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Bulgarien
Mütter kämpfen für ihre Kinder

Für Kinder mit einer Behinderung erhalten Familien vom bulgarischen Staat kaum Hilfe. Wenn teure Behandlungen ansteht, müssen viele Spenden sammeln, um diese zu bezahlen. Seit mehr als 90 Tagen halten betroffene Mütter eine Mahnwache vor dem Parlament ab. Sie fordern eine Reform der staatlichen Unterstützung.

Von Srdjan Govedarica |
    Eltern von behinderten Kindern protestieren am 30. Juli 2018 in Sofia für eine Reform der staatlichen Hilfe.
    Familien mit behinderten Kindern bekommen vom bulgarischen Staat kaum finanzielle Unterstützung (picture alliance / dpa / NurPhoto / Hristo Vladev)
    Lorina Meleva schaut mit wachen Augen auf die Welt und lächelt. Bewegen kann sich die 22-jährige aber nur wenig, denn sie hat eine schwere Form der Kinderlähmung, deshalb sitzt sie in einem Rollstuhl. Ihre Mutter Iliana hat sie zum bulgarischen Parlament mitgenommen. Am Eingang für die Abgeordneten steht ein Protestkamp. Seit mehr als 90 Tagen halten Mütter von Kindern mit Behinderungen hier eine ununterbrochene Mahnwache ab, ihr Markenzeichen sind schwarze T-Shirts mit der Aufschrift: Das System tötet uns. Ein Skelett in einem Rollstuhl verleiht ihren Forderungen Nachdruck. Die Mütter fordern eine radikale Reform der staatlichen Unterstützung, auch Iliana Meleva:
    "Wir bestehen darauf, dass die Bedürfnisse unserer Kinder individuell eingeschätzt werden. Jedes Kind, jeder Mensch soll das bekommen, was er wirklich braucht. Das haben wir momentan nicht. Wenn das so kommt, dann wird ganzen Familien geholfen. Denn im Moment arbeiten ganze Familien für diese Kinder."
    Mutter kann ihrem Job nicht mehr nachgehen
    Ihren Job als Logopädin kann Iliana Meleva sie seit der Geburt ihrer Tochter nicht ausüben, die Bewältigung des Alltags fordert ihr alles ab. Sie bekommt kaum staatliche Unterstützung, kostspielige Operationen muss die Familie mit Spenden bezahlen. Dennoch betont lIiana Meleva, dass es ihrer Familie vergleichsweise gut geht.
    "Ich bin privilegiert, denn ich habe einen Mann und einen Sohn an meiner Seite, aber es gibt viele, die alleine sind, und sie sind in einer sehr schwierigen Situation"
    Gemeint sind Menschen wie Ivanka Nikolova. Die 79-jährige ist auch im Protestkamp dabei. Ihre Tochter ist 39 und mehrfach behindert, die beiden leben alleine, im Monat bekommen sie umgerechnet 130€ Rente:
    "Nein, keiner hilft mir, mein Mann ist vor 15 Jahren gestorben. Seitdem hilft uns niemand. Der Staat hat mich total zerstört."
    Vom Staat gibt es pauschal 45 Euro im Monat
    Nach Angaben von Hilfsorganisationen benötigen 80.000 Menschen mit Behinderungen einen persönlichen Assistenten zur Bewältigung ihres Alltags. Nur 14.000 bekommen diese Unterstützung und müssen sie dann auch noch jedes Jahr aufs Neue beantragen. Der Rest muss die Hilfe selbst organisieren, vom Staat gibt es pauschal 45 Euro im Monat, unabhängig vom Grad der Behinderung. Das alles wollen die Mütter ändern und fordern, dass bestehende Gesetze überarbeitet werden. Eleonora Patschedzhiewa ist Leiterin der Direktion für Menschen mit Behinderungen im bulgarischen Sozialministerium. Ihr Haus arbeitet an einem neuen Gesetzesentwurf in der Sache:
    "Das, was ich heute schon versprechen kann, ist die Einführung einer individuellen Einschätzung der Behinderungen, also der Bedürfnisse der Menschen. Sie sollen künftig in zwei Richtungen unterstützt werden. Einmal finanziell und einmal über soziale Dienstleistungen, beides angepasst an die Bedürfnisse der Menschen."
    Bei ihrer Forderung nach einem gesonderten Gesetz, das Menschen mit Behinderungen einen persönlichen Assistenten garantiert, finden die Mütter, die über Arbeitsgruppen am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind, kein Gehör. Auch andere Interessensverbände für Menschen mit Behinderungen unterstützen sie dabei nicht. Wassil Dolaptschiew, Vorsitzender des Verbandes der Blinden erklärt warum:
    "Es steht uns eine bestimmte Summe Geld zur Verfügung. Es ist nicht unendlich. Und wir stehen vor vielen Aufgaben. Es geht nicht nur um die personelle Assistenz. Wir brauchen Barrierefreiheit, wir brauchen Integration ins Bildungssystem, wir brauchen viel mehr. Und wir müssen uns gut überlegen, wie wir die Ressourcen verteilen."
    Mütter fordern gesondertes Gesetz
    Auf dem Platz vor dem Abgeordneteneingang des Parlaments in Sofia ist es inzwischen ziemlich kalt geworden, ein kühler Wind weht, die Mütter sind in Decken gehüllt. So wie es aussieht, werden sie noch länger hier ausharren. Wir wollen Rechte und keine Almosen, sagen sie und bestehen weiter auf einem eigenen Gesetz, dass ihren Kindern persönliche Assistenz garantiert. lliana Meleva hat aber auch Positives zu berichten. Durch ihre Präsenz vor dem Parlament haben Menschen mit Behinderungen ein merkbar positiveres Image in der Öffentlichkeit bekommen – für Bulgarien ein großer Fortschritt:
    "Jetzt, dass wir sichtbar geworden sind, hat sich etwas getan, in positive Richtung. Die Menschen ändern ihre Einstellung. Aber es gibt noch viel zu wünschen in dieser Sache."
    Und sie weiß wovon sie spricht: Wenn sie mit ihrer Tochter auf dem Spielplatz ist, gehen andere Kinder regelmäßig weg.