Bei der Behandlung von Corona-Patienten zeigt sich momentan die europäische Solidarität: Weil in Deutschland noch Betten auf Intensivstationen frei sind, können Kranke aus Frankreich oder Italien eingeflogen werden. Auch geforscht wird gemeinsam und zudem Material angeschafft – doch wenn es um Finanzhilfen geht, dann lagen die Positionen bisher weit auseinander. Und es tat sich ein alter Streit auf – vereinfacht gesagt: Nord gegen Süd, Sparpolitik gegen gemeinsame Schulden. Am Donnerstag sprechen die Staats- und Regierungschefs auf ihrer Videokonferenz nun über so viel Geld, dass die Entscheidung darüber in die Geschichte eingehen dürfte.
Ich kann darüber jetzt sprechen mit Udo Bullmann, er ist Europabeauftragter des SPD-Parteivorstandes und langjähriges Mitglied des Europäischen Parlaments.
Kaess: Wie solidarisch sollen sich denn die Mitgliedsländer in dieser Krise zeigen, wenn es ums Geld geht?
Bullmann: Zunächst mal müssen wir sagen, diese Krise, die wir jetzt durch COVID-19 erleben, wird sehr viel größer ausfallen als das, was wir vor zehn Jahren als Weltfinanzkrise zu bewältigen hatten. Man kann das nicht dramatisch genug schildern. Wer jetzt nicht über seinen eigenen Schatten springt, der fällt in das große schwarze Loch. Insofern sind alle Anstrengungen gerechtfertigt, zu mehr Gemeinsamkeit und zu mehr Solidarität zu kommen.
Kaess: Was heißt das genau?
Bullmann: Wir müssen raus aus den ideologischen Sackgassen, wir müssen raus aus der nationalen Selbstbezogenheit. Wir in Deutschland wissen sehr genau, dass unser Wohlstand die Qualität unserer eigenen Sozial- und Gesundheitssysteme daran hängt, dass wir hochgradig unsere Güter und Dienstleistungen in die Nachbarstaaten der Europäischen Union exportieren. Wenn die zweitgrößte, die drittgrößte und die viertgrößte Volkswirtschaft mit Frankreich, Italien und Spanien absaufen, dann können wir auch bei uns die Bürgersteige hochklappen. Das heißt nicht, dass wir naiv sein sollten und dass wir Dinge verantworten sollten, die nicht zu verantworten sind im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger, aber man muss neue Wege gehen. Ihr Kollege Peter Kapern in Brüssel hat es ja präzise auf den Punkt gebracht, was im Moment auf der Agenda steht.
Kaess: Aber Herr Bullmann, dann bringen Sie es doch mal präzise auf den Punkt. Also Sie sind, höre ich da raus, für Corona-Bonds beziehungsweise Euro-Bonds?
Bullmann: Die Debatte der Corona-Bonds ist eigentlich längst hinter uns, weil wir mit den Vorschlägen, die aus Frankreich, die aus Spanien auf dem Tisch liegen und die auch von der Kommission weiterbearbeitet werden müssen, in einer ganz anderen Agenda sind. Ich gehe davon aus, es wird noch keine festen Ergebnisse geben heute beim Treffen der Staats- und Regierungschef, aber man wird natürlich darüber nachdenken, wie man über die Haushaltsplanung der Europäischen Union für die nächsten sieben Jahre einen größeren Fonds bilden kann, der dann auch zu Krediten und auch zu Zuschüssen führen wird, um die Wirtschaft in Südeuropa, aber nicht nur in Südeuropa auf die Beine zu bringen. Olaf Scholz, der sehr viel dafür getan hat, dass es den Kompromiss gab – der Finanzminister hat immer darauf hingewiesen, dass wir nach der Krise in einer neuen Europäischen Union sein werden, die mehr Gemeinschaftsinitiativen benötigt, aber auch gemeinsame Steuerpolitik organisieren muss, damit es fair und gerecht zugeht.
"Die Italiener haben völlig recht: Es wird nicht reichen"
Kaess: Sie sagen jetzt, Herr Bullmann, die Diskussion über Corona-Bonds oder Euro-Bonds liegt hinter uns, es war ja aber nun mal so, dass bis vor Kurzem Italien genau diese Maximalposition eingenommen hat und gesagt hat, wir wollen auch gar kein Geld aus dem europäischen Stabilitätsmechanismus, weil es da zu harte Auflagen und Bevormundung gibt, die wollen wir nicht haben, und Italien hat durchaus gefordert, dass es diese gemeinsamen Anleihen gibt. Da steht doch schon die Frage nach wie vor im Raum, warum sollten Staaten, die besser gewirtschaftet haben, italienische Schulden in dem Fall mittragen?
Bullmann: Ich glaube, dass die Position, die sich so kritisch mit dem europäischen Stabilitätsmechanismus auseinandersetzt, überwunden werden sollte in Italien. Die Konditionen sind ja eben genau nicht so wie beschrieben wurde durch die skeptischen Stimmen in Italien. Es gibt keine Austeritätsauflagen zur Benutzung dieser 200 Milliarden. Wie gesagt, der deutsche Finanzminister Olaf Scholz hat maßgeblich dafür gesorgt, dass dieser Irrsinn nicht stattfindet. Insofern gibt es auch wenig Gründe für Italien, jetzt nicht von diesem Geld Gebrauch zu machen, um die Hospitäler besser auszustatten, um akute Nothilfe für die Menschen zu leisten, die betroffen sind. Auf der anderen Seite haben die Italiener völlig recht: Es wird nicht reichen. Das sagen wir aber auch, das sagen andere auch. Wir brauchen neue Gemeinschaftsinitiativen, dazu gehören auch Gemeinschaftsanleihen, wie immer Sie die nennen wollen. Corona-Bonds ist deswegen einer falscher Begriff aus meiner Sicht, weil er Vorläufigkeit suggeriert. Wir brauchen ein längerfristiges Wiederaufbauprogramm mit Gemeinschaftsanleihen, die dann entweder durch den europäischen Haushalt oder durch die Europäische Investitionsbank begeben werden. Wir müssen raus mit diesen Schlagwörter aus ideologischen Scheuklappen.
Kaess: Das kann ja sein, Herr Bullmann, dass man diese Schlagwörter nicht mehr braucht, aber wir müssen doch gucken, was da inhaltlich dahintersteckt und ob nicht unter neuen Wörtern wieder das alte gemeint ist. Schauen wir mal konkreter auf diesen Kompromissvorschlag, über den gerade in dem Beitrag auch schon die Rede war, ein sogenannter Wiederaufbaufonds, manche sagen Recovery-Bonds. Gemeint ist ein gemeinschaftlicher, zeitlich begrenzter Fonds, also gemeinschaftliche Anleihen, aber keine Altschulden. Könnte sich das durchsetzen?
Bullmann: Technisch ist es nichts anderes wie das, was wir bereits in der letzten Legislaturperiode beim Juncker-Plan gemacht haben in kleinerem Umfang. Technisch ist es nichts anderes wie das, was die Europäische Investitionsbank jeden Tag macht. Wir haben eine gemeinschaftliche Verantwortung für Kredite, die am Markt aufgenommen werden. Die werden vernünftig investiert und führen zu vernünftigen Ergebnissen. Ich glaube, dass auf diesem Wege, der jetzt vorgeschlagen worden ist, den mittelfristigen Finanzrahmen entsprechend auszustatten, um diese Gemeinschaftsanleihen und Gemeinschaftsinitiativen zu ermöglichen, dass da ein Lösungsweg beschrieben werden kann, der allen hilft.
"Mittelfristig heißt das auch gemeinsame Steuerpolitik"
Kaess: Da bleibt aber dann immer noch diese nicht ganz unwichtige Frage, ob dieser Fonds keine Kredite vergeben soll, sondern Transfers, wie zum Beispiel unter anderem Spanien das fordert. Die Begründung kann man verstehen, die sagen, keine neue Schulden für sowieso schon hoch verschuldete Staaten, aber sehen Sie denn da eine Chance, dass die Nordländer das akzeptieren würden?
Bullmann: Wir haben im europäischen Haushalt auch beides. Wir haben die Möglichkeiten, Kredite zu geben, wir haben Zuschüsse. Das ist eine Entscheidung, von der ich nicht glaube, dass sie heute fällt. Ich gehe davon aus, dass die Staats- und Regierungschefs die Kommission beauftragen werden, ein kluges Konzept zu erarbeiten. Ursula von der Leyen, die sehr lange unscheinbar war in dieser Diskussion, muss jetzt die Führung übernehmen und dazu einen sehr konkreten Vorschlag machen, der für alle akzeptabel ist. Mittelfristig heißt das auch gemeinsame Steuerpolitik, denn wenn wir die Risiken vergemeinschaften, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass wir zu gleichen Bedingungen arbeiten und nicht der eine der Trittbrettfahrer des anderen wird.
Kaess: Aber das würde unterm Strich auch wieder heißen, dass man doch finanziell füreinander einstehen muss und dass Länder, die jetzt besser durch diese Krise kommen, weil sie eben davor gut gewirtschaftet haben, dass die jetzt mehr in diesen Fonds einzahlen sollten. Haben Sie einen Tipp für Ihre deutschen Kollegen, wie sie das dem deutschen Steuerzahler erklären sollten?
Bullmann: Ich glaube, dass wir in einer Situation sind, wo wir vielleicht wie nie nach dem Zweiten Weltkrieg unsere wechselseitige Abhängigkeit spüren. Wer jetzt nur an sich denkt, wird morgen keinen Arbeitsplatz mehr haben. Wer jetzt nur an sich denkt als Unternehmerin oder Unternehmer, wird morgen keine Gewinne mehr machen. Ich glaube, Kurzfristigkeit im Denken muss überwunden werden, und langfristig und mittelfristig muss jeder profitieren. Das ist das Grundprinzip der Europäischen Union.
"Mindeststeuern gegenüber den Unternehmen"
Kaess: Aber diese Solidarität, die Sie da einfordern, Herr Bullmann, die macht sich doch auch daran fest, dass es eben auch gleiche Regeln für alle geben sollte, die dann auch eingehalten werden sollen, wenn es zum Beispiel um Schuldenstände oder Defizitregeln geht.
Bullmann: Deswegen mein wichtiges Stichwort mit der Steuerpolitik. Es kann nicht sein, dass wir Haushaltsrisiken vergemeinschaften, wir aber auf mittlere Sicht nicht dazu kommen, auch Mindeststeuern gegenüber den Unternehmen beispielsweise durchzusetzen, die in Europa wirtschaften, damit wir faire Wettbewerbsbedingungen haben. Das ist fest auf der Agenda von Olaf Scholz, das ist fest auf der Agenda der SPD. Wir sagen nur umgekehrt, es darf nicht immer nur eine Vorbedingung dafür sein, dass wir uns wechselseitig helfen. Die nächsten Schritte müssen sehr konkret sein, und wir brauchen ein großes Volumen, was über das hinausgeht, was die Finanzminister bereits vereinbart haben.
Kaess: Noch ganz kurz zum Schluss, denn wir haben nicht mehr viel Zeit: Mit welchem Verteilungsschlüssel sollte in diesem Fonds, der eventuell kommt, gearbeitet werden?
Bullmann: Wir können sicherlich davon ausgehen, dass wie bisher entlang der Wirtschaftskraft der jeweiligen Volkswirtschaften, anhand der Größe auch der Einwohnerzahl der Mitgliedsstaaten dabei weiter gearbeitet wird. Es wird faire Regelungen geben können, wenn man das Prinzip akzeptiert, das haben wir ja in der Haushaltsgestaltung die ganze Zeit.
Kaess: Und dann eventuell auch Maßstäbe, inwieweit – es gibt ja immer wieder die Kritik an Ungarn, dass man da andere Maßstäbe anlegen müsste, weil es nicht gerade als Vorzeigekandidat in der EU dasteht – könnte man da solche Kriterien auch einbauen?
Bullmann: Das ist ein eigenständiges Thema. Rechtsstaatlichkeit muss unter allen Bedingungen garantiert werden, und niemand, der sich als Minidiktator aufspielt, Journalistinnen und Journalisten maßregelt, Parlamente in ihren Rechten beschränkt, kann davon ausgehen, auf Dauer Solidarität durch die Mitgliedsstaaten zu erfahren oder durch die Europäische Union. Das steht auf einem gesonderten Blatt und muss gesondert geregelt werden.
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