Archiv

Bundeskanzler Olaf Scholz
„Das Thema Kernkraft ist in Deutschland ein totes Pferd“

Olaf Scholz (SPD) hat die aufflammende Atomkraft-Debatte für erledigt erklärt. „Die Kernkraft ist zu Ende", sagte der Bundeskanzler. "Sie wird in Deutschland nicht mehr eingesetzt.“ FDP und AfD hatten eine weitere Nutzung der Atomenergie gefordert.

Bundeskanzler Olaf Scholz im Gespräch mit Stephan Detjen |
Olaf Scholz trägt einen schwarzen Anzug und steht zwischen zwei grauen Säulen, die in der Unschärfe zu erkennen sind
"Wir müssen dafür sorgen, dass Deutschland eine strukturell preiswerte Energieproduktion hat", betont Bundeskanzler Olaf Scholz. Dafür möchte die Regierung auf den Ausbau Erneuerbarer Energien setzten. (Imago / Bernd Elmenthaler)
Ein Machtwort in der Atomkraftdebatte – nicht einmal das sei notwendig, betonte Bundeskanzler Olaf Scholz. Schließlich sei der Ausstieg aus der Atomkraft längst gesetzlich erfolgt. „Das Thema Kernkraft ist in Deutschland ein totes Pferd. Wer Kernkraftwerke bauen wollte, bräuchte dafür 15 Jahre und müsste dafür 15 bis 20 Milliarden pro Stück ausgeben.“
Doch mehr und günstigerer Strom muss her: Das zumindest fordern Ökonomen wie die Wirtschaftsweise Veronika Grimm oder der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Michael Hüther. "Das Auseinanderfallen von heute notwendigen unternehmerischen Investitionen und der erst künftigen Bereitstellung günstigen Stroms gefährdet die industrielle Basis unserer Volkswirtschaft", sagte Hüther laut einem Vorabbericht in der Zeitung "Welt am Sonntag".

Erneuerbare Energie sollen Stromhunger stillen

Die FDP möchte deswegen den Rückbau der Atomkraftwerke stoppen. Die AfD spricht sich sogar für den Bau neuer Meiler aus. Scholz setzt dagegen auf einen schnellen Ausbau von Erneuerbaren Energien – und macht diesbezüglich die Union für Versäumnisse in der Vergangenheit verantwortlich. Wegen der Union sei es Deutschland nicht gelungen „das notwendige Tempo, wo man einsteigen muss, zu entwickeln“. Nun soll es aber vorangehen: „Wir wollen mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien am Ende des Jahrzehnts 80 Prozent unseres Bedarfs decken und kurz danach sogar alles, was erforderlich ist“, so das Versprechen Scholz‘.

Kontroverse über Industriestrompreis

Zu den Forderungen von Wirtschaftsverbänden und Teilen der Ampelkoalition nach einem Industriestrompreis äußerte sich der Kanzler eher verhalten. Natürlich sei „der Vorschlag, wem man Geld geben soll, einfacher gemacht als der Vorschlag, wo es herkommen soll", sagte Scholz. Es müsse jedoch zu jeder Diskussion dazugehören, dass man sage, wo man die Milliarden wegnehme, wenn man sie irgendwo hintue.
Denn das Vorhaben könnte teuer werden: Schließlich soll der von den Grünen und der SPD-Fraktion geforderte Industriestrompreis den Strom für energiehungrige Betriebe mit Staatsgeld vergünstigen, bis genügend Strom aus erneuerbaren Quellen erzeugt wird.

Scholz warnt vor weiterer Verschuldung

Nach den Milliarden-Ausgaben wegen Corona und des russischen Angriffskriegs verweist Scholz nun auf die Schuldenbremse. „Dass wir in einen Modus reinkommen, wo hundert Milliarden Schulden pro Jahr so ein ganz normales Ding sind, das wäre kein guter Einfall“, sagte Scholz. Es müsse ein Verständnis dafür geben, dass eine solche Verschuldung nicht zum Regelfall werden könne. „Jetzt aber müssen wir sehen, dass wir mit dem immerhin ja noch vielen Geld, das wir haben, ganz gut zurechtkommen“, forderte der Bundeskanzler.
dpa, Reuters, lkn

Das Interview im Wortlaut

Stephan Detjen: Von Ihrer Kabinettsklausur in Meseberg in der zurückliegenden Woche ist in jedem Falle eines geblieben, nämlich das Sprachbild von einer Regierung, die hämmert und schraubt und dem Kanzler, der unschöne Störgeräusche dabei mit einem Schalldämpfer verringern will. Aber das hat ja nicht mal einen Tag lang wirklich funktioniert.
Die FDP macht jetzt sogar die Kernkraftdebatte wieder auf, die Sie vor nicht mal einem Jahr mit einem Machtwort unter Berufung auf die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers beenden wollten. Ist das jetzt nicht auch eine ganz persönliche Provokation Ihres Koalitionspartners?
Olaf Scholz: Nein. Eigentlich ist es in den letzten Jahren, übrigens den letzten Legislaturperioden, immer so gewesen, dass die Parteien zum Ende des Sommers, vor Beginn der erneuten parlamentarischen Beratung, der Sitzungswochen als Fraktionen zusammenkommen und Beschlüsse fassen, auch die Regierungsparteien. Und ehrlicherweise, wenn das alles in dem Rahmen geblieben wäre in den letzten Wochen und Monaten wie das sich jetzt zugetragen hat bei den Beratungen der Fraktionen, dann hätten wir weniger Störgeräusche gehabt.

„Die Kernkraft ist zu Ende“

Detjen: Aber Kernkraft! Das ist ja sozusagen das maximale Reizthema in dieser Koalition.
Scholz: Ich glaube gar nicht, denn die Kernkraft ist zu Ende. Sie wird in Deutschland nicht mehr eingesetzt. Der Ausstieg ist gesetzlich erfolgt. Das Thema Kernkraft ist in Deutschland ein totes Pferd. Wer neue Kernkraftwerke bauen wollte, bräuchte dafür 15 Jahre und müsste dafür 15 bis 20 Milliarden pro Stück ausgeben.
Detjen: Aber der Fraktionschef Ihres Koalitionspartners FDP, Christian Dürr, sagt jetzt: Wir wollen uns alle Optionen offenhalten. Wir brauchen grundlastfähige Kernkraftwerke. Also, das beenden Sie jetzt hier per Machtwort im Deutschlandfunk?
Scholz: Ich brauche gar kein Machtwort sprechen, denn die Fakten sind ja so, dass mit dem Ende der Nutzung der Atomkraft auch der Abbau begonnen hat, und dass alles, was man über Kernkraft in Deutschland sagen kann, sich immer um die Neuerrichtung oder quasi Neuerrichtung von Kraftwerken handelte. Und das hat diese Zeitperspektiven.
Wir wollen mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien mit einer auf Windkraft, auf Solarenergie, auf Wasserkraft, auf Biomasse gestützten Energieversorgung, Stromversorgung am Ende des Jahrzehnts 80 Prozent unseres Bedarfs decken und kurz danach sogar alles, was erforderlich ist. Und das ist der Weg, den wir jetzt gehen.

Debatte um Strompreissenkung

Detjen: Aber das Thema Energie, Energieversorgung ist ja auch nach der Kabinettsklausur von Meseberg deswegen noch offen, weil Sie dort nicht entschieden haben oder nicht entscheiden konnten wie es mit der Debatte um Strompreissenkung für die Industrie, für die Wirtschaft mit einem Industriestrompreis weitergeht. Sie haben in Meseberg erklärt, was die Regierung alles gemacht hat, und dann hinzugefügt, es sei den Schweiß der Edlen wert, wenn sich jetzt andere auch darüber Gedanken machen. Aber diejenigen, die den Industriestrompreis wollen, viele, viele Wirtschaftsverbände, auch Ihre eigene Bundestagsfraktion, die SPD, die erwarten ja von Ihnen, dass Sie erklären, was Sie davon halten, ob das kommen kann, oder ob es nicht kommen kann.
Bundeskanzler Olaf Scholz beim Interview der Woche im Deutschlandfunk
Natürlich sei "der Vorschlag, wem man Geld geben soll, einfacher gemacht als der Vorschlag, wo es herkommen soll", sagt Bundeskanzler Olaf Scholz mit Blick auf die Debatte über einen Industriestrompreis. (Deutschlandradio / Christian Kruppa)
Scholz: Das ist doch ganz klar, was wir machen müssen. Sie haben darauf schon angespielt. Ich habe das auch in Meseberg gesagt. Wir müssen dafür sorgen, dass Deutschland eine strukturell preiswerte Energieproduktion hat. Das machen wir mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien, auch in einem Tempo wie das bisher nicht der Fall war. Das machen wir übrigens auch mit dem Aufbau eines Wasserstoffnetzes, wo in diesem und Anfang nächsten Jahres die notwendigen Entscheidungen getroffen werden, mit der Produktion von Wasserstoff, dem Import von Wasserstoff.
Und ansonsten gibt es jetzt in der Tat viele Überlegungen, auch bei den Oppositionsparteien und bei den Regierungsparteien, ob man einzelnen Unternehmen mit vielen staatlichen Milliarden helfen soll, dass sie geringere Strompreise haben. Finanziert entweder von den übrigen Strompreiszahlern, finanziert von den Steuerzahlern oder mit Schulden. Und ich glaube, das ist ja doch ganz offensichtlich, dass auch im Parlament dort noch sehr unterschiedliche Ansichten existieren. Übrigens auch deshalb, weil natürlich der Vorschlag, wem man Geld geben soll, einfacher gemacht ist als der Vorschlag, wo es herkommen soll.
Detjen: Aber das war jetzt eine Schilderung der Diskussionslage, in der die Frontlinien ja auch auch quer durch Ihr Kabinett und die Fraktionen gehen. Der Finanzminister will den Industriestrompreis nicht. Der Bundeswirtschaftsminister will ihn. Ihre eigene Fraktion will ihn auch. Was will der Bundeskanzler?
Scholz: Ich habe bewusst gesagt, es ist den Schweiß der Edlen wert, dass sich alle damit befassen. Der Bundeshaushalt ist von der Bundesregierung auch auf den Weg gebracht worden für 2024 mit einer Finanzplanung für die folgenden Jahre. Und deshalb muss natürlich zu jeder Diskussion gehören, wenn man irgendwo Milliarden hintut, wo man sie wegnimmt.

Ausbau der Erneuerbaren Energien sollen für niedrige Strompreise sorgen

Detjen: Also, Frage Industriestrompreis, da wird noch weiter dran rumgehämmert und rumgeschraubt?
Scholz: Ich finde, wir haben erst mal sehr viel auf den Weg gebracht, damit das nicht nur leere Worte bleiben, dass wir uns auf strukturell geringere Energiepreise einstellen können, und dass wir es auch schaffen mit der Energiewende. Denn was liegengeblieben war die letzten Jahre, das haben wir nicht liegengelassen.
Es ist doch ein großer Fehler gewesen, dass Deutschland zweimal aus der Nutzung der Atomenergie ausgestiegen ist: einmal in einer rot-grünen Regierung mit Schröder und Fischer, einmal in einer schwarz-gelben Regierung mit Kanzlerin Merkel. Und dass wir gleichzeitig auch schon in der letzten Legislaturperiode, also mit Schwarz-Rot beschlossen haben, aus der Kohleverstromung auszusteigen, aber wegen der Union – das kann man, glaube ich, so präzise und klar sagen – es Deutschland nicht gelungen ist …
Detjen: die SPD war ja die ganze Zeit dabei!
… das notwendige Tempo, wo man einsteigen muss, zu entwickeln. Und genau diese Kräfte haben wir jetzt entfesselt. Wir haben es jetzt gehabt, dass wir im Juni so viele Windkraftanlagen genehmigt bekommen haben, dass mein öffentlich erklärtes Ziel, wir müssen vier bis fünf bauen, möglich wird, anhand der Genehmigungen.
Auch bei den Solarkollektoren, den Fußballfeldern, von denen ich gesagt habe, da brauchen wir vielleicht 30 pro Tag, sind wir in diesem Jahr über diese Größenordnung gekommen. Das heißt, man sieht, wenn man sich ernsthaft um die wirklich wichtigen strukturellen Fragen für eine günstige Energieversorgung kümmert, dann gelingt das auch. Und das ist für den Wohlstand in Deutschland, Industriestandort nicht nur langfristig, sondern auch mittel- und kurzfristig wichtig.

In Deutschland „wird ziemlich viel investiert“

Detjen: Aber dann bleibt eben auch die Frage nach dem Industriestrompreis vorerst mal offen. Schauen wir mal, mit welchen Nebendiskussionen die Arbeiten in der Koalition dann da noch verbunden sind, mit welchen Nebengeräuschen.
Sie haben es angesprochen, Wirtschaftsförderung, das Wachstumschancengesetz, das die Koalition jetzt in Meseberg verabschieden konnte, soll die Wirtschaft um rund sieben Milliarden Euro entlasten, gut sieben Milliarden Euro. Das ist aber weniger als die Zuschüsse, die die Bundesregierung zahlen will an ein amerikanisches Unternehmen und ein taiwanesisches Unternehmen für den Bau von zwei Chipfabriken in Dresden und im Saarland. Musste da nicht zwangsläufig der Eindruck entstehen, dass diese Balance nicht ganz stimmt, also, entweder auf der einen Seite zu viel für ein Prestigeprojekt ausgegeben wird und auf der anderen Seite zu wenig für die heimische Wirtschaft und den Mittelstand?
Scholz: Ich bin mit Ihnen völlig uneinverstanden. Zunächst mal: Deutschland ist falsch abgebogen, Europa übrigens auch, in den 70er- und 80er-Jahren. Weil wir ja sehr leistungsfähige Unternehmen immer noch haben, die Chips produziert haben, haben wir es nicht geschafft dafür zu sorgen, dass die große Produktion auch bei uns ist. Das ist anderswo passiert, in vielen anderen Ländern.
Wenn jetzt viele internationale Unternehmen, aber auch deutsche Unternehmen, wie Infineon und Bosch und das in Deutschland und den Niederlanden tätige Unternehmen NXP sich entscheiden, in großem Maßstab Halbleiterchips in Deutschland herzustellen, dann bedeutet das wirtschaftliche Unabhängigkeit für eine ganz wichtige Ressource der Zukunft. Dann bedeutet das, dass Deutschland zum Zentrum der Halbleiterproduktion wird. Und dann ist das erst mal etwas, was alle Lügen straft, die gegenwärtig sagen, man wolle nicht in Deutschland investieren. Da wird ziemlich viel, und zwar auch sehr Modernes, Zukunftsträchtiges investiert.
Gleichzeitig haben wir gesagt, wir machen jetzt - und das sind übrigens einmalige fest bezifferte Summen, wenn wir jetzt ganz konkrete Maßnahmen ergriffen haben, um Jahr für Jahr in der nächsten Zeit die Wirtschaft zu entlasten. Und dazu gehören ganz konkrete Maßnahmen, die nicht einfach darauf gerichtet sind, jemanden weniger Steuern zahlen zu lassen, sondern die Investitionstätigkeit anregen sollen. Das haben wir genau kalibriert. Wir haben also gesagt, wir wollen, dass ein bisschen mehr Geld für Investitionen bleibt durch Verlustvortragsmöglichkeiten. Wir haben gesagt, für bewegliche Wirtschaftsgüter schaffen wir zeitlich befristet eine degressive AfA. Das heißt, wer jetzt investiert, hat die Chance, zunächst mal viel mehr von den Kosten dieser Investition steuerlich geltend zu machen, sodass es sich auch lohnt, jetzt mutig zu sein und nicht zu warten, wie die Dinge sich wohl weiterentwickeln werden.
Das Gleiche haben wir gemacht beim Wohnungsbau. Da haben wir mit dieser Abschreibungsmöglichkeit für Wohnimmobilien auch alle ermuntert, dass sie mutig sind und jetzt das bauen, was sie schon fertig geplant haben oder ihre Planung zu Ende treiben und losbauen. Das ist, finde ich, genau der Impuls, den die Wirtschaft genau zu diesem Zeitpunkt braucht.

Weitere Milliardenschulden, „das wäre kein guter Einfall“

Detjen: Und trotzdem sagen die Wirtschaftsverbände und viele Experten, auch Berater der Bundesregierung und Beraterinnen, dass das allenfalls ein Anfang sein kann, dass da noch viel mehr kommen müsse, dass auch die Summe, um die es geht, nicht viel bringt.
Scholz: Na ja. Darf ich Ihnen kurz was dazu sagen.
Detjen: Gerne.
Scholz: Eine internationale Zeitschrift hat gesagt, Deutschland müsste viele Schulden machen. Und ehrlicherweise, die, die das in Deutschland diskutieren, sagen diesen Satz nicht mit.
Detjen: Das kommt ja auch aus Ihrer Partei, die Forderung …
Scholz: Im Wesentlichen sagt das keiner. Und ich finde, da muss man auch Klartext sprechen. Wenn die Wirtschaft nicht will, dass wir die Schuldenbremse aufheben, dann muss sie auch sagen, dass es gut ist, dass wir in großem Umfang die Wirtschaft unterstützen, aber nicht, indem wir, so wie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie oder unmittelbar nach dem russischen Angriffskrieg zur Rettung unserer Wirtschaft, damit wir durch den letzten Winter kommen, teilweise ja 100, 200 Milliarden Schulden pro Jahr gemacht haben.
Wir werden mehrere Hundert Milliarden Euro Schulden mittragen aus der Bekämpfung der Corona-Pandemie und der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen und dem, was wir jetzt gemacht haben, um die ökonomischen Auswirkungen des russischen Angriffs auf die Ukraine auf unsere Energieversorgung auszubalancieren und dafür zu sorgen, dass das nicht unsere Ökonomie zerstört. Das haben wir geschafft. Aber dass wir jetzt im Prinzip in so einen Modus reinkommen, wo 100 Milliarden Schulden pro Jahr irgendwie so ein ganz normales Ding sind, das, glaube ich, wäre kein guter Einfall.
Detjen: Da gibt es aber, was die Wirtschaftsförderung angeht, ja auch andere Modelle, zum Beispiel Investitionsfonds, spezielle Investitionsfonds oder Investitionsgesellschaften, wo manche sagen, na ja, das wäre dann keine klassische Schuldenaufnahme, die zulasten des Bundeshaushalts geht, sondern das wäre dann ein Transfer, das müsste man nicht auf die Schuldenbremse anrechnen. Finden Sie das ein interessantes Modell?
Scholz: Na, wir haben ja viele Fonds etabliert, mit denen wir Unterstützungsmöglichkeiten schaffen, zum Beispiel für Start-ups oder Ähnliches, und wir investieren in Bahn und Autobahn – auch das ist in großem Umfang der Fall. Aber ich will ausdrücklich sagen, es muss auch ein Verständnis darüber existieren, dass es nicht zum Regelfall werden kann, dass der Staat sich mit 100 oder 200 Milliarden Euro pro Jahr verschuldet. Und natürlich sind wir auch politisch – das merken wir an unserem Gespräch –, wir sind politisch in so einer Situation, wo alle sich gewöhnt haben an Zahlen, die natürlich bei einer halbwegs normalen Situation überhaupt nicht berechtigt sind. Und dass wir so viel tun konnten, um diese Krisen zu bekämpfen, lag doch daran, dass ich als Finanzminister zum Beispiel im Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie vermelden konnte, nicht nur, dass wir keine neuen Schulden machen, sondern dass wir auch die Schuldenstandsquote von 60 Prozent im Verhältnis zu unserer Wirtschaftsleistung erreicht hatten.
Also, wir müssen ja immer auch die Kraft haben, in einer Krise, mit allen unseren Möglichkeiten gegenzuhaltend. Und das haben wir gemacht. Jetzt aber müssen wir sehen, dass wir mit dem immerhin ja noch vielen Geld, das wir haben, ganz gut zurechtkommen.

Verweis auf „sehr viele sozialpolitische Projekte"

Detjen: Aber das gilt dann für alle Felder der Politik und auch in dem Sinne, wie es Ihr Finanzminister, Christian Lindner, bei der Vorstellung der Kindergrundsicherung gesagt hat, als er sagte: Das ist jetzt das letzte sozialpolitische große Projekt dieser Legislaturperiode, dieser Regierung. Die Kassen sind leer. Das ist dann auch die Ansage an Ihre Fraktion, die da ja durchaus noch Vorstellung hat, die einiges kosten würden?
Scholz: Na, in Wahrheit schwingt doch da mit, dass wir in der Tat sehr viele große sozialpolitische Projekte zustande gebracht haben. Wir haben zum Beispiel gleich im ersten Jahr dafür gesorgt, dass die Erwerbsminderungsrentner bessergestellt werden. Das hat kaum öffentliche Berichterstattung zustande gebracht, aber es hat das Leben von unglaublich vielen verbessert.
Wir haben nicht nur den Mindestlohn erhöht, sodass mehr Geld da ist für diejenigen, die wenig verdienen – sechs Millionen haben davon profitiert –, sondern wir haben zum Beispiel die Sozialversicherungsbeitragsbelastung für diejenigen, die zu Mindestlohnbedingungen beruflich tätig sein müssen, erheblich reduziert. Das ist auch ein wichtiger Schritt gewesen. Wir haben den Erwerbstätigen und den Rentnerinnen und Rentner mit dem Wohngeld geholfen.
Wir haben die große Bürgergeldreform zustande gebracht. Und jetzt das wirklich von vielen seit vielen Jahren geforderte Projekt, dass wir ein einfacheres, unbürokratischeres, gerechtes System der Unterstützung der vielen Familien mit Kindern haben, mit dem Kindergeld, das eine Kernleistung ist, und den Zusatzmöglichkeiten. Das ist in der Tat eine große Reform.

In der Koalition „hätte leiser gehämmert werden können“

Detjen: Und trotz der Leistungen und Errungenschaften, die Sie jetzt aufzählen, befindet sich Ihre Regierung nach Monaten des internen Haders in einem wirklich denkwürdigen Umfragetief. Nicht nur die Parteien haben an Vertrauen verloren, auch Sie persönlich – nachgemessen jetzt, im letzten ARD-DeutschlandTrend – und – schlimmer noch – das Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie hat Schaden genommen.
Geht Ihnen das eigentlich ganz persönlich auch nahe? Und ist das ein Grund für Sie, wenn Sie sagen, an den Inhalten kann es eigentlich nicht liegen, an Ihrem Regierungsstil etwas zu ändern?
Scholz: Wenn Sie sich ein bisschen umschauen, sehen Sie ähnliche Entwicklungen in vielen unserer Nachbarländer. Und das hat natürlich etwas damit zu tun, dass die Bürgerinnen und Bürger spüren, dass da viele Jahre ganz viel zusammengekommen ist und manche auch ein wenig erschöpft sind. Coronakrise haben wir schon besprochen. Der russische Angriff auf die Ukraine. Dann gibt es die Notwendigkeit, den menschengemachten Klimawandel aufzuhalten.
Alle wissen das – auch in anderen Ländern –, dass das bis zur Mitte dieses Jahrhunderts gelungen sein muss, unsere Wirtschaftstätigkeit quasi weltweit weitgehend umzustellen. Das ist eine kurze Zeit. Und dann kommt natürlich noch die Globalisierung dazu, mit all den Auswirkungen, die sie hat. Viele Länder in der Welt steigen auf, können auch wirtschaftlich was, was eine gute Nachricht ist, aber natürlich das Gefüge in der Welt ändert. Und in diesem großen Gesamtkomplex ist das einfach jetzt auch ganz viel.
Deshalb ist es wichtig, dass wir uns nicht beirren lassen, einen klaren Kurs verfolgen, der die Zukunftsfähigkeit unseres Landes als Ziel hat. Und das bedeutet, dass wir die Grundlagen für wirtschaftliches Wachstum schaffen, mit den Modernisierungsprozessen, die wir besprochen haben und von denen es noch manche mehr zu nennen gibt. Dass wir alles dafür tun, dass es gerecht zugeht, dass wer arbeitet, besser dasteht. Deshalb zum Beispiel nicht nur die Erhöhung des Mindestlohns, sondern viele andere Maßnahmen, die wir ergriffen haben. Und dass man am Ende auch Respekt voreinander hat, für die verschiedenen Lebenseinstellungen und Lebensleistungen und beruflichen Leistungen. Und wenn wir das alles ganz konsequent immer verfolgen, dann bin ich auch sicher, dass man Vertrauen gewinnen kann und auch die Unterstützung bekommen kann, die man braucht.
Aber eines will ich jetzt auch nicht verschweigen, dass das, was da gehämmert wird in der Regierung, bei den vielen wichtigen Vorhaben, die wir vorangebracht haben, auch hätte leiser gehämmert werden können oder zumindest mit Schalldämpfer, wie ich das ausgedrückt habe. Das ist richtig. Und ich bin sicher, dass es gut ist, wenn alle sich das auch zu Herzen nehmen.

„Die G20 werden auch weiter wichtig sein“

Detjen: Dann würde ich gerne die verbleibende Zeit in diesem Deutschlandfunk Interview der Woche nutzen, um nochmal – Sie haben das eben schon angedeutet – in die Welt um uns zu schauen.
Sie fahren nächste Woche zum G20-Gipfel nach Indien. Und nach den letzten Meldungen, die wir bekommen, wird daran nicht nur der russische Präsident Putin nicht teilnehmen, sondern auch der chinesische Staatspräsident Xi. Aus Peking heißt es: Die beiden wollen sich separat in Kürze – bald, so heißt es – zu zweit treffen. Was bedeutet das für eine Gruppe wie die G20? Verlieren die G20 an Bedeutung, während eine andere von China und Russland dominierte Gruppe, die BRICS-Gruppe, mit neuen Mitgliedern rasant an Bedeutung gewinnt und jetzt schon 40 Prozent der Weltbevölkerung, 30 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung repräsentiert?
Scholz: Nein, die G20 werden auch weiter wichtig sein, richtigerweise. Und die indonesische G20-Präsidentschaft im letzten Jahr, die indische in diesem Jahr und die nächste, die brasilianische, die werden einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass dieses auch so gesehen wird. Denn unsere große Aufgabe ist ja, dafür zu sorgen, dass wir auf Augenhöhe mit den aufstrebenden Nationen Asiens, im Süden Amerikas und Afrikas die Welt der Zukunft gemeinsam gestalten. Und das ist auch eine große, ich will sagen, verdammte Verpflichtung von uns.
Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschlandfunk-Studio mit Journalist Stephan Detjen beim Interview der Woche
"Unsere große Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass wir auf Augenhöhe mit den aufstrebenden Nationen Asiens, im Süden Amerikas und Afrikas die Welt der Zukunft gemeinsam gestalten", sagt Bundeskanzler Olaf Scholz. (Deutschlandradio / Christian Kruppa)
Denn wir im Westen Europas, im Norden Amerikas und manche andere, haben ja doch mit der kolonialen Geschichte und Vergangenheit in vielen dieser Länder eine Verantwortung, dass wir die heutige gute Entwicklung möglich machen. Und viele haben nicht vergessen, dass das gar nicht so lange zurückliegt. Die Kolonialzeit – in manchen Ländern hat die erst in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts geendet. Deshalb ist das jetzt der Moment, wo wir für diese Augenhöhe alles investieren. Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich mit vielen der Staats- und Regierungschefs aus diesen Ländern rede, übrigens auch einer der Gründe, warum ich bei dem G7-Gipfel der wirtschaftsstarken Demokratien in Deutschland zum Beispiel Indonesien, Indien, Südafrika, den Senegal und Argentinien eingeladen hatte.

Augenhöhe mit aufstrebenden Nationen „wirklich herstellen“

Detjen: Und ich fand das interessant, dass Sie ja – Sie haben es gesagt – diese Länder eingeladen haben, viele Gespräche geführt haben auf Reisen nach Asien, nach Afrika, nach Südamerika. Und mir ist eine Rede in Erinnerung geblieben, die Sie im Mai bei einer Veranstaltung der Deutschen Welle gehalten haben. Und Sie haben gesagt – ich zitiere mal: „Sie“ – also diese Politiker – „erwarten Repräsentation auf Augenhöhe, sie erwarten ein Ende der westlichen Doppelmoral“. Welche Beispiele sind Ihnen, welche konkreten Beispiele sind Ihnen vor Augen geführt worden, wenn es um westliche Doppelmoral geht?
Scholz: Wenn wir uns gegen zum Beispiel den Versuch, militärisch das Nachbarland zu erobern, wehren, dann erwarten alle, dass wir das auch machen in allen andere Fällen – richtigerweise –, dass wir sagen, das darf nicht sein. Und das gilt für viele, viele anderen Sachen. Viele erwarten, dass wir die eigenständige Entwicklung dieser Länder für uns respektieren. Und ich für mich, für Deutschland, kann sagen, das tun wir auch. Und ich bin überzeugt, dass das auch eine gemeinsame neue Politik zum Beispiel Europas, aber auch unserer Freude auf der anderen Seite des Atlantiks geworden ist. Die G7 haben das für sich zum Kurs gemacht, da gibt es Grund, dass wir diese Augenhöhe auch wirklich herstellen.

"Eine eigenständige Entwicklung respektieren"

Detjen: Aber was heißt das, „eigenständige Entwicklungen respektieren“? Sie sind da in einer Situation, wo auch in dem globalen Wettstreit um Allianzen, um Rohstoffe, um Lieferketten, China und auch Russland durch die Welt touren und sagen: Wir bieten Partnerschaften, in denen Moral überhaupt keine Rolle spielt, Werte spielen da keine Rolle, während Ihre Regierung sich eine weitergeleitete Außenpolitik, eine feministische Außenpolitik auf die Fahnen geschrieben hat.
Ist das vor dem Hintergrund dessen, was Sie jetzt gerade gesagt haben, noch zeitgemäß oder – schlimmer noch – verstärkt das vielleicht sogar diesen Eindruck einer Doppelmoral, wenn man sich einerseits immer wieder auf Werte beruft, aber andererseits dann, wenn es um eigene Rohstoffinteressen zum Beispiel geht, die dann doch sehr rigide durchsetzt?
Scholz: Viele der Länder, über die wir jetzt hier reden, haben zum Beispiel bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilt. Und trotzdem ist es so, dass diese Länder sich nicht einfach irgendwo zuordnen wollen, also zum Westen oder zu anderen Staatenbündnissen, sondern eigenständig Politik machen wollen – das ist vertretbar. Und wenn man das respektiert, dann werden auch viele Gemeinsamkeiten möglich – übrigens mit den Ländern sowieso, die da selber Demokratien sind – und natürlich auch, indem wir zum Beispiel faire Partnerschaften anbieten.
Nehmen wir Rohstoffe: Die werden ja gar nicht, wie einige denken, in einem großen Land der Welt alle gefördert, viele davon werden dort verarbeitet. Und deshalb ist es doch wichtig, wenn wir sagen, wir bieten an, dass zum Beispiel die erste Verarbeitung von Rohstoffen, die in diesen Ländern gewonnen werden, auch dort stattfindet, sodass dort Wertschöpfung und Arbeitsplätze auch besser möglich sind als heute. Und das haben viele genau verstanden, dass wir diese Fairness auch herstellen wollen.
Detjen: Heißt das dann auch ein Umdenken in Deutschland? Ich habe nochmal ein Zitat von der Reise zum letzten G20-Gipfel, einer Zwischenstation in Vietnam, in Hanoi. Und da haben Sie gesagt – Zitat: „Natürlich hat es in der Vergangenheit eine Rolle gespielt, dass viele“, und zwar deutsche Unternehmen, „sich nicht getraut haben, Investitionen in aller Welt zu tätigen, wenn es etwa um den Bergbau geht, weil damit viele kritische Diskussionen verbunden waren“. Und dann haben Sie gesagt: Jetzt müssten eigentlich alle verstehen, dass wir angesichts der neuen Weltlage an vielen Stellen der Welt Rohstoffe abbauen müssen.
Heißt das dann übersetzt, also, wenn es darum geht, dann darf man eben nicht mehr so viel wie in der Vergangenheit über Arbeitsbedingungen, über Naturschutz Fragen stellen, die deutsche Unternehmen dann möglicherweise vor nötigen Investitionen abschrecken?
Scholz: Nein, das Gegenteil ist richtig. Wir sollten aktiv sagen, dass wir es in Ordnung finden, wenn dort Rohstoffe gewonnen und auch zum Beispiel in der ersten Verarbeitungsstufe verarbeitet werden.
Detjen: Aber nicht so viele kritische Diskussionen darüber führen?
Scholz: Aber wir sollten diese Diskussionen nicht so führen, dass wir sagen, das darf nicht stattfinden, sondern so, dass wir sagen, mit den Partnern und den Unternehmen, die das machen, unterstützt von uns, wird es einen Blick geben auf gute Arbeitsverhältnisse, wird es um die Frage gehen, können die Umweltbedingungen so organisiert werden, dass die Landschaften nicht zerstört werden. Das ist doch alles gleichzeitig möglich.
Detjen: Letzte Frage, Herr Bundeskanzler. Bei dem erwähnten letzten G20-Gipfel in Bali gab es – für viele dann doch überraschend – eine gemeinsame Abschlusserklärung, die sich recht deutlich als Verurteilung des russischen Angriffskrieges lesen ließ. Es heißt da, die meisten Mitglieder der G20 verurteilten den Krieg aufs Schärfste, es wurde das unermessliche menschliche Leid beklagt. Was erwarten Sie vom jetzigen G20-Gipfel in Indien? Kann man da erwarten, dass die Sprache, die Wortwahl da nochmal schärfer ausfällt oder wären Sie schon froh, wenn man nicht hinter die Wortwahl des letzten G20-Gipfels in Bali zurückfällt?
Scholz: Zunächst einmal haben sie völlig Recht, das war ein großer Erfolg, was bei den G20 in Indonesien auf Bali entschieden wurde. Dort haben wir nicht nur eine solche Stellungnahme verfassen können, sondern ja auch noch davor gewarnt, Atomwaffen einzusetzen – was ich sehr wichtig fand und auch richtig eine Auswirkung hatte. Und jetzt diskutieren wir darüber, wie wir ein möglichst gutes Ergebnis, das nicht schlechter ist als das, was in Indonesien möglich war, erzielen können. Wir hätten, was das indonesische Abschlussdokument betrifft, das auch nicht lange vorher vorhersagen können, wie es nun genau ausgeht. Deshalb macht es auch keinen Sinn, jetzt zu spekulieren. Aber wie ich das sehe und was ich gut finde, das ist ja nicht geheim.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.