Diese Stimme hat es in sich. Sie ist scharf, spitz, angriffslustig, von rabenschwarzem Humor und unverkennbar weiblich.
"Wir, sage ich zu meiner Schwester, sind noch gut davon gekommen. Meine Schwester sitzt vorne auf dem Beifahrersitz und schweigt. Nur ein winziges Neigen des Kopfes Richtung Fenster deutet an, dass sie verstanden hat. Sie ist an meine Eröffnungen gewöhnt und weiß, was gemeint ist. Weg und fort und Ende, sage ich. Ein Vater, der ein Ende macht, bevor er die ganze Familie zermürbt, ist eher zu loben als zu verdammen."
Es ist die Stimme einer Tochter, die hier zu sprechen anhebt - aber was heißt schon zu sprechen: sie spottet, hetzt, zetert, singt, kichert, schimpft, schwärmt, deklamiert, agitiert und zieht sämtliche Register der aristotelischen Redekunst. Ein rhetorischer Sturm geht auf uns nieder, ein töchterliches Redegeprassel, eine leidenschaftliche Abrechnung mit dem brutal entschwundenen Vater, wie man sie so noch nicht gelesen hat. Die kämpferische Ich-Erzählerin und namenlose Heldin in Sibylle Lewitscharoffs neuem Roman "Apostoloff" absolviert mit ihrer ungleich sanftmütigeren älteren Schwester einen Ortstermin: Chauffiert von dem getreuen Rumen Apostoloff - aus Sofia gebürtig, seit Kindheitstagen mit Teilen der Familie verbandelt, Namensgeber des Romans und in Abwandlung der biblischen Apostel Verkünder der bulgarischen Heilsgeschichte - durchqueren sie das postsozialistische Bulgarien, das Herkunftsland des toten Vaters.
"Rumen Apostoloff möchte uns die Schätze Bulgariens zeigen. Meine Schwester und ich wissen es besser: solche Schätze existieren nur in den bulgarischen Hirnen. Wir sind überzeugt, Bulgarien ist ein grauenhaftes Land - nein, weniger dramatisch: ein albernes, und schlimmes. Seine Gegenden? Meer, Wald, Gebirge, Auen? Unseretwegen mag es da verborgene Reize geben. Wir sind aber keine Ornithologen und wollen nicht auf Bärenjagd gehen. Auf malerische Rhodopenschluchten geben wir nichts, Hammerschläge in Rhodopentälern erschüttern uns nicht, Glockengeläut lädt uns nicht zum Kirchgang ein. Rosenfelder sind für uns Rosenfelder und sonst wenig, Rosenfelder bringen unsere Herzen nicht in Wallung. Bloß weil man auf eine blutrote Fläche zeigt, benehmen wir uns nicht wie Frischverliebte und erfahren auch keine Extrablutzufuhr. Nüchtern bleiben ist eine Kunst. Eisern wird sie von uns praktiziert, sobald wir bulgarische Luft wittern, gar die ersten vorsichtigen Schritte auf bulgarischem Boden tun.
Und was ist mit der Schwarzmeerküste? Schwarzmeerküste, das klingt doch nach Meeresrauschen, Möwen, Dünen, nach Strandcafés, dümpelnden Bötchen, klickenden Jachtmasten, und etwas weiter weg, schon nicht mehr in Bulgarien, nach Ovid? Ach was. Verbaut, verpatzt, verdreckt. Das aschgraue Meer - leergefischt. Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Der Fisch ein verkokelter Witzfisch. Bulgarische Kunst im zwanzigsten Jahrhundert? Abscheulich, und zwar ohne jede Ausnahme. Die Architektur, insofern nicht Klöster, Moscheen oder Handelshäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert? Ein Verbrechen!"
Aber Rumen ist unverwüstlich. Wie Vergil in der "Göttlichen Komödie" einst Dante durch die Hölle geleitete, fährt der bulgarische Freund die Schwestern wacker durch die östliche Einöde und bemüht sich nach allen Kräften, ein Paradies zutage zu fördern. Rumen Apostoloff zeigt ihnen Burgen und Klöster, spürt an einem entlegenen Ort eine Ikone des Erzengels Michael für sie auf, mietet Hotelzimmer, von denen eines niederschmetternder als das andere ist, führt sie an Industriebrachen und verwahrlosten Städten vorbei bis ans schwarze Meer in ein Touristeninferno und wieder zurück nach Sofia. Sibylle Lewitscharoff gibt ihrem Roman eine präzise Topographie. Die Reise durch Bulgarien mit den verschiedenen Stationen bildet die Rahmenhandlung von "Apostoloff" und spannt den Bogen zwischen den verschiedenen Erzählsträngen. In den bulgarischen Roadmovie, in dem Reminiszenzen an Klassiker des Genres anklingen und man sich mehrfach an die US-amerikanische Steppe mit ihren Geisterstädten, Motels und verwaisten Tankstellen erinnert fühlt, sind nicht nur mehrere Vergangenheitsebenen eingelassen, sondern auch noch eine zweite Reise, die aus der Retrospektive erzählt wird und von der Hinfahrt nach Bulgarien berichtet, zeitlich also vor der ersten liegt. Das klingt komplizierter als es sich liest. Das Motiv des Aufenthalts überzeugt sofort: Geld. Ein wohlhabendes Mitglied der bulgarischen Einwanderergemeinde in Stuttgart, zu der auch der Vater gehörte, hat sich einen kuriosen Plan in den Kopf gesetzt. Der alte Tabakoff möchte die sterblichen Überreste seiner einstigen Kumpanen nach einem hochmodernen Verfahren per flüssigem Stickstoff in feinste Teilchen zerlegen, in die alte Heimat überführen und dort in einem extra angefertigten Mausoleum mit Blick auf den Gipfel des Berges Vitoscha in trauter Einigkeit erneut beisetzen. Das Unternehmen wird als eine Art Triumphzug inszeniert: ein Tross von Luxuslimousinen transportiert die neunzehn Kästchen voller Bulgaren-Granulat mitsamt der lebenden Angehörigen gen Osten. Tabakoff hat die Familienmitglieder für ihre Bereitschaft zur Mumifizierung und Zweit-Bestattung nicht nur großzügig entschädigt, sondern bietet ihnen auf der Beerdigungstour auch noch jeden erdenklichen Komfort: Getränkebar im Auto, erstklassige Hotels, Gourmetrestaurants und schließlich ein pompöses Begräbnis mit feierlicher Messe und Pferdekutschen zum Friedhof. Man merkt schon, dass sich das Ganze hier zu einer handfesten Satire mausert und Sibylle Lewitscharoff ihr Talent für makabere Szenarien auskostet. Mehr als einmal fühlt man sich an die farbenprächtigen Bilder balkanischer Trauerrituale aus den Filmen des Bosniers Kustorica erinnert, ergänzt durch einen Schuss überdrehter Science-Fiction. Mit der virtuosen Verschachtelung der Erzählebenen und der komplexen Zeitstruktur hat es noch eine andere Bewandtnis. Die beiden Zeitschienen laufen genau aufeinander zu: die Reisewoche mit Rumen Apostoloff endet in dem Moment, in dem die Ich-Erzählerin die Stuttgarter Familiengeschichte fertig aufgerollt hat und die Schilderungen der Tabakoff-Karawane bei der Beerdigung angelangt sind. Es stellt sich also so etwas wie Kongruenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart her: nach der Beisetzung und der Reise, die man als eine Mumifizierung des Vaters auf metaphorischer Ebene deuten könnte, geht die Vergangenheit in einen anderen Aggregatzustand über und wird erträglicher. Während der Fahrt schreitet der Erinnerungsprozess in spiralförmigen Bewegungen voran. Immer wieder tun sich Zeitlöcher auf, Vater-Bilder brechen über die Protagonistin herein, auch ein Vater-Gespenst taucht ab und zu auf und spricht provozierende Sätze, die zum Beispiel "Bitte mich zu entbehren" lauten oder, in verballhornter Humphrey-Bogart-Manier, "Lösch mir meine Augen, Kleines". Durch die bulgarische Umgebung wird alles in Schwingungen versetzt; die Raum-Zeit-Koordinaten lösen sich auf, die Grenze zwischen dem Reich der Toten und dem Reich der Lebenden wird durchlässig. Mit dieser Erfahrung hatte Sibylle Lewitscharoff schon in ihrem letzten Roman "Consummatus" experimentiert, wo ihr Studienrat Ralph Zimmermann ein ganzes Rudel von Gespenstern in Schach halten musste. In "Apostoloff" platzt der Vater in den unpassendsten Augenblicken herein. Er ist der Glutkern der gesamten Geschichte.
"Er hatte immer ein Häubchen Schwermut auf dem Kopf. Sein inneres Dunkel hielt er für unvergleichlich. Und die Familie unterstützte ihn darin, oh, es grübelten die Familiensatelliten um die Wette über das unbegreifliche Dunkel einer bulgarischen Vater- und Mannesseele, von der die uns beklemmende wiederum ein besonders ungeheuerliches Exemplar war. Es leuchtete dies Dunkel in geniehafter Verworrenheit und Feinsinnigkeit. Warum bloß sah sich niemand den stumpfsinnigen Gesichtsausdruck des Mannes an und zog den Schluss, dass man's - nein, nicht mit einem Künstlerwrack - mit einem verkommenen Arztwrack zu tun hatte? Er wurde im Lauf der Jahre nicht abweisend und verdrießlich wie die meisten Väter unserer Schulkameradinnen. Wenn er seine ausgeleierte Weste aus dem Schrank holte, wussten wir, was kam. Es verlosch die Welt um ihn her, für zwei Monate, immer im Frühjahr, und wir waren dazu verdammt, mit ihr zu verlöschen. Geschleich um seine verschlossene Kammer, schüchternes Gepoch, zaghafte Frage, ob er etwas essen wolle, und keine Antwort. Öffnete man die Tür einen Spalt, schwoll etwas so Muffiges daraus hervor, dass man sie schnell wieder zumachte. Er lag auf seinem Sofa wie verwest. Wir hofften, unsere Mutter, dieser sportliche Mensch, Skifahrerin, Bergsteigerin, Besitzerin eines Eispickels, würde die Tür aufreißen und ihrem Leichenmann ein paar schallende Ohrfeigen verpassen, ihn entweder damit wecken oder endgültig auf den Friedhof schicken oder ihm wenigstens die schreckliche Weste mit dem Mottenloch am Bauch abzwingen und sie verbrennen. Nichts dergleichen geschah."
Eine stille Wut scheint den eiligen Rhythmus anzutreiben, löst Satzkaskaden aus, provoziert einander übertreffende Synonyme für die väterliche Grausamkeit. Der Vater, es deutete sich schon in den ersten Zeilen des Romans an, ist ein Selbstmörder. Frauenarzt von Beruf, von Patientinnen und Personal gleichermaßen umschwärmt, in der Stuttgarter Gesellschaft geschätzt, Bewohner eines Einfamilienhauses in Stuttgart-Degerloch, knüpft er sich eines Tages an einem Heizungsrohr seiner Praxis auf. Kein Wunder, dass der väterliche Wiedergänger in den Tagträumen der Heldin einen Strick in der Hand hält. Wie Hohn wirkt der Vorname des Vaters: er heißt ausgerechnet Kristo, ist aber das Gegenteil von einem Erlöser. Er hat seine Familie zu ewigem Hass verdammt. Obwohl der Roman "Apostoloff" um den Vater kreist, ihn von mehreren Seiten betrachtet, seine Herkunft beleuchtet, die Familie inspiziert, die bulgarischen Freunde in den Zeugenstand beruft und schließlich in der alten Heimat nach Spuren der Vaterseele sucht, bleibt er letztendlich ein Enigma. Er ist der Fluchtpunkt der Geschichte, und dieser Fluchtpunkt rückt immer weiter in die Ferne. Vielleicht liegt darin der indirekte Erkenntnisgewinn der Reise: dieser Mensch entzieht sich jeder Annäherung, seine Tat ist weder zu rechtfertigen, noch zu entschuldigen, es bleibt ein sinnloser Tod, der für die Familie eine zerstörerische Wirkung entfaltet. Dass "Apostoloff" literarisch so überzeugend ist, liegt einerseits an Lewitscharoffs Sprache: voller erfinderischer Wortlust gewinnt sie mit ihren Wortschöpfungen der Wirklichkeit ungewohnte Schattierungen ab, wenn sie zum Beispiel von "Betonkummer" spricht und von ihrem "Kummerfluch", oder davon, dass jemand "worttaub" sei oder "versprödigt" oder wenn von "Gemuddel" und "Gemodder" oder von einer "Seelenmolluske" die Rede ist. Da verschmelzen abstrakte Vorgänge mit etwas Konkretem. Durch ihre große Bildhaftigkeit, die in Wörtern wie "Industriegedärm" oder "Gebäudelepra" oder "Staatsgeschwulst" steckt, sieht man die verhunzte bulgarische Landschaft mit ihren menschenverachtenden Wohnblöcken unmittelbar vor sich. Gleichzeitig entwickelt die Rhythmisierung der Prosa einen eigentümlichen Sog. Außerdem gelingt es der Autorin, mithilfe weniger Requisiten verschiedene Milieus zu vergegenwärtigen. Schleiflackmöbel, ein rotes Sofa und ein wuchtiger Schuhschrank verschlagen uns in den gleichermaßen pseudomodernen wie bedrückenden Arzthaushalt in Stuttgart-Degerloch. Und gedrechselte Eisentischchen, Hollywoodschaukeln, Teewagen und ein Swimmingpool führen uns das pariahafte Ambiente des Aufsteigers Tabakoff vor Augen.
Mit Väterromanen, wie sie in den siebziger Jahren Bernward Vesper mit "Die Reise", Christoph Meckel mit "Suchbild über meinen Vater" und Peter Härtling mit "Nachgetragene Liebe" vorlegten, die über die Auseinandersetzung mit den Vätern vor allem eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus unternahmen, hat "Apostoloff" nichts zu tun. Der literaturgeschichtliche Bezugsrahmen ist viel weiter gespannt. Wenn die Heldin riesige Burgareale durchstreift, schauerliche Industriebrachen inspiziert, sich mit dem Vater-Gespenst herum schlägt oder in der Villa eines bulgarischen Mafioso, von einem mephistophelischen Hündchen geleitet, durch Kammern und Säle wandelt, fühlt man sich eher an Mary Shelley und die gothic novels der englischen Romantik erinnert. Das Schwesternpaar ließe sich als eine Variation des Doppelgängermotivs aus dem Repertoire jener Epoche deuten. Auch der Wechsel zwischen schrecklichen und erhabenen Momenten entspricht dieser Traditionslinie: wie die widerborstige Heldin sich zum Beispiel an den Auswüchsen postsozialistischer Architektur weidet und dann bei der Betrachtung einer Ikone des Erzengels Michael von etwas unspezifisch Heiligem angeweht wird. Auch Jean Paul und E.T.A. Hoffmann sind nicht weit. Und Meyrinks Golem, der an einer Stelle sogar erwähnt wird, passt zur Figur des Vaters, der oft kaum mehr als eine Luftspiegelung zu sein scheint, eine unspezifische Hohlform des Bösen. Sibylle Lewitscharoff ist in der deutschsprachigen Literatur nicht nur durch ihre kultur- und religionsgeschichtlichen Verankerungen eine Einzelgängerin. Sie pflegt auch eine sehr eigene Form der Komik, mit der sie die allgemeine Düsternis der Geschehnisse immer wieder abmildert. Das Komische ist die rettende Lebenshaltung ihrer Protagonistin, und es ist ein ästhetisches Verfahren - es wirkt wie ein Zerrspiegel, der einen überraschenden Blickwinkel auf die Welt freigibt. Lewitscharoff tritt als eine Art weiblicher Buster Keaton in Aktion und erzählt mit unbeweglicher Miene und besänftigendem schwäbischen Unterton die absurdesten Dinge. Auch die leer laufenden Kommunikationsschlamassel bei Samuel Beckett, dessen Name ebenfalls fällt, fallen einem ein. Allein die Tatsache, dass einem Vater namens Kristo hier statt einer Auferstehung eine Verwandlung in Granulat widerfährt, er eine zweite Beerdigung über sich ergehen lassen muss und dann im Geiste der Töchter doch noch einmal aufersteht, aber nur, um endgültig zerbröselt zu werden, ist an sich kurios. Für eine zusätzliche Steigerung sorgt das komödienhafte Personal. Da wären nicht nur die vertrocknete Tante Zweta, der Puffbesitzer und der Rosenhändler, sondern auch die Zankoff-Zwillinge, die sich auf dem Beerdigungstross ausgerechnet zu den beiden Schwestern gesellen:
"Zwei und zwei macht vier, sagte Marco und plumpste auf den Sitz mir gegenüber, einen drehbaren, elektronisch in verschiedenste Lagen verstellbaren Sitz, den er fachkundig, mit der fingerkrabbelnden Neugier eines Kleinkindes ausprobierte, auf dem er, als er Rücklehne, Armlehne, Höhe, Fußteil nach seinen Wünschen eingerichtet und den Sicherheitsgurt angelegt hatte, halb lag, halb saß: ein ausgebreitetes Gebilde (männlich? weiblich? geschlechtslos?), vom Gurt und vom Anzugstoff daran gehindert, über den Sessel zu fließen, ein Gebilde, bei dem die Halswürste aus dem Kragen quollen und in einen hellen Fleischbatzen übergingen, auf dem eine kleine Nase sich nur wenig erhob, während der Blick der tief eingebetteten Augen es mit erstaunlicher Intensität aus dem Fett schaffte.
Gottlob, es gab Platz. Aber mir hatte das Schicksal einen schwätzenden Sack als Gegenüber beschert, der mich nun tagelang verfolgen sollte. Wer hett' des denkt, sagte er in seinem lauwarmen Vertraulichkeitsschwäbisch und meinte damit das unwahrscheinliche Glück, dass wir uns so spät im Leben wieder begegnet seien."
Neben dieser "fleischernen Wirklichkeitsfestung", wie die Heldin ihren Reisebegleiter nennt, muss sie es nun eine Weile aushalten, was ihren Betrachtungen eine seziermesserhafte Schärfe verleiht. Nebenbei bekommen auch das Schwabentum und die heimatlichen Gefilde ihr Fett weg. Lewitscharoffs Figuren sind allesamt prägnante Charaktere: der beflissene Rumen Apostoloff mit seinem Lokalpatriotismus, die liebliche Schwester mit ihren feinen Gesichtszügen, guten Manieren und ihrer Engelsgeduld, die durch den Selbstmord ihres Mannes schockgefrorene Mutter, die sich bis zu ihrem Tod nicht aus ihrer Starre lösen kann, die warmherzige Großmutter mit ihrer tröstlichen Leibesfülle und natürlich die knorzige Heldin selbst. Sibylle Lewitscharoff verarbeitet in "Apostoloff" ihre eigene Familiegeschichte, was sich höchstens an dem untergründigen Furor ablesen lässt, mit dem sie ihre Heldin durch die Geschichte peitscht. "Apostoloff" ist ein schräges Buch. Wie in allen anderen Romanen Lewitscharoffs klingt auch hier eine theologische Bedeutungsebene an. Neben den beiden Namen der männlichen Hauptfiguren gibt es die goldenen Nimben der Ikonen und vor allem die berückende Ikone des Erzengels Michael, der in der Offenbarung des Johannes schließlich den Satan vertreibt und der auch hier etwas Tröstliches ausstrahlt. Der Nimbus der Schwermut, der über dem Vater liegt, wird durch die von den Schwestern im Museum bewunderte zart geflochtene Goldkrone einer thrakischen Prinzessin ausgehebelt. Dieses Gold-Gespinst taucht sogar zwei Mal im Roman auf und umrahmt die einwöchige Reise. Eine leise Eintracht deutet sich an - sicherlich nicht mit dem Vater, aber vielleicht mit dem schwierigen Erbe. Trotz der Dichte der Bezüge ist "Apostoloff" leicht und vergnüglich zu lesen. Man muss die Anspielungen auch nicht allesamt dechiffrieren, sondern kann sich dem Rhythmus der assoziativen Schlenkerbewegungen überlassen und die kühnen Überblendungen bewundern. Sibylle Lewitscharoffs arabesker Stil hält den Leser bei der Stange, die satirische Komponente tut ein Übriges. An manchen Stellen sind die Beschreibungen ein wenig zu ausführlich geraten; da hätte man sich mehr Interaktion zwischen den Beteiligten gewünscht. Aber vermutlich musste sich die Autorin einiges vom Leib schreiben.
"Die Toten warten auf ihre Stunde, und sie kommen höchstselbst und nicht nur im tintigen Pfuhl der Nacht. Ich aber bewahre kühlen Mut. Immerhin habe ich es geschafft, länger zu leben als der Vater und ein freundlicheres Leben zu führen als die Mutter. Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, nur ein gutmütiger gepflegter Hass."
Sibylle Lewitscharoff. Apostoloff. Roman. Suhrkamp 2009, 248 Seiten, 19,80 Euro
"Wir, sage ich zu meiner Schwester, sind noch gut davon gekommen. Meine Schwester sitzt vorne auf dem Beifahrersitz und schweigt. Nur ein winziges Neigen des Kopfes Richtung Fenster deutet an, dass sie verstanden hat. Sie ist an meine Eröffnungen gewöhnt und weiß, was gemeint ist. Weg und fort und Ende, sage ich. Ein Vater, der ein Ende macht, bevor er die ganze Familie zermürbt, ist eher zu loben als zu verdammen."
Es ist die Stimme einer Tochter, die hier zu sprechen anhebt - aber was heißt schon zu sprechen: sie spottet, hetzt, zetert, singt, kichert, schimpft, schwärmt, deklamiert, agitiert und zieht sämtliche Register der aristotelischen Redekunst. Ein rhetorischer Sturm geht auf uns nieder, ein töchterliches Redegeprassel, eine leidenschaftliche Abrechnung mit dem brutal entschwundenen Vater, wie man sie so noch nicht gelesen hat. Die kämpferische Ich-Erzählerin und namenlose Heldin in Sibylle Lewitscharoffs neuem Roman "Apostoloff" absolviert mit ihrer ungleich sanftmütigeren älteren Schwester einen Ortstermin: Chauffiert von dem getreuen Rumen Apostoloff - aus Sofia gebürtig, seit Kindheitstagen mit Teilen der Familie verbandelt, Namensgeber des Romans und in Abwandlung der biblischen Apostel Verkünder der bulgarischen Heilsgeschichte - durchqueren sie das postsozialistische Bulgarien, das Herkunftsland des toten Vaters.
"Rumen Apostoloff möchte uns die Schätze Bulgariens zeigen. Meine Schwester und ich wissen es besser: solche Schätze existieren nur in den bulgarischen Hirnen. Wir sind überzeugt, Bulgarien ist ein grauenhaftes Land - nein, weniger dramatisch: ein albernes, und schlimmes. Seine Gegenden? Meer, Wald, Gebirge, Auen? Unseretwegen mag es da verborgene Reize geben. Wir sind aber keine Ornithologen und wollen nicht auf Bärenjagd gehen. Auf malerische Rhodopenschluchten geben wir nichts, Hammerschläge in Rhodopentälern erschüttern uns nicht, Glockengeläut lädt uns nicht zum Kirchgang ein. Rosenfelder sind für uns Rosenfelder und sonst wenig, Rosenfelder bringen unsere Herzen nicht in Wallung. Bloß weil man auf eine blutrote Fläche zeigt, benehmen wir uns nicht wie Frischverliebte und erfahren auch keine Extrablutzufuhr. Nüchtern bleiben ist eine Kunst. Eisern wird sie von uns praktiziert, sobald wir bulgarische Luft wittern, gar die ersten vorsichtigen Schritte auf bulgarischem Boden tun.
Und was ist mit der Schwarzmeerküste? Schwarzmeerküste, das klingt doch nach Meeresrauschen, Möwen, Dünen, nach Strandcafés, dümpelnden Bötchen, klickenden Jachtmasten, und etwas weiter weg, schon nicht mehr in Bulgarien, nach Ovid? Ach was. Verbaut, verpatzt, verdreckt. Das aschgraue Meer - leergefischt. Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Der Fisch ein verkokelter Witzfisch. Bulgarische Kunst im zwanzigsten Jahrhundert? Abscheulich, und zwar ohne jede Ausnahme. Die Architektur, insofern nicht Klöster, Moscheen oder Handelshäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert? Ein Verbrechen!"
Aber Rumen ist unverwüstlich. Wie Vergil in der "Göttlichen Komödie" einst Dante durch die Hölle geleitete, fährt der bulgarische Freund die Schwestern wacker durch die östliche Einöde und bemüht sich nach allen Kräften, ein Paradies zutage zu fördern. Rumen Apostoloff zeigt ihnen Burgen und Klöster, spürt an einem entlegenen Ort eine Ikone des Erzengels Michael für sie auf, mietet Hotelzimmer, von denen eines niederschmetternder als das andere ist, führt sie an Industriebrachen und verwahrlosten Städten vorbei bis ans schwarze Meer in ein Touristeninferno und wieder zurück nach Sofia. Sibylle Lewitscharoff gibt ihrem Roman eine präzise Topographie. Die Reise durch Bulgarien mit den verschiedenen Stationen bildet die Rahmenhandlung von "Apostoloff" und spannt den Bogen zwischen den verschiedenen Erzählsträngen. In den bulgarischen Roadmovie, in dem Reminiszenzen an Klassiker des Genres anklingen und man sich mehrfach an die US-amerikanische Steppe mit ihren Geisterstädten, Motels und verwaisten Tankstellen erinnert fühlt, sind nicht nur mehrere Vergangenheitsebenen eingelassen, sondern auch noch eine zweite Reise, die aus der Retrospektive erzählt wird und von der Hinfahrt nach Bulgarien berichtet, zeitlich also vor der ersten liegt. Das klingt komplizierter als es sich liest. Das Motiv des Aufenthalts überzeugt sofort: Geld. Ein wohlhabendes Mitglied der bulgarischen Einwanderergemeinde in Stuttgart, zu der auch der Vater gehörte, hat sich einen kuriosen Plan in den Kopf gesetzt. Der alte Tabakoff möchte die sterblichen Überreste seiner einstigen Kumpanen nach einem hochmodernen Verfahren per flüssigem Stickstoff in feinste Teilchen zerlegen, in die alte Heimat überführen und dort in einem extra angefertigten Mausoleum mit Blick auf den Gipfel des Berges Vitoscha in trauter Einigkeit erneut beisetzen. Das Unternehmen wird als eine Art Triumphzug inszeniert: ein Tross von Luxuslimousinen transportiert die neunzehn Kästchen voller Bulgaren-Granulat mitsamt der lebenden Angehörigen gen Osten. Tabakoff hat die Familienmitglieder für ihre Bereitschaft zur Mumifizierung und Zweit-Bestattung nicht nur großzügig entschädigt, sondern bietet ihnen auf der Beerdigungstour auch noch jeden erdenklichen Komfort: Getränkebar im Auto, erstklassige Hotels, Gourmetrestaurants und schließlich ein pompöses Begräbnis mit feierlicher Messe und Pferdekutschen zum Friedhof. Man merkt schon, dass sich das Ganze hier zu einer handfesten Satire mausert und Sibylle Lewitscharoff ihr Talent für makabere Szenarien auskostet. Mehr als einmal fühlt man sich an die farbenprächtigen Bilder balkanischer Trauerrituale aus den Filmen des Bosniers Kustorica erinnert, ergänzt durch einen Schuss überdrehter Science-Fiction. Mit der virtuosen Verschachtelung der Erzählebenen und der komplexen Zeitstruktur hat es noch eine andere Bewandtnis. Die beiden Zeitschienen laufen genau aufeinander zu: die Reisewoche mit Rumen Apostoloff endet in dem Moment, in dem die Ich-Erzählerin die Stuttgarter Familiengeschichte fertig aufgerollt hat und die Schilderungen der Tabakoff-Karawane bei der Beerdigung angelangt sind. Es stellt sich also so etwas wie Kongruenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart her: nach der Beisetzung und der Reise, die man als eine Mumifizierung des Vaters auf metaphorischer Ebene deuten könnte, geht die Vergangenheit in einen anderen Aggregatzustand über und wird erträglicher. Während der Fahrt schreitet der Erinnerungsprozess in spiralförmigen Bewegungen voran. Immer wieder tun sich Zeitlöcher auf, Vater-Bilder brechen über die Protagonistin herein, auch ein Vater-Gespenst taucht ab und zu auf und spricht provozierende Sätze, die zum Beispiel "Bitte mich zu entbehren" lauten oder, in verballhornter Humphrey-Bogart-Manier, "Lösch mir meine Augen, Kleines". Durch die bulgarische Umgebung wird alles in Schwingungen versetzt; die Raum-Zeit-Koordinaten lösen sich auf, die Grenze zwischen dem Reich der Toten und dem Reich der Lebenden wird durchlässig. Mit dieser Erfahrung hatte Sibylle Lewitscharoff schon in ihrem letzten Roman "Consummatus" experimentiert, wo ihr Studienrat Ralph Zimmermann ein ganzes Rudel von Gespenstern in Schach halten musste. In "Apostoloff" platzt der Vater in den unpassendsten Augenblicken herein. Er ist der Glutkern der gesamten Geschichte.
"Er hatte immer ein Häubchen Schwermut auf dem Kopf. Sein inneres Dunkel hielt er für unvergleichlich. Und die Familie unterstützte ihn darin, oh, es grübelten die Familiensatelliten um die Wette über das unbegreifliche Dunkel einer bulgarischen Vater- und Mannesseele, von der die uns beklemmende wiederum ein besonders ungeheuerliches Exemplar war. Es leuchtete dies Dunkel in geniehafter Verworrenheit und Feinsinnigkeit. Warum bloß sah sich niemand den stumpfsinnigen Gesichtsausdruck des Mannes an und zog den Schluss, dass man's - nein, nicht mit einem Künstlerwrack - mit einem verkommenen Arztwrack zu tun hatte? Er wurde im Lauf der Jahre nicht abweisend und verdrießlich wie die meisten Väter unserer Schulkameradinnen. Wenn er seine ausgeleierte Weste aus dem Schrank holte, wussten wir, was kam. Es verlosch die Welt um ihn her, für zwei Monate, immer im Frühjahr, und wir waren dazu verdammt, mit ihr zu verlöschen. Geschleich um seine verschlossene Kammer, schüchternes Gepoch, zaghafte Frage, ob er etwas essen wolle, und keine Antwort. Öffnete man die Tür einen Spalt, schwoll etwas so Muffiges daraus hervor, dass man sie schnell wieder zumachte. Er lag auf seinem Sofa wie verwest. Wir hofften, unsere Mutter, dieser sportliche Mensch, Skifahrerin, Bergsteigerin, Besitzerin eines Eispickels, würde die Tür aufreißen und ihrem Leichenmann ein paar schallende Ohrfeigen verpassen, ihn entweder damit wecken oder endgültig auf den Friedhof schicken oder ihm wenigstens die schreckliche Weste mit dem Mottenloch am Bauch abzwingen und sie verbrennen. Nichts dergleichen geschah."
Eine stille Wut scheint den eiligen Rhythmus anzutreiben, löst Satzkaskaden aus, provoziert einander übertreffende Synonyme für die väterliche Grausamkeit. Der Vater, es deutete sich schon in den ersten Zeilen des Romans an, ist ein Selbstmörder. Frauenarzt von Beruf, von Patientinnen und Personal gleichermaßen umschwärmt, in der Stuttgarter Gesellschaft geschätzt, Bewohner eines Einfamilienhauses in Stuttgart-Degerloch, knüpft er sich eines Tages an einem Heizungsrohr seiner Praxis auf. Kein Wunder, dass der väterliche Wiedergänger in den Tagträumen der Heldin einen Strick in der Hand hält. Wie Hohn wirkt der Vorname des Vaters: er heißt ausgerechnet Kristo, ist aber das Gegenteil von einem Erlöser. Er hat seine Familie zu ewigem Hass verdammt. Obwohl der Roman "Apostoloff" um den Vater kreist, ihn von mehreren Seiten betrachtet, seine Herkunft beleuchtet, die Familie inspiziert, die bulgarischen Freunde in den Zeugenstand beruft und schließlich in der alten Heimat nach Spuren der Vaterseele sucht, bleibt er letztendlich ein Enigma. Er ist der Fluchtpunkt der Geschichte, und dieser Fluchtpunkt rückt immer weiter in die Ferne. Vielleicht liegt darin der indirekte Erkenntnisgewinn der Reise: dieser Mensch entzieht sich jeder Annäherung, seine Tat ist weder zu rechtfertigen, noch zu entschuldigen, es bleibt ein sinnloser Tod, der für die Familie eine zerstörerische Wirkung entfaltet. Dass "Apostoloff" literarisch so überzeugend ist, liegt einerseits an Lewitscharoffs Sprache: voller erfinderischer Wortlust gewinnt sie mit ihren Wortschöpfungen der Wirklichkeit ungewohnte Schattierungen ab, wenn sie zum Beispiel von "Betonkummer" spricht und von ihrem "Kummerfluch", oder davon, dass jemand "worttaub" sei oder "versprödigt" oder wenn von "Gemuddel" und "Gemodder" oder von einer "Seelenmolluske" die Rede ist. Da verschmelzen abstrakte Vorgänge mit etwas Konkretem. Durch ihre große Bildhaftigkeit, die in Wörtern wie "Industriegedärm" oder "Gebäudelepra" oder "Staatsgeschwulst" steckt, sieht man die verhunzte bulgarische Landschaft mit ihren menschenverachtenden Wohnblöcken unmittelbar vor sich. Gleichzeitig entwickelt die Rhythmisierung der Prosa einen eigentümlichen Sog. Außerdem gelingt es der Autorin, mithilfe weniger Requisiten verschiedene Milieus zu vergegenwärtigen. Schleiflackmöbel, ein rotes Sofa und ein wuchtiger Schuhschrank verschlagen uns in den gleichermaßen pseudomodernen wie bedrückenden Arzthaushalt in Stuttgart-Degerloch. Und gedrechselte Eisentischchen, Hollywoodschaukeln, Teewagen und ein Swimmingpool führen uns das pariahafte Ambiente des Aufsteigers Tabakoff vor Augen.
Mit Väterromanen, wie sie in den siebziger Jahren Bernward Vesper mit "Die Reise", Christoph Meckel mit "Suchbild über meinen Vater" und Peter Härtling mit "Nachgetragene Liebe" vorlegten, die über die Auseinandersetzung mit den Vätern vor allem eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus unternahmen, hat "Apostoloff" nichts zu tun. Der literaturgeschichtliche Bezugsrahmen ist viel weiter gespannt. Wenn die Heldin riesige Burgareale durchstreift, schauerliche Industriebrachen inspiziert, sich mit dem Vater-Gespenst herum schlägt oder in der Villa eines bulgarischen Mafioso, von einem mephistophelischen Hündchen geleitet, durch Kammern und Säle wandelt, fühlt man sich eher an Mary Shelley und die gothic novels der englischen Romantik erinnert. Das Schwesternpaar ließe sich als eine Variation des Doppelgängermotivs aus dem Repertoire jener Epoche deuten. Auch der Wechsel zwischen schrecklichen und erhabenen Momenten entspricht dieser Traditionslinie: wie die widerborstige Heldin sich zum Beispiel an den Auswüchsen postsozialistischer Architektur weidet und dann bei der Betrachtung einer Ikone des Erzengels Michael von etwas unspezifisch Heiligem angeweht wird. Auch Jean Paul und E.T.A. Hoffmann sind nicht weit. Und Meyrinks Golem, der an einer Stelle sogar erwähnt wird, passt zur Figur des Vaters, der oft kaum mehr als eine Luftspiegelung zu sein scheint, eine unspezifische Hohlform des Bösen. Sibylle Lewitscharoff ist in der deutschsprachigen Literatur nicht nur durch ihre kultur- und religionsgeschichtlichen Verankerungen eine Einzelgängerin. Sie pflegt auch eine sehr eigene Form der Komik, mit der sie die allgemeine Düsternis der Geschehnisse immer wieder abmildert. Das Komische ist die rettende Lebenshaltung ihrer Protagonistin, und es ist ein ästhetisches Verfahren - es wirkt wie ein Zerrspiegel, der einen überraschenden Blickwinkel auf die Welt freigibt. Lewitscharoff tritt als eine Art weiblicher Buster Keaton in Aktion und erzählt mit unbeweglicher Miene und besänftigendem schwäbischen Unterton die absurdesten Dinge. Auch die leer laufenden Kommunikationsschlamassel bei Samuel Beckett, dessen Name ebenfalls fällt, fallen einem ein. Allein die Tatsache, dass einem Vater namens Kristo hier statt einer Auferstehung eine Verwandlung in Granulat widerfährt, er eine zweite Beerdigung über sich ergehen lassen muss und dann im Geiste der Töchter doch noch einmal aufersteht, aber nur, um endgültig zerbröselt zu werden, ist an sich kurios. Für eine zusätzliche Steigerung sorgt das komödienhafte Personal. Da wären nicht nur die vertrocknete Tante Zweta, der Puffbesitzer und der Rosenhändler, sondern auch die Zankoff-Zwillinge, die sich auf dem Beerdigungstross ausgerechnet zu den beiden Schwestern gesellen:
"Zwei und zwei macht vier, sagte Marco und plumpste auf den Sitz mir gegenüber, einen drehbaren, elektronisch in verschiedenste Lagen verstellbaren Sitz, den er fachkundig, mit der fingerkrabbelnden Neugier eines Kleinkindes ausprobierte, auf dem er, als er Rücklehne, Armlehne, Höhe, Fußteil nach seinen Wünschen eingerichtet und den Sicherheitsgurt angelegt hatte, halb lag, halb saß: ein ausgebreitetes Gebilde (männlich? weiblich? geschlechtslos?), vom Gurt und vom Anzugstoff daran gehindert, über den Sessel zu fließen, ein Gebilde, bei dem die Halswürste aus dem Kragen quollen und in einen hellen Fleischbatzen übergingen, auf dem eine kleine Nase sich nur wenig erhob, während der Blick der tief eingebetteten Augen es mit erstaunlicher Intensität aus dem Fett schaffte.
Gottlob, es gab Platz. Aber mir hatte das Schicksal einen schwätzenden Sack als Gegenüber beschert, der mich nun tagelang verfolgen sollte. Wer hett' des denkt, sagte er in seinem lauwarmen Vertraulichkeitsschwäbisch und meinte damit das unwahrscheinliche Glück, dass wir uns so spät im Leben wieder begegnet seien."
Neben dieser "fleischernen Wirklichkeitsfestung", wie die Heldin ihren Reisebegleiter nennt, muss sie es nun eine Weile aushalten, was ihren Betrachtungen eine seziermesserhafte Schärfe verleiht. Nebenbei bekommen auch das Schwabentum und die heimatlichen Gefilde ihr Fett weg. Lewitscharoffs Figuren sind allesamt prägnante Charaktere: der beflissene Rumen Apostoloff mit seinem Lokalpatriotismus, die liebliche Schwester mit ihren feinen Gesichtszügen, guten Manieren und ihrer Engelsgeduld, die durch den Selbstmord ihres Mannes schockgefrorene Mutter, die sich bis zu ihrem Tod nicht aus ihrer Starre lösen kann, die warmherzige Großmutter mit ihrer tröstlichen Leibesfülle und natürlich die knorzige Heldin selbst. Sibylle Lewitscharoff verarbeitet in "Apostoloff" ihre eigene Familiegeschichte, was sich höchstens an dem untergründigen Furor ablesen lässt, mit dem sie ihre Heldin durch die Geschichte peitscht. "Apostoloff" ist ein schräges Buch. Wie in allen anderen Romanen Lewitscharoffs klingt auch hier eine theologische Bedeutungsebene an. Neben den beiden Namen der männlichen Hauptfiguren gibt es die goldenen Nimben der Ikonen und vor allem die berückende Ikone des Erzengels Michael, der in der Offenbarung des Johannes schließlich den Satan vertreibt und der auch hier etwas Tröstliches ausstrahlt. Der Nimbus der Schwermut, der über dem Vater liegt, wird durch die von den Schwestern im Museum bewunderte zart geflochtene Goldkrone einer thrakischen Prinzessin ausgehebelt. Dieses Gold-Gespinst taucht sogar zwei Mal im Roman auf und umrahmt die einwöchige Reise. Eine leise Eintracht deutet sich an - sicherlich nicht mit dem Vater, aber vielleicht mit dem schwierigen Erbe. Trotz der Dichte der Bezüge ist "Apostoloff" leicht und vergnüglich zu lesen. Man muss die Anspielungen auch nicht allesamt dechiffrieren, sondern kann sich dem Rhythmus der assoziativen Schlenkerbewegungen überlassen und die kühnen Überblendungen bewundern. Sibylle Lewitscharoffs arabesker Stil hält den Leser bei der Stange, die satirische Komponente tut ein Übriges. An manchen Stellen sind die Beschreibungen ein wenig zu ausführlich geraten; da hätte man sich mehr Interaktion zwischen den Beteiligten gewünscht. Aber vermutlich musste sich die Autorin einiges vom Leib schreiben.
"Die Toten warten auf ihre Stunde, und sie kommen höchstselbst und nicht nur im tintigen Pfuhl der Nacht. Ich aber bewahre kühlen Mut. Immerhin habe ich es geschafft, länger zu leben als der Vater und ein freundlicheres Leben zu führen als die Mutter. Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, nur ein gutmütiger gepflegter Hass."
Sibylle Lewitscharoff. Apostoloff. Roman. Suhrkamp 2009, 248 Seiten, 19,80 Euro