Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Roland Jahn hat die Notwendigkeit der weiteren historischen Aufarbeitung der Stasi-Dokumente betont. Die historische Auswertung der Stasi-Akten finde künftig an den Universitäten statt, dort gehöre sie auch hin, sagte Jahn im Interview der Woche im Deutschlandfunk. In Forschungsverbünden gemeinsam mit Gedenkstätten und historischen Instituten werde auch interdisziplinäre Forschung stattfinden, bei der die DDR insgesamt betrachtet werde, nicht nur fixiert auf die Stasi.
Das Konzept, das der Deutsche Bundestag bestätigt habe, sichere die Zukunft der Nutzung der Stasi-Unterlagen und sichere auch, dass Bildung und Forschung weitergehen.
Akten als Symbol für die friedliche Revolution
Jahn sagte, die Akten bildeten auch ein Symbol für die friedliche Revolution. Es gelte auch der nächsten Generation zu zeigen, dass Diktatur überwindbar sei und sich Verhältnisse ändern könnten, wenn Menschen es täten.
Jahn führte aus, das Archivzentrum in Berlin-Lichtenberg am historischen Ort der ehemaligen Stasi-Zentrale werde alle Akten zur DDR, die sich im Bundesbesitz befinden, beherbergen, sodass dort ein Zentrum für Forscher und Bildung geschaffen werde.
Differenzierte Betrachtung der einstigen "Verräter"
Bei der Einsicht seiner eigenen Akten habe er gelernt, welcher Druck auf die einzelnen Menschen ausgeübt worden sei. Zwar hätten seine Mit-Studenten seine Entfernung von der Universität bestätigt und dafür gestimmt. Als er dann in den Akten gesehen habe, unter welchem Zwang sie gestanden hätten, habe er eine andere Bewertung vorgenommen. Erst habe er sie als Verräter bezeichnet. Er beurteile das heute viel differenzierter.
Ein Auftrag für die nächste Generation
Zum künftigen Amt einer oder eines Beauftragten des Deutschen Bundestages für die SED-Opfer sagte Jahn, es sei wichtig, dass die Person Empathie für die Menschen habe und zuhören könne. Außerdem müsse sie mit politischem Durchsetzungsvermögen in der Lage sein, den Menschen konkrete Hilfestellungen zu leisten. Dabei gehe es auch um die nächste Generation. Jemand, der im Alter von drei Jahren erlebt habe, wie seine Eltern verhaftet wurden, auch auf den habe das Auswirkungen. Auch bei anderen Themen wie Zwangsadoption und Zwangsarbeit benötigten die Opfer weiterhin Hilfe.
Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Herr Jahn, haben Sie die ARD-Fernsehserie "Die Toten von Marnow" gesehen?
Roland Jahn: Ja, die habe ich gesehen.
Heinemann: Und?
Jahn: Ja, ich denke, das ist ein spannender Film. Und er greift auch natürlich die Geschichte auf. Und das macht wieder deutlich, dass wenn wir uns mit Geschichte beschäftigen, doch auch der Weg in die Gegenwart und in die Zukunft immer mit dabei ist. Das heißt, die Themen der Vergangenheit bewegen uns auch heute.
Heinemann: Es geht um einen Skandal, in den die Stasi und die westliche Pharmaindustrie verwickelt sind. Leider keine Fiktion. Welche Rolle spielte die Stasi bei den klinischen Studien von Westfirmen in der DDR?
"Die Akten sind ein Hilfsmittel"
Jahn: Ja, der Film ist schon Fiktion. Und die Kunst ist frei und kann natürlich dramatisieren, kann zuspitzen. Aber was hier eine Rolle spielt, ist natürlich, dass es wirklich einen Hintergrund gibt, der tatsächlich geschehen ist. Es gab Versuche mit Medikamenten in DDR-Kliniken im Auftrag von westlichen Pharmafirmen. Und hier hat die Staatssicherheit die Rolle gespielt, dass sie den Überblick bewahrt hat, dass sie versucht hat, hier die Kontrolle auch auszuüben, Informationen gesammelt hat auch immer wieder, dass diese Geschäfte, die hier die DDR gemacht hat mit dem Westen … sie hat ja daran Devisen verdient, dass diese Geschäfte auch unter der Decke geblieben sind.
Heinemann: Also, die Stasi hat organisiert, dass Menschen als Versuchspersonen zur Verfügung gestellt wurden und der Staat dafür Devisen bezogen hat?
Jahn: Nein. Es ist ein kompliziertes System. Die Stasi hatte die Finger mit drin, natürlich, weil es Firmen in der DDR gab, die im Auftrag hier die westlichen Geschäfte gemacht haben. Diese Firmen wurden zusammengefasst in einer kommerziellen Koordinierung. Und hier wiederum war die Stasi natürlich präsent.
Heinemann: 2016 wurde die Studie "Testen im Osten" vorgestellt. Wie wichtig waren dabei die Stasiakten und die wissenschaftlichen Kenntnisse Ihrer Bundesbehörde?
Jahn: Hier hat sich wieder gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir in die Stasiakten hineinschauen, dass die Forscher in die Stasiakten hineinschauen. Und das war eine wichtige Grundlage für diese Studie. Aber man muss immer wieder darauf hinweisen, die Stasiakten sind ein Blick auf die Sache. Es gilt, ja noch zusätzliche Akten natürlich zu studieren, in den Klinken, in DDR-Ministerien und natürlich auch mit Betroffenen Gespräche zu führen.
Heinemann: Bleiben wir aber noch mal bei den Stasiakten. Wie viele Tote von Marnow, im übertragenen Sinne, sind in den 111 km Stasiakten noch zu finden? Womit rechnen Sie?
Jahn: So kann man an die Sache nicht rangehen, weil diese Stasiakten doch oft sehr grob die Fälle darstellen. Und es geht ja um die Rahmenbedingungen, die in den Stasiakten geschildert werden. Und dann muss jeder Fall wirklich gründlich wissenschaftlich bewertet werden. Es geht nicht darum, einfach mal Schlagzeilen zu produzieren, sondern eine differenzierte Betrachtung des Gesamtsachverhaltes herzustellen.
Heinemann: Und das muss historisch aufgearbeitet werden, auch anhand der Akten?
Jahn: Ja. Die Akten sind ein Hilfsmittel. Unsere Aufgabe ist es, die Akten der Staatssicherheit der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, damit Wissenschaft, damit Medien damit arbeiten können.
Heinemann: Wieso wird die Unterlagenbehörde dann aufgelöst?
"Die historische Aufarbeitung ist sichergestellt"
Jahn: In dem Sinne wird sie ja nicht aufgelöst, sondern es werden neue Strukturen geschaffen, damit sie langfristig wirken kann. Das Stasiunterlagenarchiv wird Teil des Bundesarchives, um auch Kompetenzen, Technik und Ressourcen zu bündeln, das heißt, Herausforderungen wie Digitalisierung sollen natürlich auch gemeistert werden. Und was wichtig ist, dass der Blick auch über die Stasi hinausgeht. Gerade unser Projekt des Archivzentrums in Berlin Lichtenberg am historischen Ort der ehemaligen Stasizentrale, dieses Archivzentrum wird dann alle Akten, die im Bundesbesitz sind zur DDR, beherbergen, sodass dort ein richtiges Zentrum auch für die Forscher und auch für die Bildung da ist.
Heinemann: Wichtig an der Unterlagenbehörde war doch die historische und wissenschaftliche Aufarbeitung der Akten. Inwiefern ist denn das gesichert für die Zukunft?
Jahn: Das ist gesichert für die Zukunft, denn die Forschung und die Bildung gehen weiter. Die Forschung konzentriert sich vor allen Dingen auf die Erforschung des Archives. Der Gesetzgeber, der Bundestag hat hier einen klaren Auftrag erteilt zur quellengründlichen Forschung, damit dieses Archiv weiter und besser erschlossen werden kann, damit es besser genutzt werden kann. Und das dient der Forschung insgesamt. Denn gerade auch die Forschungsverbünde, die es jetzt gibt, republikweit, an den Universitäten, die dieses Archiv dann besser nutzen können, das ist das Ziel. Und auch die Bildungsangebote in Kooperation mit Gedenkstätten werden erweitert, werden auch für die nächsten Generationen zur Verfügung stehen, bis hin zu digitalen Angeboten.
Heinemann: Herr Jahn, nun ist das Bundesarchiv ein Archiv. Wer kümmert sich denn künftig um die historische Auswertung der Stasiakten? Ich meine jetzt nicht die Archivforschung, sondern tatsächlich die historische Auswertung.
Jahn: Diese historische Auswertung findet dort statt, wo sie auch hingehört, an den Universitäten, in Forschungsverbünden, gemeinsam mit Gedenkstätten. Im Jahre 2018 haben 14 Forschungsverbünde begonnen mit ihrer Arbeit. Das sind viele Projekte, verteilt über die ganze Republik an den Universitäten, wo dann auch ein Austausch natürlich mit den Studenten stattfindet, wo aber auch gezielt in Kooperation mit Gedenkstätten, mit speziellen Instituten, die sich mit Geschichte beschäftigen, aber auch interdisziplinär hier Forschung stattfindet, sodass hier die Forschung auf einem ganz neuen Fundament steht und hier natürlich dann insgesamt auch die DDR betrachtet wird und nicht nur fixiert auf die Stasi.
Heinemann: Das heißt, im Juni mit dem Ende der Unterlagenbehörde erlischt auch die historische Kompetenz dieser Unterlagenbehörde?
Jahn: Nein, im Gegenteil. Das Stasiunterlagenarchiv wird natürlich hier mit seiner Kompetenz, die Akten lesen zu können, die Akten nutzen zu können, dazu beitragen. Im wissenschaftlichen Austausch mit Universitäten, mit Gedenkstätten findet dieses statt. Wir haben zum Beispiel gerade einen Recherchekatalog, einen Rechercheleitfaden sozusagen entwickelt für einen Forschungsverbund. Der nennt sich "Landschaften der Verfolgung". Dort wird eine Analyse und eine Datenbank erstellt über die politischen Verfolgungen in der DDR.
Heinemann: Herr Jahn, ich habe vor diesem Interview mit dem Historiker Christian Booß telefoniert vom Bürgerkomitee 15. Januar, der jahrelang in der Stasiunterlagenbehörde gearbeitet und geforscht hat. Einer der besten Stasiexperten in Deutschland. Und der sagte mir, es laufen jetzt noch ein paar Projekte aus und danach ist Schluss. Dann wird irgendwann auch das Geld, das die frühere Ministerin Wanka bewilligt hat, aufgebraucht sein. Noch mal bitte die Frage. Warum ist die historische Aufarbeitung nicht langfristig sichergestellt?
Jahn: Die historische Aufarbeitung ist sichergestellt für die nächsten Jahre in den Forschungsverbünden. Und darum geht es ja, dass diese Forschungsverbünde verstetigt werden. Aber das ist keine Frage des Stasiunterlagenarchivs oder des Bundesbeauftragten. Sondern das ist eine Frage des Gesetzgebers, der hier die Voraussetzung schafft. Das ist eine Diskussion in der Wissenschaftslandschaft. Das ist etwas sozusagen, was dann auch im Bundestag natürlich dann behandelt werden muss. Jedenfalls sind die Forschungsverbünde auf dem Weg und haben alle Voraussetzungen einer Verstetigung. Es muss dann nur getan werden.
"Die Opfer haben diesen Prozess mitgestaltet"
Heinemann: Christian Booß ist mit der Kritik nicht allein. Auch der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat gesagt, mit der Abschaffung der Unterlagenbehörde werde den Gegnerinnen und Gegnern einer kompromisslosen Aufarbeitung eine Freude gemacht. Können die Täterinnen und Täter der Stasi und ihre Helfershelfer den Sekt schon einmal kaltstellen?
Jahn: Also, ich weiß nicht, wie er zu solchen Äußerungen kommt. Aber ich kann nur sagen, gerade das, was wir gemacht haben, gerade das Konzept, was der Deutsche Bundestag bestätigt hat, was wir vorgelegt haben, gerade dieses Konzept sichert die Zukunft der Stasiunterlagen, die Zukunft der Nutzung der Stasiunterlagen und sichert auch, dass Bildung und Forschung weitergehen. Und ich denke, das muss man dann sehr konkret betrachten. Und wie gesagt, die Forschungsverbünde sind auf dem Weg. Es wird eine Auswertung dann stattfinden. Und das, was wir leisten, jeden Tag hier leisten, auch im Stasiunterlagenarchiv, nämlich die Angebote dieses Archiv zu nutzen, das entwickelt sich stetig weiter. Wir haben ja gerade in den letzten Jahren auch diesen Lernort Archiv weiterentwickelt. Wir haben mit der Kultusministerkonferenz zusammen hier Voraussetzungen geschaffen, dass diese Archive genutzt werden können, gerade auch von den nächsten Generationen. Und hier sind wir ja dabei, das viel weiter aufzustellen. Die Nutzung der konkreten historischen Orte in Verbindung mit dem Archiv, aber auch die digitalen Angebote. Wer sich unsere Homepage anschaut, unsere Stasi-Mediathek, unseren Social-Media-Dienst, das sind alles Dinge, die auch ihre Wirkung haben, wo auch multipliziert wird. Ja, letzte Woche hat in Halle ein Schriftsteller, Mitte 30, ein Buch vorgestellt, wo er sich bedient hat. Gerade diese Möglichkeiten in der Stasi-Mediathek, wo er daraus Stoff gezehrt hat und hat dann wieder ein Werk geschaffen, was das Thema weiter multipliziert. Also, hier sind wir sehr gut auf dem Weg und zukunftsgerecht aufgestellt.
Heinemann: Trotzdem, wie wirkt das auf die Opfer der Stasi, die vielen Opfer, wenn man jetzt sagt, wir schließen den Laden?
Jahn: Die Opfer haben diesen Prozess mitgestaltet. Das sind ja Diskussionen, die schon über Jahre im Gang sind. Und verschiedene Meinungen sind da eingeflossen. Am Ende hat der Deutsche Bundestag mit über Dreiviertel Mehrheit hier ein klares Konzept bestätigt und beschlossen, hat ein Gesetz vorgelegt, was genau dem gerecht wird, dass die Opfer eine Würdigung erfahren, dass die Opfer auch die Möglichkeit haben, mit einem Bundesbeauftragten für die Opfer zusammen die Themen anzusprechen, um die es geht, damit ihnen geholfen wird. Und gerade das ist etwas, was, denke ich, ganz, ganz wichtig ist. Wir haben hier die Kraft verdoppelt, verstärkt, indem es ein Stasiunterlagenarchiv dann verankert im nationalen Gedächtnis, dem Bundesarchiv, gibt und einem Bundesbeauftragten für die Opfer, der sich dann ganz gezielt nicht nur mit Stasiopfern, sondern insgesamt mit Opfern der SED-Diktatur beschäftigen kann.
Heinemann: Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Roland Jahn. Noch bis Ende Juni Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Herr Jahn, die Stasi hat 15.000 Säcke mit zerrissenem Papier hinterlassen. Wie viele konnten bisher zusammengesetzt werden?
Jahn: Bisher sind ca. 500 Säcke zusammengesetzt worden. Und mit vielen Erkenntnissen über das Wirken der Staatssicherheit, mit vielen Erkenntnissen auch über die Diktatur insgesamt. Und das zeigt sich, dass es wichtig ist, dass diese Säcke zusammengesetzt werden. Oft sind es auch einzelne Vorgänge der Staatssicherheit zu einzelnen Personen, die auch helfen, dass Menschen rehabilitiert werden. Also, unsere Aufgabe ist es, hier das weiter voranzutreiben, damit auch die Lücken im Archiv geschlossen werden.
Heinemann: In 30 Jahren 500 Säcke von 15.000. Warum so wenige?
Jahn: Ja, weil das seine Zeit braucht. Das ist eine mühevolle Aufgabe. Es sind hier die Säcke zum großen Teil manuell zusammengesetzt worden. Und es gab auch den Versuch, hier ein Verfahren, ein technisches Verfahren zu entwickeln, um virtuell diese Schnipsel zusammenzusetzen. Aber dieses Verfahren hat natürlich seine Abhängigkeit von der technischen Entwicklung. Und da ist es bisher nur gelungen, 23 Säcke zusammenzusetzen. Und dann wurde das Verfahren unterbrochen, weil der Auftrag, 400 Säcke zusammenzusetzen nicht erfüllt worden ist. Und deswegen ist dieses Projekt jetzt in einer Phase, wo wir hoffen, dass die technologische Entwicklung weitergeht und dann wir mit neuer Kraft dieses Projekt vorantreiben können.
"Wir werden nicht aufgeben"
Heinemann: Auch da sagt das Bürgerkomitee 15. Januar, es gibt längst einen Hochleistungs-Scanner des Fraunhofer Instituts. Das Geld wurde auch bewilligt vom Bundestag. Ich habe gelesen zwei Millionen Euro. Noch mal die Frage: Wieso dauert das so lange? Das erinnert ja an das Impftempo in Deutschland.
Jahn: Ja, mit solcher Polemik, denke ich, trifft das die Situation nicht. Es ist hier sozusagen eine Software entwickelt worden vom Fraunhofer Institut. Aber die Scan-Technik ist halt nicht vorhanden. Das stimmt halt nicht, was da das Bürgerkomitee sagt oder die einzelne Person. Aber in dem Sinne kann ich nur sagen, wir warten auf die technologische Entwicklung und hoffen, dass das Projekt dann weitergeht.
Heinemann: Können die Täterinnen und Täter den Sekt doch kaltstellen?
Jahn: Auf keinen Fall. Wir werden nicht aufgeben. Und wir wollen nicht zulassen, dass die Stasi bestimmt, was wir lesen dürfen und was nicht, was die Menschen lesen dürfen und was nicht. Und deswegen wird dieses Projekt auch weiter vorangetrieben.
Heinemann: Herr Jahn, die Unterlagenbehörde dient ja auch als Vorbild. Welches Signal wird nach Ost- oder Mitteleuropa gesendet, wenn die Stasiunterlagenbehörde jetzt als eigenständige Einheit in Deutschland abgewickelt wird?
Jahn: Es wird das Signal gesendet, dass wir uns zukunftsgerecht aufstellen. Es wird das Signal gesendet, dass die Unterlagen der Gesellschaft dauerhaft zur Verfügung stehen. Es wird das Signal gesendet, dass der Gesamtbestand der Stasiunterlagen zum Archivgut des Bundes erklärt wird. Das heißt, ein Gesamtbestand der Unterlagen einer Geheimpolizei steht der Gesellschaft in den nächsten Generationen zur Verfügung. Und es wird das Signal gesetzt, dass wir den Opfern gerecht werden, indem ein Bundesbeauftragter für die Opfer geschaffen wird. Und das ist etwas, was, denke ich, auch ein Zeichen setzt auch international, dass wir den Horizont über die Stasi erweitern, dass wir SED-Diktatur insgesamt betrachten, dass wie die Gesellschaft und die Mechanismen in einer Diktatur insgesamt betrachten. Das ist ein wichtiges Signal, denn die Fixierung auf Geheimpolizei ist historisch dann nicht korrekt.
"Diktatur ist überwindbar"
Heinemann: Wie wichtig sind die zwölf Außenstellen?
Jahn: Ich denke, dass gerade die Aufarbeitung in der Region enorm wichtig ist, denn das ist nah dran an den Menschen, an ihren Geschichten, die sie erlebt haben. Auch an den Geschichten, die, ja, für die nächsten Generationen von Bedeutung sind. Ja, es hat sich dort ganz konkret an ihren Orten abgespielt. Und die regionalen Themen haben immer eine besondere Stärke. Empathie wird mehr ermöglicht. Und in dieser Hinsicht, dieses Gut, dass die Akten auch in den ostdeutschen Ländern bleiben, auch weil diese Akten ja ein Symbol sind und die Eroberung der Akten ein Symbol sind für die friedliche Revolution. Das gilt es ja auch zu erzählen. Und wir haben gerade an den Orten erlebt, das sind ja Geschichten, nicht nur der Repression, sondern auch der Revolution. Und das gilt es sozusagen auch den nächsten Generationen zu zeigen. Diktatur ist überwindbar. Und Verhältnisse können sich ändern, wenn Menschen es tun.
Heinemann: Außenstellen gibt es zum Beispiel in Erfurt, in Suhl, in Gera. Das sind Orte, in denen zum Beispiel die AfD hohen Zuspruch erfährt. Muss dort die politische Bildung, auch die Stasiunterlagenbehörde, nicht dauerhaft verankert werden?
Jahn: Die politische Bildung ist da dauerhaft verankert. Und gerade, was wir dort jetzt an Planung haben für die Zukunft gemeinsam mit den Landesbeauftragten, gemeinsam auch mit der Landesregierung, das ist etwas, was Strukturen schafft, die genau das sichern. Und wir haben hier eine sehr gute Zusammenarbeit mit der Stiftung Ettersberg in Erfurt, die die Gedenkstätte Andreasstraße betreibt, wir sozusagen direkt am Ort auch gemeinsam mit dieser Gedenkstätte zusammen uns als Stasiunterlagenarchiv einbringen, die Akten zur Verfügung stellen, auch deutlich machen: Wie können die Akten besser genutzt werden? Das funktioniert hervorragend. Und wir haben gerade im letzten Monat uns noch mal angeschaut die Orte in Suhl und Gera, die weiterentwickelt werden zu kleinen Zentren der politischen Bildung. Die Bundeszentrale für politische Bildung wird nach Gera ziehen auch mit einem Standort, wo wir gemeinsam mit der Gedenkstätte Amthordurchgang, dem ehemaligen Stasi-Knast in Gera, und der Außenstelle dann des Stasiunterlagenarchivs einen kleinen Campus schaffen, wo politische Bildung dann auch für die nächsten Generationen zur Verfügung steht. Und genauso ist es in Suhl. Auch dort wird die ehemalige Stasibezirksverwaltung genutzt werden, gemeinsam mit den Landesbeauftragten Angebote zur politischen Bildung zur Verfügung zu stellen. Und wird auf das aufbauen, was wir jetzt schon leisten in den Außenstellen, nämlich Angebote, die eine regionale Komponente haben, wo die Menschen Gelegenheit haben, sich ins Verhältnis zu setzen mit ihren Geschichten und auch im Dialog mit der nächsten Generation stehen können.
Heinemann: Herr Jahn, rund 3,4 Millionen Anträge auf Akteneinsicht gab es seit 1962. Auch Sie persönlich waren Opfer der Stasi. Wie erging es Ihnen bei Ihrer Akteneinsicht?
Jahn: Ja, das ist schon ein bedeutsamer Moment, wenn man erstmals in die Akte schaut und sieht, es war nicht nur eine Ahnung, es war nicht nur das, was man konkret erlebt hat, sondern es war viel, viel mehr, was die Stasi sich dann gedacht hat und wie sie zusätzlich gegen einen vorgehen wollte. Die ganzen Maßnahmenpläne, da kann man dann wohl sagen, es ist gut, dass es vorbei ist. Wer weiß, was da noch alles gekommen wäre. Und es ist schon etwas, auch eine Erkenntnis, was ich gar nicht so für möglich gehalten habe. Gerade auch das Wirken der Stasi im Westen. Als ich denn in Berlin-Kreuzberg lebte, war ich immer noch im Blick der Stasi. Und selbst eine Skizze meiner Wohnung in Berlin-Kreuzberg war in der Akte. Aber auch der Schulweg meiner achtjährigen Tochter wurde beobachtet. Und das ist natürlich etwas, was dann einen schon mit Schauer über den Rücken sitzen lässt.
"Die Stasiakten sind nur eine Quelle"
Heinemann: Was haben Sie durch die Akten über die Methoden und das Funktionieren der Stasi gelernt, was Sie noch nicht gewusst hätten?
Jahn: Der Druck, der auf die Menschen ausgeübt worden ist, gerade auch in meinem eigenen Fall, wo ich gesehen habe, dass mein Rauswurf aus der Universität zwar durch meine Kommilitonen, durch meine Mitstudenten bestätigt worden ist, sie haben für diesen Rauswurf gestimmt. Aber als ich dann in den Akten gesehen habe, unter welchem Zwang sie waren, wie sie unter Druck gesetzt worden sind, da habe ich doch eine andere Bewertung vorgenommen. Erst habe ich sie als Verräter bezeichnet und dann habe ich nur gesagt, dass es doch eine Zwangssituation war, in der es nicht einfach war, sich zu entscheiden und beurteile das heute viel differenzierter.
Heinemann: Also, schwarz-weiß alleine reicht nicht?
Jahn: Auf alle Fälle nicht. Es ist wichtig, die Stasiakten zu nutzen, um ein differenziertes Bild herzustellen. Die Stasiakten sind nur eine Quelle. Wichtig ist, dass wir uns auch auseinandersetzen mit den Zeitzeugen, auch mit denen, die Verantwortung getragen haben für das geschehene Unrecht. Und hier ist es sozusagen wichtig, die Vielfalt der Blickwinkel einzubeziehen, auch um die DDR insgesamt zu betrachten und nicht nur schwarz-weiß unter der Brille der Stasiakten.
Heinemann: Gehen Sie eigentlich davon aus, dass ehemalige Stasiseilschaften noch aktiv sind?
Jahn: Ja, Seilschaften werden ja nicht so einfach beendet im Leben, sondern da gibt es ja auch Netzwerke, soziale Netzwerke, die ewig bestehen. Aber das Entscheidende ist, dass die Stasi nicht weiter wirkt, dass nicht die Interessen der Stasi durch Gruppen durchgesetzt werden. Und dafür sind die Regeln unseres demokratischen Staates da, die sicherstellen, dass die Gesetze eingehalten werden, und dass die Stasi nicht weiter wirkt.
Heinemann: Herr Jahn, künftig soll sich eine Beauftragte oder ein Beauftragter um die Opfer der SED-Diktatur kümmern. Sie haben das schon angesprochen. Welche ist die wichtigste Aufgabe für dieses Amt?
Jahn: Ich denke, was der Name schon sagt, ein Beauftragter oder Beauftragte für die Opfer der SED-Diktatur. Das ist etwas, was, denke ich, ein wichtiger Teil von Aufarbeitung ist, für diese Menschen da zu sein. Und da geht es auch nicht nur um diejenigen, die es ganz konkret erlebt haben, sondern da geht es auch um die nächsten Generationen. Ja? Jemand, der mit drei Jahren erlebt hat, wie seine Eltern verhaftet worden sind, auch auf den hat das Auswirkungen. Es geht auch um konkrete Dinge noch, die aufgeklärt werden müssen, wo die Opfer Hilfe brauchen, gerade bei Themen, die immer auch Reizthema waren. Zwangsadoption, Zwangsarbeit. Das sind ja alles Themen, wo noch viel Aufklärung betrieben werden muss und wo es wichtig ist, dass die Opfer Unterstützung haben, wenn es darum geht, auch gesetzgeberisch noch Rahmenbedingungen zu schaffen, dass hier Aufklärung und auch Rehabilitierung möglich wird.
"Zeugnisse des Freiheitswillens"
Heinemann: Sollte oder müsste die oder der Beauftragte über eine Erfahrung in der DDR verfügen?
Jahn: Es geht immer darum, dass die Person in der Lage ist, das Thema zu bearbeiten. Und da ist die Frage, ob jemand DDR-Erfahrung haben muss oder nicht, zweitrangig. Auf alle Fälle ist es wichtig, dass die Person Empathie hat für die Menschen, dass sie zuhören kann, und dass sie in der Lage ist, mit politischem Durchsetzungsvermögen hier auch das zu schaffen, worum es geht, nämlich den Menschen konkrete Hilfestellung zu leisten durch die politische Rahmensetzung.
Heinemann: Die Chefin und die beiden Chefs der Unterlagenbehörden hatten jeweils eine Ostbiografie.
Jahn: Ja, wissen Sie, ich habe zum Beispiel eine Biografie, die von Ost und West gezeichnet ist. Und in dem Sinne denke ich nicht mehr so sehr in den Kategorien Ost, West, sondern wichtig ist, dass es Menschen gibt, die mit dem Thema umgehen können. Und ich kenne genug Leute, die im Westen Deutschlands geboren sind, dort aufgewachsen sind, die sehr intensiv sich mit den Themen beschäftigt haben und wo die Frage gar nicht mal so eine große Rolle spielt, sondern wo es wirklich darum geht, sind sie in der Sache kompetent und haben sie das Durchsetzungsvermögen, den Menschen, die sozusagen im geteilten Deutschland Unrecht erfahren haben, diesen auch zu helfen.
Heinemann: Gleichwohl, die Zeit verblasst ja langsam. Was sollten mit Blick auf die Zukunft Schülerinnen und Schüler über die SED-Herrschaft und die Stasi wissen und lernen?
Jahn: Ja, also, ich bin niemand, der jemanden was aufdrücken will. Sondern mir geht es darum, dass die Chance besteht, mit dem Blick in die Vergangenheit die Sinne zu schärfen für die Gegenwart. Und da bietet das Stasiunterlagenarchiv einiges. Da geht es ja um grundsätzliche Fragen von Freiheit und Menschenrechten. Denn dieses Stasiunterlagenarchiv beinhaltet ja Dokumente des geschehenen Unrechts, aber auch Zeugnisse des Freiheitswillens. Und das wahrzunehmen, das zu sehen, gerade auch für die nächste Generation, ist, denke ich, ganz, ganz wichtig, weil man dann auch Mechanismen begreifen kann, wie Diktatur entstehen kann, wie Menschen sich anpassen, sich unterordnen, bereit sind zum Verrat. Ja? Welche Rahmenbedingungen brauchen wir in einer Demokratie, in einer Gesellschaft, die angstfrei ist, die es möglich macht, dass Menschen ihre Grundrechte wie Meinungsfreiheit, wie Pressefreiheit, Informations- und Versammlungsfreiheit auch wahrnehmen können. Ja? Wie auch die Gefahr ist, dass demokratische Rechte ausgehöhlt werden. Und das ist etwas, wo man mit diesen Akten, mit den Erkenntnissen aus diesen Akten doch einiges nutzen kann für die Gegenwart. Aber, wie gesagt, es ist eine Chance. Keiner darf dazu gezwungen werden, sondern die Menschen müssen erkennen, was für Möglichkeiten in den Akten stehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.