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Bugadze: Der Literaturexpress
In einem Zug von Verlierern

Der "Literaturexpress Europa 2000" war ein Projekt der Berliner Literaturwerkstatt. Vor nunmehr 16 Jahren schickten sie über 100 Autoren aus 43 europäischen Ländern in einem Zug quer durch Europa. Einer von ihnen war der georgische Autor und Literaturkritiker Lasha Bugadze. Seine Erlebnisse brachte er 2009 zu Papier, jetzt erscheint der Roman auf Deutsch.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    "Es war schrecklich! Stellen Sie sich vor, wie es ist mit 100 Autoren über sechs Wochen in einem Zug zusammenzuleben, auf engstem Raum! Eine schwierige Erfahrung. Der Sinn des Literaturexpress' war ja, neue Leser zu entdecken, ihnen neue Texte vorzustellen. Im Zug gab es aber nur Autoren, es war eine Welt ohne Leser. 100 Autoren mit ganz persönlichen Ambitionen, Interessen und Neurosen. Jeder hat versucht, sich selbst zu verwirklichen. Das Interessante war, dass wir uns in unserer Einzigartigkeit alle sehr ähnelten. Für mich war das eine Art Odyssee aus dem post-kommunistischen Raum in den Westen."
    Zaza, so heißt die Hauptfigur in Lasha Bugadzes Roman, hat keine Erklärung dafür, wieso man gerade ihn als Vertreter Georgiens für den Literaturexpress ausgewählt hat. Hat er doch gerade einmal einen schmalen Band mit Kurzgeschichten veröffentlicht, die wenig erfolgreich und im übrigen auch nicht durchgängig gelungen waren.
    "Die Deutschen hatten hundert glücklose Schriftsteller in einem Zug versammelt und ließen uns auf diese eine wichtigste Erkenntnis zurollen: Ich bin kein Schriftsteller! Das war das Ziel, das sollten alle am Ende der Reise begriffen haben, denn es war unmöglich, gegen all die Artgenossen, gegen all die literarischen Zwillinge weiterhin das eigene Schreiben zu behaupten. Sogar der Name 'Literaturexpress' war ein Witz. Sie machten sich über uns lustig![...] Tatsache war, dass ich in einem Zug von Verlieren saß."
    Zaza und sein Landsmann, der Lyriker Zwiad, sind sich einig: Nur weil die russische Armee in Georgien einmarschiert, erhält die Literatur aus dem vergessenen Kleinstaat am Schwarzen Meer pflichtgemäß ein wenig Aufmerksamkeit. Lasha Bugadze schreibt seinen beiden Georgiern einen dunklen Humor auf den Leib, dass es nur so kracht.
    Humor und Alkohol als Schmiermittel
    "Dieser Sarkasmus ist eine Art von Selbstschutz. Der Humor ist in diesem Sinn charakteristisch für die georgische Kultur. Die Menschen haben sich so vor den Sowjets geschützt, vor dem Chaos nach 1990, aber auch vor dem Einmarsch der Russen in Georgien im Jahre 2008. Dieser Humor hat durchaus auch einen hysterischen Zug, weil einem nichts anderes bleibt, als zu lachen. Auch für Zaza und Zwiad ist der Sarkasmus vor allem Selbstschutz. Sie ärgern sich darüber, dass man in Europa nicht zu verstehen scheint, welches Leid und welchen Schrecken man in Georgien während des Krieges 2008 durchlebt hat."
    Bereits der Bus, der die 100 Schriftsteller am Startpunkt Lissabon zum Zug bringt, ist "voll von politisch inkorrekten Vibrationen". Immerhin sitzen hier Russen, Aserbaidschanern, Tschetschenien und Georgiern auf engstem Raum zusammen. Alkohol und handfester Humor erweisen sich zunächst als besseres Schmiermittel als die höflichen Umgangsformen des institutionellen Literaturbetriebs. Lasha Bugadze beschreibt humorvoll und hintergründig, wie die Literaten auf Schienen zwischen den Stationen von Lissabon bis nach Moskau und zurück nach Berlin argwöhnisch das Schreiben der anderen beäugen und sich auf Lesungen und Diskussionen für den am Ende verliehenen Literaturpreis in Stellung bringen. Die Freizügigkeit der Frauen in Madrid, das künstliche Lächeln der Verkäufer im Pariser Kulturkaufhaus, die routinierte Abgeklärtheit der deutschen Kulturfunktionäre, das sind nur einige der vielen kleinen Beobachtungen, die die Fahrt im Literaturexpress für die Georgier Zaza und Zwiad zu einer literarischen Abenteuerreise und für den Rezipienten zu einer luftig leichten, vergnüglichen Lesereise machen.
    "Eine der wichtigsten Funktionen von Literatur ist es, das gegenseitige Verständnis unterschiedlicher Kulturen zu fördern. Mittels der Literatur versteht man die Lebensrealitäten oft besser als im direkten Kontakt. Mein Held Zaza bricht mit seinen Vorstellungen und Stereotypen über den Westen in Georgien auf und gleicht sie auf seiner Reise Stück für Stück mit der Wirklichkeit ab. Durch ihn zeige ich das Verhältnis zwischen Georgien und Westeuropa, wie nah wir uns sind, und wo die unsichtbaren Grenzen verlaufen."
    Ein hoch aktueller Reisebericht
    In den sechs Wochen der Zugreise verdichten sich die Freund- und Feindschaften zwischen den Autoren, ihre literarischen Konkurrenzen und kulturellen Differenzen zu einem spannenden Amalgam. Den Traum, es womöglich auf das Cover des "New Yorker" zu schaffen und unversehens als neue Stimme der europäischen Literatur zu gelten, spiegelt Bugadze in der Leidenschaft seines Helden Zaza für die ebenso schöne wie unerreichbare Helena, der mitgereisten Frau eines polnischen Übersetzers.
    "In Zazas Odyssee spielt Helena sicherlich eine wichtige Rolle. Für Zaza bedeutet Helena ein Dilemma: Er hat sich ausgerechnet in die Frau seines Übersetzers verliebt und muss sich entscheiden zwischen der Liebe und seiner Karriere als Schriftsteller. Mit Helena kann er sich verlieren, kann seinen Hintergrund vergessen, seine georgische Vergangenheit und den Krieg. Mit ihr kann er etwas Neues anfangen, sie ist die Schwelle zu einem neuen Leben."
    Das literarische und erotische Finale von Bugadzes Dramaturgie wird hier nicht verraten. In jedem Fall wirkt sein Reisebericht auch sieben Jahre nach dem Erscheinen des Originals hochaktuell. Russlands Einmarsch in Georgien 2008 und die hilflosen Reaktionen im Westen stehen hier frappierend als Vorläufer des Ukraine-Konflikts unserer Tage. Bugadzes Roman schlägt tatsächlich literarische Brücken zu einer osteuropäischen Lebenswelt, in der sich die Nostalgie nach dem europäischen Kulturerbe einerseits und die Skepsis gegenüber westlichen Solidaritätsbekundungen anderseits die Waage halten.
    Lasha Bugadze: "Der Literaturexpress", Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, März 2016, 315 Seiten, 24 Euro