Stefan Heinlein: In Straßburg am Telefon ist nun der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Udo Bullmann. Er ist auch SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl im kommenden Jahr. Guten Morgen, Herr Bullmann!
Udo Bullmann: Schönen guten Morgen, Herr Heinlein.
Heinlein: Ist die Kuh jetzt vom Eis?
Bullmann: Das kann ich nicht sehen. Sie sagen das zu recht im Gespräch mit Ihrem Korrespondenten: Die eigentlichen Hürden kommen noch und wir werden sehr, sehr bald sehen, dass Theresa May große Probleme haben wird, dafür eine Mehrheit im Unterhaus gewinnen zu können. Außerdem müssen natürlich die Europäer auch noch dazu sprechen, wahrscheinlich am 25. November.
Heinlein: Was kann denn das EU-Parlament, was kann Brüssel denn jetzt machen, um Theresa May das Leben zu erleichtern? Nur Abwarten und Tee trinken, oder sollte man aktiv in diesen jetzt beginnenden Brexit-Wahlkampf im Parlament eingreifen?
Bullmann: Wir werden heute Morgen als Fraktionsvorsitzende in unserer Runde erst mal Gelegenheit haben, die Lage mit Michel Barnier, mit dem Chefverhandler einzuschätzen. Er wird im Detail unterrichten über die Verhandlungsergebnisse. Und dann werden wir sehen, dass in der Tat – und da teile ich die Einschätzung – die Europäer einen Erfolg erreicht haben, weil Europa stand beieinander und hat sich nicht über den Tisch ziehen lassen.
Insofern wird es natürlich auch aus Sicht der europäischen Hauptstädte viele Fragen geben, aus Sicht des Parlamentes Fragen geben, aber der entscheidende Punkt ist natürlich die Regelung der gemeinsamen Zollunion, die das Vereinigte Königreich nach dem, was auf dem Tisch liegt, nicht alleine verlassen kann. Das, was die Brexitiers immer versprochen haben, dass nun wieder zu imperialer Großmacht gefunden wird und man weltweit zu seinen eigenen Bedingungen Verhandlungen führen kann über Handelsabkommen, das wird es nicht geben, und das wird sehr, sehr schwierig zuhause zu verkaufen für Theresa May.
Heinlein: Bevor wir ins Detail gehen, Herr Bullmann, insgesamt noch mal Ihr Gefühl. Wir haben es gehört aus London: 99 Prozent, so das Gefühl, auf der Insel sagen, wir haben verloren bei diesen Verhandlungen. Ist umgekehrt Brüssel tatsächlich der Sieger der Verhandlungen mit London?
Bullmann: Das denke ich schon. Da hat sich ausgezahlt, dass Europa beieinander stand und sich nicht hat gegeneinander ausspielen lassen. Es gibt aus unserer Sicht – wir werden genau nachschauen, insbesondere auch, was die Lage der europäischen Bürgerinnen und Bürger anbetrifft, dass dort keine Nachteile zu verzeichnen sind. Das interessiert uns natürlich für jedes einzelne Schicksal.
Aber insgesamt ist diese Zollunion-Lösung eine, die verhindern kann, dass die Konflikte in Nordirland wieder aufbrechen. Dann müsste aber das gesamte Vereinigte Königreich in dieser Zollunion bleiben. Wir müssen schauen, dass die Umweltauflagen dann nach wie vor berücksichtigt werden, die Qualitätsstandards im Austausch der Produkte und der Dienstleistungen. Das wird unser Job auch im Europäischen Parlament werden, das zu überprüfen. Aber die Brexitiers, da muss man sagen, die Nummer ist aufgeflogen. Die haben so viele Lügen verbreitet, das wird man jetzt der britischen Bevölkerung kaum verkaufen können.
"Würde nicht darauf wetten, dass Theresa May eine Mehrheit zusammenbekommt"
Heinlein: Wenn die EU der Sieger ist, wie Sie sagen, warum sollte dann das britische Parlament seine Unterschrift unter eine Urkunde setzen, die sagt, ihr habt verloren bei diesen Verhandlungen, ihr habt eine Niederlage eingesteckt?
Bullmann: Ich würde auch nicht darauf wetten, dass Theresa May es schafft, eine Mehrheit zusammenzubekommen. Diejenigen, die für den Brexit waren, insbesondere die Hardliner, müssten erklären, warum das Gegenteil dabei herauskommt wie das, wofür sie angetreten sind. Das ist ganz schön schwierig, weil sie dann anschließend ihre ideologische Position nicht mehr verteidigen können. Wie gesagt, die Nummer fliegt auf.
Auf der anderen Seite: Warum soll die Labour Party Theresa May aus der Patsche helfen, wo Labour doch hofft auf Neuwahlen und die dann anschließend auch zu gewinnen. Das ist eine ziemliche Konstruktion. Vielleicht ist dieser Prozess so voller gegensätzlicher Interessen und so voller falscher Aussagen gewesen, von Anfang an, dass es jetzt wirklich einem Kunststück gleich käme, den Hals aus der Schlinge zu ziehen.
Heinlein: Haben Sie als Chef, Herr Bullmann, der sozialdemokratischen Fraktion in Straßburg Kontakt mit Labour? Führen Sie Gespräche mit Ihren britischen Kollegen, um sie von diesem Deal zu überzeugen?
Bullmann: Ja, natürlich! Nein, nicht von dem Deal zu überzeugen. Bei uns ist die Hoffnung nicht gestorben, dass das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben könnte. Ich habe 20 Labour-Abgeordnete, alles vollständig überzeugte Europäerinnen und Europäer, die hoffen auf nichts anderes, als dass der Brexit noch abgewendet werden kann.
"Hoffnung, dass das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben könnte"
Heinlein: Ist das denn eine realistische Hoffnung?
Bullmann: Ja, zunächst einmal: Was passiert, wenn Theresa May keine Mehrheit hat? Sie haben ja gesehen, wenn 700.000 Leute durch London ziehen und sagen, sie wollen, dass das Volk eine zweite Möglichkeit hat, seine Stimme zu erheben, sollte man das vielleicht nicht übersehen. Für mich ist das Ding noch nicht rum. Wenn es denn wirklich crasht und Theresa May keine Mehrheit findet, dann gibt es entweder Neuwahlen oder ein zweites Referendum oder beides. Für mich ist der letzte Punkt unter dieser Angelegenheit noch nicht gesetzt. Wir werden spannende Wochen und Monate erleben.
Heinlein: Gehen wir noch kurz auf die Inhalte. Sie haben die Zollunion und den Binnenmarkt angesprochen. Da ging es ja um die Grenzfrage zwischen Irland und Nordirland. Das ist ganz, ganz wichtig für die Briten. Aber jetzt sagen Sie, wenn wir vorerst in dieser Zollunion und in diesem Binnenmarkt bleiben, wir dürfen aber künftig nicht mehr über die Regeln dieses Binnenmarktes mitbestimmen, wie soll dann ein britischer Politiker dieser, man sagt, Entmündigung, Boris Johnson redet von einem Vasallenstaat, zustimmen?
Bullmann: Das ist ja auch meine Skepsis. Es ging in den letzten Wochen vor allen Dingen um folgende Frage: Die Briten selber haben auf den Tisch gelegt als Notfall-Lösung, wenn man sich nicht auf ein neues Vertragssystem einigt – das ist ein schwieriger Prozess, das dauert Jahre -, dass man dann in einer gemeinsamen Zollunion verbleiben könnte. Die britische Idee war nur immer, dass Großbritannien diese Zollunion einseitig verlassen kann, dass Downing Street erklären kann, wann es nun mal gut ist mit der Zollunion und wann sie denn lieber Zollvereinbarungen mit anderen Staaten auf der Welt treffen.
Das hat die EU erfolgreich verhindert. Man kann die Zollunion nur verlassen, wenn beide Seiten übereinstimmen, Großbritannien und die Europäische Union. Das nährt natürlich jetzt den Verdacht bei den Brexitiers, dass sie auf ewig gefangen bleiben könnten, und ja, wie ich sage, da ist die Luft dann raus aus der ganzen Brexit-Strategie.
"Da ist die Luft dann raus aus der ganzen Brexit-Strategie"
Heinlein: Reden wir noch kurz über die Europäische Union. Geplant und bereits angekündigt ist ja ein EU-Gipfel Mitte Dezember. Wie einig ist da die Union? Wie einig wird man hinter diesem Abkommen stehen, hinter diesen 600 Seiten, soweit sie schon bekannt sind?
Bullmann: Bisher hat es gehalten. Das ist eine positive Überraschung. Ich glaube, den Staats- und Regierungschefs ist deutlich geworden, was auf dem Spiel steht. Insofern ist das erst mal eine gute Entwicklung.
Warum sind das so viele Seiten in diesem Abkommen? Es gibt viele Detailfragen. Aber wenn man über eine Zollunion spricht, ohne dass Großbritannien noch an der Gesetzgebung mitwirken kann, dann muss man natürlich darauf achten, welche Bestimmungen werden gefunden, damit die Regeln auch eingehalten werden.
Wenn Großbritannien weiter exportieren will, dann müssen natürlich Verfahrensformen gefunden werden, in denen die Europäische Union kontrollieren kann, dass die Produktqualität stimmt, dass es keine Dumping-Lösungen gibt, dass die Regeln der Europäischen Union nicht unterlaufen werden. Das muss man im Detail regeln und die Minister oder die Staats- und Regierungschefs, die da zusammenkommen, werden natürlich darauf achten, ob ihre Interessen gewahrt bleiben und ob das wirklich passt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.