Birgit Wentzien: Gratulation zum 60. an die oberste deutsche Arbeitsrichterin der Republik. Frau Schmidt, Ihr Gericht, das Bundesarbeitsgericht, besteht in diesen Tagen sechs Jahrzehnte. Zunächst mit Sitz in Kassel über viele Jahrzehnte hinweg und seit 1999 in Erfurt. Was wünschen Sie dem Gericht und sich persönlich zum Sechzigsten?
Ingrid Schmidt: Also ich werde ja noch nicht 60, sondern ich bin jünger als das Gericht. Ich muss mir noch nichts wünschen. Für das Gericht wünsche ich mir, dass es so weiterfährt wie bisher, nämlich sich ständig erneuert, neue Gedanken, Ideen hat, aber einen tragenden Gedanken immer beibehält. Dass es sich grundrechtsverpflichtet sieht und da in der Tradition bleibt, Freiheit und Gerechtigkeit, verschiedene Grundrechte gegeneinander abzuwägen und gerecht auszugleichen.
Wentzien: Das ist der rote Faden der Geschichte, wenn man so will, dieses Gerichts. Ihr Vorgänger im Amt, der erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Hans Carl Nipperdey, hat vor sechs Jahrzehnten bei der feierlichen Eröffnung des obersten deutschen Arbeitsgerichtes gesagt - ich zitiere mal: "Bei arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten prallen häufig die sozialen Gegensätze und zuweilen auch die Leidenschaften der Parteien aufeinander." Hat sich daran irgendwas geändert?
Schmidt: Nein, es ist gleichbleibend geblieben. Was damit zu tun hat, dass sowohl auf der Arbeitgeberseite, als auch auf der Arbeitnehmerseite Personen agieren, die Menschen aus Fleisch und Blut sind. Und bei aller Rationalität bleiben dann doch gewisse Leidenschaften vorhanden, die irgendwo ihr Ventil suchen. Und es ist nicht nur ein rein ökonomisches Austarieren, sondern die Kunst besteht darin, verschiedene Freiheitsrechte, die auf beiden Seiten bestehen, zu einem Ausgleich zu bringen, der möglichst fair sein soll. Natürlich sind die Vorstellungen, was fair ist, die sind immer sehr unterschiedlich, auch dem Zeitgeist unterworfen. Gleichwohl muss es immer gelingen, in der Rechtsprechung sie so hinzukriegen, dass sie A) von den Instanzgerichten befolgt wird und B) von den Rechtsunterworfenen akzeptiert wird.
Rechtsstreitigkeiten "komplizierter und komplexer" geworden
Wentzien: Hat sich denn an der Intensität der Streitigkeiten und an der Leidenschaft oder an der Qualität dieser beiden Größen verändert? Ist es heftiger geworden?
Schmidt: Nein, heftiger ist es ganz bestimmt nicht geworden, aber es ist komplizierter und komplexer geworden. Was damit zusammen hängt, dass die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts sich natürlich sehr von der des 20. Jahrhunderts unterscheidet und auch ganz andere Anforderungen an die Menschen stellt. Also die analoge Arbeitswelt war eine andere, als es die jetzige digitale Arbeitswelt ist.
Wentzien: Ein Thema damals - 1955 nämlich - war das Arbeitskampfrecht und die Frage, ob Streiks überhaupt erlaubt sind. Das Gericht, das Bundesarbeitsgericht, kam damals zu dem Schluss: Ja, in bestimmten Grenzen. Das klingt heute wie aus der Zeit gefallen und kaum noch vorstellbar. Allerdings eines hat man seither in den sechs Jahrzehnten nicht geschafft, nämlich ein Arbeitsgesetzbuch in der Summe zu formulieren - warum eigentlich nicht?
Schmidt: Kommen wir erst mal zum Arbeitsgesetzbuch. Das verlangt, dass man verschiedene arbeitsrechtliche Bereiche stärker aufeinander abstimmt und in einigen Bereich auch mehr Verantwortung übernimmt. Das sind allerdings Sachverhalte, für die ein Politiker nicht gelobt wird. Solch ein Arbeitsgesetzbuch wird zu einer Veränderung des Arbeitsrechts führen, und diese Veränderungen werden sowohl von Arbeitgeberseite als auch von Gewerkschaftsseite natürlich mit Argusaugen verfolgt. Und logischerweise wird jede Änderung, von der man meint, dass sie zu den eigenen Lasten geht, bekämpft. Und warum soll ein Politiker sich hierbei eine blutige Nase holen? Wähler kann er damit nicht überzeugen. Also ein Arbeitsgesetzbuch wäre für Juristen schön, für den Wähler ist es uninteressant und dann liegt es auf der Hand, wie sich der Politiker entscheidet.
Wentzien: Würden Sie sagen, es gibt Ihnen - weil Sie keines haben - mehr Freiheit in Ihrer Urteilsmöglichkeit und -fähigkeit?
Schmidt: Ach, man sollte jetzt aber auch das Vorliegen eines Arbeitsgesetzbuches nicht überschätzen. Gucken Sie mal oder werfen Sie einen Blick ins Sozialrecht, dort haben Sie mittlerweile mehr als elf Sozialgesetzbücher, und das hat die Welt des Sozialrechts auch nicht einfacher gemacht.
Die Mutter des kollektiven Arbeitsrechts
Wentzien: Lassen Sie uns noch kurz, bevor wir auf die Große Koalition und ihre Vorhaben in dieser Legislaturperiode kommen, mit dem Gegenteil umgehen, Frau Schmidt. Nach dem Streik der Piloten beispielsweise in diesem Frühjahr wieder und beim Stichwort "Streikrecht". Sind denn aus Ihrer Sicht, wenn damals zum Start des Gerichtes die Frage überhaupt erst mal zu klären war, ob ein Streik möglich ist, aus Ihrer Sicht heutzutage - sechs Jahrzehnte nach der Gründung - Eingriffe in das Streikrecht, also das Gegenteil dessen denkbar, um so partikulare Arbeitskämpfe wie zum Beispiel bei den Piloten auszubremsen? Der Staat könnte ja sagen - und viele Stimmen waren rund um den Streik im Frühjahr zu hören: "Man muss bestimmten Egoismen von Berufsständen auch mal Grenzen aufzeigen, das gehört auch dazu." Schließen Sie so was generell aus?
Schmidt: Das ist mir zu schlagwortartig. Also ich denke Streik, den Verdi führen würde und der bei den Piloten das Zugpferd wäre, wäre für die betroffene Fluggesellschaft auch nicht weniger einschneidend - das muss man einfach sehen. Man muss sich auch fragen, warum gerade bei dieser Fluggesellschaft immer die Streiks sind. Bei anderen Fluggesellschaften finden diese Streiks in dieser Intensität nicht statt. Eingriffe ins Streikrecht mag es geben, die kann der Gesetzgeber formulieren. Man würde dann abwarten, wie die auszusehen haben und sie dann daraufhin prüfen, ob sie mit Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes vereinbar sind.
Wentzien: Dahinter steckt?
Wentzien: Eine Materie, mit der Sie aber immer wieder in der Geschichte zu tun haben?Schmidt: Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes, die Mutter des kollektiven Arbeitsrechts, also des Arbeitsrechts, das die Beziehungen zwischen Arbeitgeberverbänden oder Arbeitgeber und den Gewerkschaften regelt.
Schmidt: Ja, das ist sozusagen unsere Blaupause für das kollektive Arbeitsrecht. Denn das Arbeitskampfrecht ist ja bis heute nicht geregelt und die gesamte Rechtsprechung hat - jedenfalls seit den 70er Jahren - immer nur diesen Grundrechtsartikel als Grundlage für die Arbeitskampfrechtsprechung gehabt. Und wir scheinen das auch ganz ordentlich gemacht zu haben und wurden jetzt auch jüngst wieder vom Bundesverfassungsgericht bestätigt.
"Als Richterin habe ich den Politikern nichts ins Stammbuch zu schreiben"
Wentzien: Die Große Koalition will gerade wieder in diesen Tagen, nach der Klausur der Fraktionen, ein Gesetz zur Tarifeinheit noch in diesem Jahr auf den Weg bringen. Also in einem Unternehmen sollen nicht unterschiedliche Gewerkschaften verschiedene Tarifverträge für einzelne Berufsgruppen abschließen können. Gelten soll das Prinzip, so wird es immer wieder gesagt: Ein Betrieb und ein Tarifvertrag. Nun, wenn man in die Geschichte des Bundesarbeitsgerichts schaut, dann ist klar, das Bundesarbeitsgericht hat ganz bewusst ja die Tarifeinheit aufgegeben und hat gesagt: Die Koalitionsfreiheit aller ist höher anzusetzen, darf nicht beschränkt werden und man muss sich auch auf den Weg machen und die gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden. Was würden Sie jetzt - gesetzt den Fall, Sie hätten die Möglichkeit - der Großen Koalition, gerade nach der Fraktionsklausur diese Woche, bei diesem Thema ins Stammbuch schreiben? Ist sie da verfassungsfest unterwegs oder versucht sie da etwas in die Hand zu nehmen, von dem sie noch gar nicht weiß, ob sie es überhaupt heben kann?
Schmidt: Ja, also ich meine, als Richterin habe ich den Politikern sowieso nichts ins Stammbuch zu schreiben. Es ist nur die einfache Frage zu stellen: Welches Problem soll denn überhaupt gelöst werden? Und mit welchem Instrumentarium soll es gelöst werden? Denn die Herstellung von Tarifeinheit, in dem von Ihnen angesprochenen Sinne, kann ja da nicht aufhören, sondern setzt ja zwingend auch eine Koordination des Arbeitskampfes voraus. Wenn man das nicht in Angriff nimmt, steht dann die Frage: Wie soll Tarifeinheit hergestellt werden? Und man muss sich auch darüber im Klaren sein und das auch politisch wollen, dass dortige Beschränkungen entweder zugunsten oder zu Lasten einer Seite geht, und wenn man das nicht will, muss man es austarieren. Das ist eine Aufgabe, die nicht ganz einfach zu bewältigen sein dürfte.
Wentzien: Wie nehmen Sie das wahr? Sie hören ja auch die Stimmen - Andrea Nahles als Ressortchefin des Arbeitsressorts, Volker Kauder als CDU/CSU-Fraktionschef, Thomas Oppermann aufseiten der SPD als Fraktionschef waren zu hören. Da gibt es also den großartigen Plan, dieses Thema jetzt anzupacken und auch zu stemmen. Würden Sie sagen, die Politiker wissen, was sie sagen in dem Fall und hoffen auch darauf, dass sie wissen, was sie tun?
Schmidt: Der Begriff, der ist so eingängig, dass man meint, dass jeder das Gleiche sagt, aber jeder meint einen anderen Inhalt.
Wentzien: Okay. Da müsste also eine Große Koalition zu einer Verständigung erst mal kommen?
Schmidt: Erst mal, ja.
"Politik bleibt nichts anders übrig, als sich in die Hand der Gerichte zu geben"
Wentzien: Zu Gast im Interview der Woche des Deutschlandfunk ist Ingrid Schmidt, die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts. Wir haben zu Beginn ja den ersten Präsidenten des Gerichts zitiert, und seine Nachfolger - und damit ihre Vorgänger danach - waren Rudolf Kissel und Hellmut Wißmann. Und beide haben immer wieder ganz deutlich einem Argument oder einem Vorwurf Paroli geboten, nämlich dem Vorwurf, das Arbeitsrecht sei zu politisch. Und sie haben beide immer gesagt, es fehle den Politikern andersherum - also so, wie Sie es schon angedeutet haben, Frau Schmidt -, es fehle den Politikern an Mut und auch an fehlendem Können bei der Gesetzestätigkeit und Gesetzesfertigung und darum würden die Richter des Bundesarbeitsgerichts zu Ersatzgesetzgebern, weil sich Politiker eben nicht trauten. Würden Sie an der Stelle Ihren Vorgängern zustimmen oder würden Sie es anders akzentuieren und ausdrücken?
Schmidt: Ich würde es ein bisschen anders zum Ausdruck bringen. Politiker haben gerade heutzutage das große Problem, dass sie mit Gesetzen nicht mitkommen, dem technischen Wandel gerecht zu werden. Sie haben weiter das Problem, dass die Globalisierung eine Flexibilisierung erfordert und erzwingt, die eine Gesetzgebung alleine nicht zu beherrschen vermag. Also muss die Politik, um überhaupt noch Herrin des Geschehens zu sein, mit unbestimmten Rechtsbegriffen bestimmte Materien regeln, und die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe ist eben typischerweise Aufgabe von Richterinnen und Richtern. Insoweit bleibt der Politik eigentlich nichts anders übrig, als sich in die Hand der unabhängigen Gerichte zu geben. Hinzu kommt, dass gerade das Arbeitsrecht von einem starken Interessengegensatz geprägt ist und natürlich die Fliehkräfte, die auf die Politik einwirkten, hier bestimmt größer sind als in anderen Rechtsgebieten.
Wentzien: Sie haben mal von dem "Ausputzer der Politik" gesprochen in einem Interview. Und ich würde es ganz gerne illustrieren an dem jüngsten Beispiel, nämlich an dem Urteil zur Leiharbeit. Das Gesetz haben Sie ja quasi "return to sender" an den Gesetzgeber zurückgegeben. Er soll jetzt nachbessern, haben Sie ihm ins Stammbuch dann, ins Urteilstammbuch geschrieben, und er muss bei der Leiharbeit klar Sanktionen für Arbeitgeber aussprechen, die Leiharbeiter eben länger als 18 Monaten beschäftigen. Was sagen Sie, wenn Sie noch mal an die Worte Ihrer Vorgänger denken? Ist das bewusst geschehen? Hat die Politik sich an der Stelle nicht getraut? Also Sie merken, ich insistiere. Oder fehlte das Können? Kann ja auch sein.
Schmidt: Na ja, also erst mal zu dieser Entscheidung. Also Richter sind ja an Recht und Gesetz gebunden, sie können ja nicht gerade machen, was sie wollen. Und die Bindung an Recht und Gesetz erzwingt bei uns auch eine Vorgehensweise nach einer bestimmten anerkannten Methode. Und die Methode der Gesetzesauslegung, die führte hier an ihre Grenzen, weil die Sanktion, die eigentlich bei einem Verstoß gegen die Nichteinhaltung vorübergehend zu verhängen ist, die ist nicht eindeutig bestimmbar. Es gibt verschiedene Reaktionsmöglichkeiten. Und in diesem Falle gibt es für das Gericht keine Möglichkeit zu sagen: Also die läge uns näher oder die wäre effizienter, sondern das ist dann Aufgabe, wo Richterrecht nicht mehr hilft, wo der Gesetzgeber ran muss.
"Politik kommt ohne Schaufenster nicht aus"
Wentzien: Macht Politik das manchmal extra, weil an der Stelle gar nichts anderes möglich ist, weil die Mehrheiten vielleicht auch in der Gesellschaft so sind, wie sie sind?
Schmidt: Also gehen Sie mal davon aus, dass es nicht an gesetzgeberischem Können fehlt, im Sinne von handwerklichem Können. Sondern der Gesetzgeber ist in einer Demokratie darauf angewiesen, dass er eine Mehrheit für dieses Gesetz organisiert. Und er kann ein Gesetz nur so gut machen, wie er Mehrheiten für dieses Gesetz findet - das ist seine Obergrenze. Und manchmal reicht es nicht, dann können die Gerichte beanstanden, und dadurch wird natürlich auch wieder Druck auf die Gesetzgebung erzeugt.
Wentzien: Als Sie 2005 auf Posten kamen, haben Sie gesagt in Ihrer Antrittsrede: "Einen gesetzesfreudigen Staat, den hätten wir, mit einem gelegentlich sehr ausgeprägten Streben nach Einzelfallgerechtigkeit." Und, Frau Schmidt, Sie haben auch als neue Chefin des Bundesarbeitsgerichts damals gesagt: "Es ist extrem schwierig für uns, wenn sich der Gestaltungswille des Gesetzgebers auf das bloße Erzielen psychologischer Effekte beschränkt, denn die vorhersehbare Wirkungslosigkeit führt zwangsläufig zu Frustrationen, die Arbeitsrichter nicht verhindern können, jedoch mitverantworten müssen." Sie gestatten, dass ich als Journalistin ganz platt zusammenfasse und sage: Manchmal geht es in der Politik auch nur um Show?
Schmidt: Tja, das ist es ja. Das führt genau zu diesen Frustrationen. Politik kommt ohne Schaufenster nicht aus - ganz klar -, nur das durchschaut halt nicht jeder. Und diejenigen, die das nicht durchschauen beziehungsweise die davon betroffen sind, weil ihnen etwas verheißen wird, was das Gesetz nicht einhalten kann, die sind naturgegebenermaßen enttäuscht. Das ist eher dann eine Aufforderung an die Politik, richtige Gesetze zu machen und keine Schaufenstergesetze.
Wentzien: Ist der Mindestlohn eine Showveranstaltung?
Schmidt: Das glaube ich nicht.
Wentzien: Was vermuten Sie dahinter?
Schmidt: Nein, es ist, glaube ich, eine echte politische Einigung dahinter, den Mindestlohn auf 8,50 Euro festzulegen. Das Gesetz wird natürlich Handlungsbedarf für uns bringen. Es legt nicht fest, wie sich der Mindestlohn im Einzelnen bestimmt, was sicherlich eine naheliegende politische Entscheidung ist. Denn ich glaube nicht, dass ein Gesetzgeber alle Gehaltskomponenten durchschaut, die in der Republik da sind und die auch was damit zu tun haben, dass viele Kautelarjuristen unterwegs sind und sich Dinge ausdenken, um sich nicht an Regeln halten zu müssen - das ist nun mal so. Also der Gesetzgeber kann das wohl nicht durchschauen, und das ist dann wieder so typisch, wo die Aufgabe den Gerichten zuwächst.
"Man wird natürlich sich darüber streiten, auf was sich diese 8,50 Euro beziehen"
Wentzien: In Andeutung haben Sie es gesagt, Frau Schmidt, sagen Sie es noch mal konkret. Bei diesem Gesetz - auch im Zusammenhang mit der Leiharbeit -, wo wird Ihr Gericht hier in Erfurt, wo werden Sie intensiv mit dem Mindestlohn wahrscheinlich - wenn das Gesetz dann fertig ist - auch zu tun haben?
Schmidt: Also ich denke mal bei Entgeltklagen. Man wird natürlich sich darüber streiten, auf was sich diese 8,50 Euro beziehen, welche Zuschläge da einfließen. Man hat ja, wie ja jetzt gerade in der "Zeit" zu lesen war, gelegentlich die Konstruktion, dass ein geringer Monatslohn und hoher Aufwendungsersatz gezahlt wird. Der Aufwendungsersatz, der ja nur für tatsächliche Aufwendungen gezahlt werden dürfte, hat den Vorteil, dass es nicht sozialversicherungspflichtig ist. Da wird man künftig sich darüber streiten, inwieweit das Aufwendungsersatz ist oder zum Stundenlohn dazu gehört. Was ist mit den Sonntagszuschlägen und Feiertagszuschlägen? Wie ist es, wenn mit Bruttoentgelt bestimmte Überstunden mit abgegolten werden? Rechnen die oder rechnen die nicht? Also da wird es eine ganze Fülle von Fragen geben. Aber das hat jedes neue Gesetz. Für das ist das typisch und das wird uns, glaube ich, nicht vor besondere Herausforderungen stellen.
Wentzien: Bundesarbeitsministerin Nahles sagt: "Eine gute Nachricht für all diejenigen, die hart arbeiten, aber nur wenig Geld bekommen." Und Nahles meint: "Auch die Praktikanten, nämlich 600.000 im Schnitt im Moment in der Republik, und nur rund 40 Prozent von ihnen werden bezahlt." Werden Sie auch mit diesem Bereich des Themas Mindestlohn zu tun bekommen? Was meinen Sie?
Schmidt: Ja, sobald die Praktikanten der Auffassung sind, sie seien Arbeitnehmer, dann sind die Arbeitsgerichte für sie zuständig und dann können wir aktiv werden auf entsprechende Lohnklagen hin.
Wentzien: Frau Schmidt, wenn Sie auf dieses Thema schauen und die Beschäftigung in den nächsten Jahren Ihrer Senate und Richter, welche Fehler sollte Politik zum Beispiel künftig vermeiden und selber aus einer eigenen Gesetzestätigkeit in den Jahrzehnten zuvor lernen? Machen Sie es mal am Beispiel Mindestlohn fest.
Schmidt: Da fällt mir das nicht so richtig ein. Mir fällt nur auf, schwierig wird es immer dann, wenn auf nationaler Ebene ein Problem nicht gelöst wird und auf die Unionsebene, also zur Europäischen Union geschoben wird und dort über Richtlinien wiederum in einer Form gelöst wird, die bei Umsetzung im nationalen Recht dort wieder zu Verwerfungen führt.
Ungelöste Rechtsprobleme nicht auf die europäische Ebene schieben
Wentzien: Das ist bei der Leiharbeit zum Beispiel?
Schmidt: Leiharbeit. Das Urlaubsrecht ist auch so was. Die Arbeitszeitrichtlinie. Also da gibt es ganz viele Beispiele. Es ist natürlich so, dass das europäische Recht nicht allein für die Deutschen da ist, sondern für die anderen auch und in jeweiligen Rechtskreisen zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Aber trotzdem sollte man der Versuchung widerstehen, das, was man im nationalen Raum nicht lösen kann, auf die europäische Ebene zu schieben.
Wentzien: Ist aber Mittel der Politik. Nationale Politik kann manche Knoten nicht durchschlagen und man schiebt dann das ganze Seil mitsamt dem Knoten nach Brüssel und dann kommt es wieder als Richtlinie nach Hause.
Schmidt: Genau, und Brüssel kann einem dann wieder leidtun, weil die sozusagen die Schelte einstecken müssen, die eigentlich für den nationalen Gesetzgeber bestimmt war.
Wentzien: Was sagen Sie zu dieser Konstruktion, wenn Sie als Juristin und Chefin des Bundesarbeitsgerichts darauf schauen und auf das Frühjahr schauen, wo ja Karlsruhe eine Geschichte, nämlich im Zusammenhang mit der EZB und den Staatsanleihen, auch ganz bewusst in die europäische Ebene, nämlich zum Luxemburger Gerichtshof geschoben hat? Zeichnet sich da ein Muster auf oder ist da ein Muster zu sehen, das in Zukunft auch öfter noch mal auftauchen wird?
Schmidt: Na ja, es ist unübersehbar, dass also in meinem Bereich, dem Arbeitsrecht, die Europäisierung zugenommen hat. Anfänglich war ja nur die Entgeltgleichheit in EG-Verträgen bestimmt. Mittlerweile haben wir eine ganze Reihe von Richtlinien. Und das ist die Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs, diese Richtlinie auszulegen und insoweit Vorgaben für das nationale Recht zu machen. Während wiederum das nationale Gericht diese Vorgaben bei der Auslegung des nationalen Rechts zu beachten hat. Dieses Verhältnis - nationale Gerichte - Bundesverfassungsgericht - Europäischer Gerichtshof - sehen ja manche als Pyramide, um jetzt mal ein Bild zu gebrauchen. Aber ich finde, die Lösung, die Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts geboten hat, das Bild finde ich viel besser, nämlich das eines Mobiles. Das muss alles in sich austariert sein und dann hängt es schön und schwingt schön, und wenn eine Seite ein Übergewicht hat, sackt das ganze Mobile in sich zusammen. Und so muss es auch wirklich sein: Jedes Teil dieses Mobiles hat seine Kompetenz und alles muss ineinander ausgeglichen sein und dann funktioniert es.
"Das Soziale in Europa in Einklang zu bringen, ist viel schwerer als das Wirtschaftliche"
Wentzien: Und Sie würden sagen, der Wind um dieses Mobile herum, der reicht jetzt für das, was an Machtzuschiebung und Verantwortung da ist? Oder wird es so sein in der Perspektive, wenn Sie von hier aus mal 15 Jahre nach vorne schauen, Frau Schmidt, und für Ihren Rechtsberitt drauf schauen, auf den Horizont, wird es so sein, dass mehr nationale Rechte doch mit einer anderen rechtlichen Grundlage, also einem anderen Windgefüge noch erst formuliert werden müssen, damit dieser Kontinent auch anders als bisher aufgestellt ist?
Schmidt: Na ja, das Soziale in Europa miteinander in Einklang zu bringen, das ist ja viel schwerer als das Wirtschaftliche. Wir kennen ja diese vier Grundfreiheiten, wobei die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die lässt sich ja nicht so ganz leicht umsetzen, wie die Kapitalverkehrsfreiheit. Also das Geld können Sie über die Grenzen schicken, das interessiert nicht, ob es da oder da oder dort gebraucht wird, aber das können Sie mit einem Arbeitnehmer eben nicht machen. Da gibt es die Sprachschwierigkeiten, da gibt es die kulturellen Schwierigkeiten. Also die Nutzung dieses Freiheitsrechts wird immer eine sehr begrenzte sein. Und deswegen profitieren die Arbeitnehmer und das nationale Arbeitsrecht erst mal etwas weniger von diesen Grundfreiheiten, die uns die Europäische Union bringt, als andere gesellschaftliche Gruppen.
Wentzien: Also in der Summe ein positiver Ausblick, was Europa und Arbeitsrecht und soziale Standards anbelangt?
Schmidt: Das denke ich schon, weil sonst Europa nicht funktioniert. Es ist ja eine soziale Schieflage eingetreten dadurch, dass die Europäische Union in ihren Anfangszeiten ja eine strikte Ausrichtung auf das Ökonomische, auf das Wirtschaftliche hatte. Das ist dann schon nicht unbemerkt geblieben, dass die Arbeitnehmer auch da ein bisschen auf der Strecke bleiben oder das Soziale etwas auf der Strecke bleibt. Und durch entsprechende Vertragskorrekturen hat man das ja versucht, in den Griff zu nehmen. Allerdings muss man natürlich da auch wieder mit Augenmaß rangehen und nicht so überschießend vorgehen.
Also für mich ist immer so das Beispiel das Verbot der Altersdiskriminierung. Das hört sich ja immer so schick an. Natürlich soll keiner wegen seines Alters benachteiligt werden, aber jede Gesellschaft und jede Arbeitskultur hat so ihre Eigenheiten. Natürlich ist es richtig, zu fragen: Kann das bestehen? Ist es richtig, dass Ältere mehr Urlaub haben, Ältere mehr verdienen? Und so weiter und so fort. Dabei wird natürlich vergessen, dass das ein Gesamtkonzept ist. In jüngeren Jahren hat man vielleicht etwas weniger, als Älterer hat man etwas mehr und da hat man eine gewisse Vorleistung erbracht. So kann man das sehen - man kann es auch anders sehen. Aber man hat mittlerweile das Gefühl, es wird alles nur noch unter dem Blick der Altersdiskriminierung betrachtet. Und das, denke ich, lenkt von den eigentlichen Problemen dieser Republik ab.
"Mir graut immer vor den Dingen, die so scheinbar so einfach sind"
Wentzien: Die liegen weiterhin in einem Schutzbedürfnis der Bürger, auch in sozialen Standards, die möglicherweise noch mal anders als bislang auch finanziert werden müssen, und im Beispiel auch: "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit"?
Schmidt: Das ist ja auch so. "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit", das prägt sich sofort ein, das hält jeder sofort für richtig. Aber wenn sie mal in die Situation kommen, müssen sie sagen: A) Was ist denn gleiche Arbeit? Und B) Was ist denn der gleiche Lohn? Dann kommen sie schon in Schwierigkeiten. Das ist auch der Satz, den ich schon oft gesagt habe: Mir graut immer vor den Dingen, die so scheinbar so einfach sind. Das ist meistens höchst komplex und kompliziert, es will nur keiner wahrhaben und wundert sich hinterher, dass es nicht funktioniert. "Equal Pay" ist das Nächste. Das ist ja auch nicht nur in Bezug auf das Geschlecht, sondern in Bezug auf die Leiharbeitnehmer, die sollen ja genauso viel verdienen wie die Stammarbeitnehmer. Aber ich kann Ihnen sagen, bei uns ist ein ganzer Senat dabei, sich mit diesem Begriff "Equal Pay" zu befassen und festzulegen, was eigentlich Bestandteil von "Equal Pay" ist. Und beim Mindestlohn wird das auch wieder so werden.
Wentzien: Und in 60 Jahren hat das Bundesarbeitsgericht aber diese Frage an der Stelle möglicherweise gelöst?
Schmidt: Ganz bestimmt. Das ist schon viel früher gelöst. Eigentlich ist unser 5. Senat, der hier für diese Rechtsfrage zuständig ist, auf einem sehr guten Weg und für die Herausforderungen des Mindestlohngesetzes bestens präpariert.
Wentzien: Sie selber sagen, Frau Schmidt, als Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts: "Ich bin die richtige Person am richtigen Ort!" Und: "Ich habe das interessanteste Amt der Justiz überhaupt!" Das sind ja zwei wuchtige Sätze. Hat Ihnen schon mal jemand widersprochen an der Stelle?
Schmidt: Nein, weil jeder weiß, dass es stimmt.
Wentzien: Und Sie sind auch eine Frau, die ganz offen damit umgeht und sagt: "Wir haben landsmannschaftliche und sonst wie Quoten, wir brauchen auch eine Frauenquote in diesem Land!"
Schmidt: Ja, die Frauenquote ist nicht besonders schön, aber es ist doch irgendwie sehr bedenklich, dass wir mehr als zig Jahrzehnte nach Inkrafttreten des Grundgesetzes immer noch in der Situation sind, dass Frauen in vielen, gerade Beförderungsämtern und vor allem auch im Öffentlichen Dienst immer noch unterrepräsentiert sind. Da muss man doch zum Ergebnis kommen, dass mit Geduld wenig zu erreichen ist, sondern mit entsprechend starren Vorgaben, einfach Druck in den Kessel. Nur, sagen wir mal, das Wasser wird nur heißt, wenn Druck in den Kessel kommt, sonst passiert nichts.
Wentzien: Und der Topf kocht auf der Strecke der nächsten zehn, 15 Jahre?
Schmidt: Ja, es wird wohl diese Perspektive, zehn Jahre wird es wohl sein. Ich hoffe, dass eine echte Gleichstellung früher erreicht ist. Aber das ist sehr optimistisch.
Wentzien: Vielen Dank.
Schmidt: Bitte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.