse wissen, sagte Präsident Rivlin, dass ihre Identität nicht bedroht sei. Er meinte damit die Randgruppen. Aber das Problem scheint mir eher bei der Identität der Mehrheit zu liegen. Die jüdische Bevölkerung hat sich lange auf staatliche Garantien für ihre Vormachtstellung verlassen. Die nicht-jüdische und nicht-zionistische Bevölkerung hat längst ihren Frieden mit dem Leben im „jüdischen Staat“ gemacht. Im Weg steht nicht mehr die Dominanz einer Gruppe, sondern die Institutionalisierung dieser Dominanz. Sie bildet die eigentliche Hürde zu einer völligen Demokratisierung Israels.