Eine Berliner Arztpraxis in Prenzlauer Berg. Im Wartezimmer ist es ruhig. Gut einen Monat ist es her, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO die Schweinegrippe zur Pandemie erklärt hat, zu einer Infektionskrankheit also, die den ganzen Globus erfasst. Damals kamen viele Patienten sehr besorgt zu Dr. Thomas Georgi:
"Also am Anfang gab es schon Fragen, ob man nicht ein Rezept mit Tamiflu aufgeschrieben bekommen könnte. So mit flehenden Augen wird man als Arzt dann angesehen: Bitte retten Sie mich und meine Familie und verschreiben Sie mir Tamiflu. Leicht überzeichnet."
Ein Mann bat sogar um einen Test auf die Schweinegrippe, weil ihn sonst seine Urlaubsgruppe nicht mit auf die Reise nehmen wollte. Nicht nur die Bürger, auch die Behörden waren nervös, versuchten alles, um die Bedrohung durch das Virus H1N1 einzuschätzen. Am Berliner Robert-Koch-Institut wurde rund um die Uhr an der Beschreibung der Viren gearbeitet. Eine Anstrengung, die auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Besuch würdigte:
"Wir sind in sehr engem Kontakt, wir befassen uns auch als Kabinett regelmäßig mit der Entwicklung. Und ich glaube, dass hier wirklich intensiv und herausragend gearbeitet wird. Gerade als es um die Isolierung des Virus ging und alles, was daraus folgt, kann Deutschland mit Stolz sagen, dass wir auch im europäischen Kontext sehr schnell waren und auch international sehr schnell sehr gute Daten zur Verfügung stellen konnten."
Am Robert-Koch-Institut wird immer noch geforscht, die Ausbreitung des Erregers nachgezeichnet, doch die Mitarbeiter haben einen Gang zurückgeschaltet. Es ist Normalität eingekehrt, nach der anfänglichen Aufregung wird die Schweinegrippe jetzt kompetent aber ruhig verwaltet. Das gilt auch für den Arbeitsstab Schweinegrippe beim Berliner Senat. Wo vor Wochen rund dreißig Mitarbeiter hektisch Informationen beschafft, Pandemiepläne aktualisiert und alle Behörden koordiniert haben, sind jetzt gerade noch sechs Mitarbeiter zu finden. Auch die fehlen anderswo, so bleibt zum Beispiel die Schädlingsbekämpfungsverordnung liegen. Das lässt sich aber nicht vermeiden, meint Dr. Marlen Suckau, die Infektionsschutzbeauftragte des Landes Berlin:
"Also wir konzentrieren uns jetzt ganz, ganz eindeutig auf die Vorbereitung der weiteren Ausbreitung von H1N1 in Berlin."
Die Wachsamkeit lohnt sich. Als am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium erst vier, dann 13 Schüler erkrankten, reagierte Berlin schnell. Die Betroffenen und ihre Angehörigen erhielten das Grippemedikament Tamiflu, die Erkrankten wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben. Kontrollen gab es aber keine. Zusätzlich blieb die Schule eine Woche lang geschlossen. Die Zeugnisse durften aber schon wieder verteilt werden. Marlen Suckau:
"Dadurch, dass wir jetzt auch keine weiteren Meldungen explosionsartig bekommen haben, sondern dass es sich auf diese 13, vielleicht noch ein, zwei weitere Fälle beschränken wird, spricht dafür, dass es eine vernünftige Maßnahme war und dass dann aber auch der Ausbruch erst mal beendet ist."
Dieser Ausbruch ist vorbei, doch die Zahl der Infizierten steigt langsam aber beständig weiter an. Berlin zählt über 20 Infizierte, deutschlandweit sind fast 800 Menschen erkrankt, und für den Globus insgesamt berichtet die WHO schon von rund 120.000 Fällen der Schweinegrippe. Etwa 700 Menschen sind gestorben. Die meisten in den USA, Mexiko und Argentinien, aber auch in England und Spanien hat die Schweinegrippe erste Opfer gefordert. Jeder Einzelfall ist zu beklagen. Trotzdem: Das neue Virus H1N1 scheint nicht gefährlicher zu sein, als die ganz gewöhnliche Influenza. Die saisonale Grippe fordert jeden Winter zwischen 5000 und 11.000 Menschenleben allein in Deutschland. Ist die Gefahr, die von der Schweinegrippe ausgeht von der Weltgesundheitsorganisation und den deutschen Behörden also völlig übertrieben dargestellt worden? Dr. Wolfgang Becker-Brüser von der pharmakritischen Zeitschrift Arzneitelegramm aus Berlin:
"Am Anfang muss man grundsätzlich vorsichtig sein, das ist richtig, aber man sollte auch die Kirche im Dorf lassen und nicht zu sehr auf Panik machen."
Wolfgang Becker-Brüser bemängelt, dass die WHO bei ihrer Warnung vor einer Pandemie rein formal vorgeht. Laut Definition ist eine Pandemie eine neue Infektionskrankheit, die sich auf mindestens zwei Kontinenten ausbreitet - ganz gleich, wie mild oder tödlich die Krankheit verläuft.
"Es wird dabei nicht genügend berücksichtigt, inwieweit die Virusgrippe wirklich gefährlich ist. Also da reicht es nicht formal vorzugehen, sondern da muss man auch inhaltlich gucken, wie gefährlich ist der Virus denn überhaupt."
Die Gefährlichkeit eines Erregers kann sich aber von Region zu Region unterscheiden. Anders als die meisten Menschen reagieren etwa die Inuit in Alaska auf die Schweinegrippe mit schweren Symptomen. Es ist deshalb sinnvoll, wenn sich die WHO für ihre Pandemieplanung auf formale Kriterien stützt, so Dr. Gerard Krause. Der Leiter der Abteilung Infektionsepidemiologie am Berliner Robert-Koch-Institut will den Bürgern vermitteln, dass eine Pandemie nicht automatisch so dramatisch wie die spanische Grippe verlaufen muss, die zwischen 1918 und 1919 über 25 Millionen Opfer forderte:
"Insofern ist, glaube ich, das Missverständnis eher, dass man sich unter Phase sechs immer ein Horrorszenario vorgestellt hat, wie das 1918 vielleicht war, aber so wie 1918 wird es nie mehr kommen, das wissen wir ganz gewiss. Also wir haben ein besseres Gesundheitssystem, wir haben die ganzen Instrumente zur Verfügung, also so eine schwere Situation werden wir nicht mehr erleben. Aber wahrscheinlich war die Wahrnehmung, dass eben diese Pandemiephase sechs gleichzusetzen ist mit so einem schweren Szenario, hat vielleicht mit dazu beigetragen, dass man sich jetzt wundert, wo bleibt das schlimme Szenario, wenn wir jetzt schon Phase sechs haben. Es ist aber richtig, dass wir Phase sechs haben."
Anders als bei der spanischen Grippe erlaubt ja gerade die weltweite - von der WHO koordinierte - Pandemieplanung eine Vorbereitung auf eine mögliche dramatische Entwicklung der Schweinegrippe. Deutschland ist im Moment noch in der Frühphase der Epidemie, sie beginnt aber langsam, sich zu verändern. Während anfangs die Krankheit meist von Urlaubern importiert wurde, stecken sich inzwischen mehr als die Hälfte der Neuinfizierten im Lande selbst an.
"Es ist also keine reine reisemedizinische Krankheit mehr. Das haben wir aber so erwartet, und das wird sich auch weiter in diese Richtung entwickeln. Was wir noch nicht beobachten in Deutschland - zum Glück - ist eine eigenständige Übertragung innerhalb Deutschlands über dritte und vierte und fünfte Fälle hinaus. Wir konnten bis jetzt noch immer jeden Fall, der hier aufgetreten ist, zurückführen auf einen konkreten anderen Fall, der importiert war."
Das wird sich aber irgendwann ändern. Die Ausbrüche an den Schulen sind dafür erste Anzeichen. Deutschland ist es bislang gelungen, durch die Isolierung der Erkrankten und ihrer Angehörigen die Ausbreitung des Virus jeweils wieder zu stoppen. In Ländern, die bereits länger mit der Schweinegrippe konfrontiert sind, ist das nicht mehr möglich, so Marlen Suckau, die Infektionsschutzbeauftragte von Berlin.
"Deswegen schauen wir uns natürlich auch an, was passiert in den Vereinigten Staaten, was passiert in Großbritannien, und da ist es schon so, dass sie sich gar nicht mehr in dieser Tiefe um Kontaktpersonen kümmern können, dass sie einfach mit dem Management der Erkrankungsfälle wirklich ausreichend beschäftigt sind und sich also auch von der Strategie her schon ein anderes Vorgehen überlegen mussten."
Dieser Wechsel der Strategie, weg von der intensiven Kontrolle jedes einzelnen lokalen Ausbruchs hin zu einer Versorgung einer größeren Zahl von Erkrankten hält Gerard Krause vom Robert-Koch-Institut auch in Deutschland für unausweichlich. Sobald sich der Erreger beginnt in der breiten Bevölkerung auszubreiten wird es seiner Ansicht nach auch hierzulande die ersten Todesfälle geben:
"Wenn die Zahl der Infizierten insgesamt steigt, dann steigt auch die Gefahr oder das Risiko, dass Vorerkrankte, die normalerweise nicht in den Schulen sind, die normalerweise nicht nach Mexiko oder sonst wohin reisen, dass die auch betroffen sind. Und bei denen wiederum ist das Risiko schwer zu erkranken größer. In dem Maße, in dem die Zahl der Gesamtinfektionen steigt, steigt auch das Risiko oder steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir mit einer nennenswerten Zahl von schweren Erkrankungen zu tun haben werden, dass befürchten wir für den Herbst."
Zu Beginn hatte Allgemeinmediziner Thomas Georgi Patienten mit Grippesymptomen gefragt, ob sie Kontakt zu Reisenden aus Mexiko oder den USA hatten. Heute nimmt er gleich einen Abstrich:
"Das wird dann zum Labor eingesendet, und das geht relativ fix, und dann bekommen wir mindestens ein Ergebnis zurück: Liegen Grippeviren vor oder nicht. Das ist so die erste Entscheidung."
Einige Stunden dauert dieser Test. Ob es sich dann wirklich um die Schweinegrippe handelt, zeigen weitere Untersuchungen, die etwas mehr Zeit benötigen. Diese zusätzliche Information ist entscheidend für das Robert-Koch-Institut, um beurteilen zu können, wie sich die Infektion weiter ausbreitet. Für die Behandlung der Grippepatienten spielt sie aber keine Rolle. Denen verschreibt Thomas Georgi so schnell es geht das Medikament Tamiflu.
"Wenn die Symptome 24 bis maximal 48 Stunden alt sind und dann der Patient bekommt, dann kann es den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst, das heißt, der Krankheitsverlauf ist leichter. Und das berichten auch die Patienten, die sagen, gut, nach drei vier Tagen, jetzt geht es mir wieder deutlich besser. Allerdings ist es nicht so, dass Tamiflu dann eben hundertprozentig heilen kann, und ich denke, es wird in seiner Wirkung auch etwas überschätzt."
Pharmakritiker Wolfgang Becker-Brüser betont:
"Die Infektion wird verkürzt, wenn man es therapeutisch anwendet, aber man bekommt den relevanten Effekt nicht, den man sich erhofft hat, dass nämlich weniger Menschen sterben oder dass die Folgeerkrankungen, die bedrohlichen Folgeerkrankungen reduziert werden", "
Es ist zwar plausibel, dass Tamiflu auch die Sterblichkeit senkt, aber es gibt dazu keine wissenschaftlichen Studien. Der Effekt bleibt letztlich eine Vermutung. Deshalb, so Wolfgang Becker-Brüser, gaukele die in Deutschland mit großem Aufwand betriebene Einlagerung der Grippemedikamente nur eine Scheinsicherheit vor.
""In Deutschland, was die Informationspolitik bezogen auf die Wirksamkeit der verwendeten Mittel angeht, ist die Informationspolitik eine schlichte Katastrophe, weil sie eigentlich nicht informiert über Nutzen und Risiken der Produkte, die verwendet werden können."
Das sieht Gerard Krause vom Berliner Robert-Koch-Institut ganz anders. Auch er weiß, dass die Medikamente keine Wunder bewirken. Für den einzelnen Patienten seien sie aber die beste verfügbare Behandlung, und für die Bevölkerung insgesamt könnten sie dazu beitragen, die Ausbreitung des Erregers zu verlangsamen. Schließlich würden die Medikamente ja nicht nur den schon Erkrankten, sondern auch ihren Kontaktpersonen und den Medizinern gegeben.
"Also, wenn man zum Beispiel im Laborbereich arbeitet, wenn man konkret einen Patienten untersucht hat, der sich herausstellt als influenzaerkrankter Mensch, dann würde man unmittelbar die antivirale Medikation als Prophylaxe geben."
So soll einer Ansteckung und damit auch der weiteren Ausbreitung von H1N1 vorgebeugt werden. Wolfgang Becker-Brüser hält aber auch den Sinn dieser Anwendung für nicht ausreichend belegt und sieht die Einlagerung der Medikamente sehr kritisch:
"Man muss sich vorher überlegen, wofür man Millionen von Euro, in diesem Fall Hunderte von Millionen, ausgibt. Da gibt es ja mehrere Probleme. Das eine ist, dass letztendlich der tatsächliche Nutzen - also weniger Sterben weniger schwere Folgeerkrankungen - gar nicht belegt ist. Anderseits kommt noch hinzu, dass es inzwischen Resistenzen gegen Tamiflu gibt. Dass also das Produkt zunehmend seine Wirksamkeit verliert."
Die Berliner Infektionsschutzbeauftragte Marlen Suckau gibt zu bedenken:
"Ja, ich denke, dass man heute natürlich vortrefflich darüber debattieren kann, ob diese Entscheidungen richtig waren. Ich denke, man muss in jedem Fall fairerweise berücksichtigen, dass die Entscheidung für eine Bevorratung in den Jahren 2005, 2006, 2007 getroffen wurde, vor dem Hintergrund eines aggressiven H5N1-Virus."
Die Vogelgrippe sei für die damalig Erkrankten deutlich gefährlicher gewesen, als die aktuelle Schweinegrippe. Von daher habe auch die Kosten-Nutzen-Relation anders ausgesehen. Auch sie aber verfolgt aufmerksam die Meldungen der WHO zu Resistenzen. Bislang gab es weltweit drei isolierte Fälle, in denen der Erreger der Schweinegrippe nicht mehr auf Tamiflu ansprach. Das Virus reagierte aber auch bei diesen Erkrankten auf Relenza, das zweite antivirale Medikament. Die resistenten Viren haben sich bislang auch nicht weiter ausgebreitet. Trotzdem, je häufiger die Medikamente verschrieben werden, desto schneller wird es zu weiteren Resistenzen kommen. Auf Dauer kann deshalb nur ein Impfstoff der Schweinegrippe wirksam Einhalt gebieten. Im Prinzip sieht das auch Wolfgang Becker-Brüser so.
"Es kann einen Sinn machen, einen Impfstoff zu produzieren und auch zu verimpfen, wenn wirklich eine gravierende Pandemie eintritt. Im Moment sieht es ehrlich gesagt nicht so aus. Man muss auch wissen, dass, wenn jetzt der Pandemieimpfstoff hergestellt wird, sehr wahrscheinlich der normale Impfstoff nicht oder weniger produziert werden kann. Weil die Kapazitäten einfach nicht da sind."
Fakt ist: Es kann nicht gegen jedes Grippevirus geimpft werden. Entweder bereiten sich die Hersteller auf die normale, saisonale Grippe vor, oder auf die Schweinegrippe. Gerard Krause vom Robert-Koch-Institut hält die Produktion eines Pandemieimpfstoffs aber für sinnvoll, auch wenn die Schweinegrippe derzeit eher leichte Krankheitsverläufe verursacht:
"Also es ist in der Tat vergleichbar mit der saisonalen Influenza. Wir haben im Moment keinen Anhalt, dass es eine schwerere Krankheit ist. Es ist vielleicht sogar ein bisschen leichter, mit dem was wir im Moment wissen. Aber bei der saisonalen Influenza müssen wir daran erinnern, da impfen wir auch."
Von der Gefährlichkeit sind beide Grippeformen zurzeit gleichwertig. Die Viren der saisonalen Grippe ähneln sich aber von Jahr zu Jahr. Die Bevölkerung hat deshalb zumindest eine Teilimmunität, die es gegen die Schweinegrippe nicht gibt. Ein wichtiges Argument für die Umstellung auf einen Pandemieimpfstoff. Die WHO hat den Herstellern Saatviren zur Verfügung gestellt, die jetzt an die Produktion angepasst werden müssen. Ende Herbst, Anfang Winter sollte dann der Impfstoff fertig sein. Gerard Krause:
"Weltweit wird ganz sicher nicht genug Impfstoff zur Verfügung stehen. Deutschland hat eine besonders gute Situation, dadurch, dass zwei Hersteller in der Lage sind, den Impfstoff herzustellen und auch ihre Werke in Deutschland haben, und dass auch entsprechende Vorabsprachen getroffen wurden, sodass wenn der Bedarf besteht, entsprechend an Deutschland geliefert werden kann."
Gut für Deutschland, schlecht für viele Entwicklungsländer, die befürchten, keinen Impfstoff zu erhalten, weil er ihnen schlicht weggekauft wird. Dabei würde er dort zurzeit am dringendsten benötigt. Südlich des Äquators ist Grippesaison, H1N1 deshalb auf dem Vormarsch, erläutert Prof. Jörg Hacker, Präsident des Robert-Koch-Institutes:
"Im Moment gucken wir mit Sorge auf die südliche Halbkugel Australien und auch Südamerika, Chile, Argentinien, wo sich das neue Virus ausbreitet. Wir haben erste Berichte, dass es neben den saisonalen Viren auftritt bzw. saisonale Stämme verdrängen könnte. Also insofern müssen wir hier damit rechnen, dass möglicherweise das Virus sich verändert, sein Erbmaterial verändert und im Herbst in veränderter Form auf die nördliche Halbkugel und damit auch nach Deutschland zurückkommt."
90 Prozent der Grippefälle auf der Südhalbkugel werden durch das H1N1-Virus verursacht. Das ist keine Überraschung, schließlich kann es gegen ein neues Virus noch keinerlei Abwehrkräfte geben, es breitet sich deshalb schneller aus, besetzt sozusagen die ökologische Nische Mensch, bevor die saisonale Grippe Fuß fassen kann. Dass das Virus dabei an Aggressivität gewinnt, ist für die Virologin Prof. Regine Heilbronn von der Freien Universität Berlin aufgrund der historischen Erfahrungen durchaus wahrscheinlich:
"Das hat man häufig im Nachhinein festgestellt, dass es ein Vorläufervirus gab, in den Jahren zuvor eine relativ harmlosere Vorvariante, die dann an Aggressivität hinzugewonnen hat. Je mehr sich dieses neue Virus ausbreitet, desto höher ist die Chance entweder spontan zu mutieren oder in Kontakt mit anderen kursierenden Grippeviren neue Eigenschaften hinzuzugewinnen, im schlimmsten Fall eben sehr stark krankmachende. Insofern muss man damit rechnen im schlimmsten Fall, dass in einer zweiten Welle dann deutlich mehr Krankheitsfälle und auch Todesfälle auftreten können."
Ob eine bedrohlichere Schweinegrippe schon in diesem Winter oder erst ein Jahr später oder vielleicht gar nicht auftreten wird, das kann derzeit niemand verlässlich sagen. Offen ist auch, welche Auswirkungen eine solche aggressive Grippe hätte. Einerseits ist das Gesundheitssystem viel leistungsstärker als 1918, andererseits kann das Virus heute per Flugzeug schnell alle Ecken dieser Welt erreichen. Für den Fall der Fälle gibt es die Pandemiepläne, die alle Nationen, alle Bundesländer in der Schublade haben. In Berlin wie überall achten die Behörden auch darauf, dass wichtige Betriebe wissen, wie sie auf einen massiven Grippeausbruch reagieren müssen. Marlen Suckau:
"Gasversorger, die sollten dafür achten, dass selbst wenn bei ihnen die erwarteten Krankheitsausfälle von 30 Prozent auftreten, dass sie trotzdem weiter funktionieren. Und dann müssen sie eben die entsprechenden Strukturen schaffen mit Umschichtungen und Verstärkungen von Schlüsselpersonal, dass so ein Kernbereich eben für Berlin trotzdem aufgestellt bleibt."
Der Einzelne kann sich auf eine Grippeepidemie kaum sinnvoll vorbereiten. Für Panik besteht zurzeit trotzdem kein Anlass. Der Arzt Thomas Georgi rät Menschen mit Grippesymptomen, in den Ärmel zu niesen und zu husten und nicht einfach die Viren im Raum zu verteilen. Und für Kranke und Gesunde gleichermaßen gilt: häufig die Hände waschen und zwar gründlich mit Seife. Vielleicht wirkt die Schweinegrippe ja erzieherisch und macht diese einfachen Hygieneregeln zu einer Selbstverständlichkeit. Thomas Georgi:
"Also, wenn man mal auf einer öffentlichen Toilette beobachtet, wie lange sich die Leute dort die Hände waschen, dann sind das selten über zehn Sekunden. Um eine Kontamination zu verhindern, ist es schon notwendig, sich doch circa 30 Sekunden sich die Hände zu waschen. Ich hoffe auch, dass sich vielleicht in unserer Gesellschaft durch die Warnung vor bestimmten Erkrankungen auch sich langsam und sachte bestimmte Verhaltensweisen ändern. Das wäre durchaus ein positiver Effekt, der uns natürlich auch bei der sogenannten ganz normalen jährlichen Grippewelle helfen würde."
Marlen Suckau ist in jedem Fall zufrieden mit dem Stand der Vorbereitungen:
"Wir haben das getan, was man im Moment tun kann. Gelassenheit habe ich dabei trotzdem nicht, weil der Erreger einige Anzeichen zeigt, dass er nicht zu unterschätzen ist, dass er uns vermutlich noch eine ganze Weile beschäftigen wird, und insofern erwarte ich einfach auch spätestens für den Herbst, dass wir hier mit einer sehr interessanten epidemiologischen Situation konfrontiert sein werden."
"Also am Anfang gab es schon Fragen, ob man nicht ein Rezept mit Tamiflu aufgeschrieben bekommen könnte. So mit flehenden Augen wird man als Arzt dann angesehen: Bitte retten Sie mich und meine Familie und verschreiben Sie mir Tamiflu. Leicht überzeichnet."
Ein Mann bat sogar um einen Test auf die Schweinegrippe, weil ihn sonst seine Urlaubsgruppe nicht mit auf die Reise nehmen wollte. Nicht nur die Bürger, auch die Behörden waren nervös, versuchten alles, um die Bedrohung durch das Virus H1N1 einzuschätzen. Am Berliner Robert-Koch-Institut wurde rund um die Uhr an der Beschreibung der Viren gearbeitet. Eine Anstrengung, die auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Besuch würdigte:
"Wir sind in sehr engem Kontakt, wir befassen uns auch als Kabinett regelmäßig mit der Entwicklung. Und ich glaube, dass hier wirklich intensiv und herausragend gearbeitet wird. Gerade als es um die Isolierung des Virus ging und alles, was daraus folgt, kann Deutschland mit Stolz sagen, dass wir auch im europäischen Kontext sehr schnell waren und auch international sehr schnell sehr gute Daten zur Verfügung stellen konnten."
Am Robert-Koch-Institut wird immer noch geforscht, die Ausbreitung des Erregers nachgezeichnet, doch die Mitarbeiter haben einen Gang zurückgeschaltet. Es ist Normalität eingekehrt, nach der anfänglichen Aufregung wird die Schweinegrippe jetzt kompetent aber ruhig verwaltet. Das gilt auch für den Arbeitsstab Schweinegrippe beim Berliner Senat. Wo vor Wochen rund dreißig Mitarbeiter hektisch Informationen beschafft, Pandemiepläne aktualisiert und alle Behörden koordiniert haben, sind jetzt gerade noch sechs Mitarbeiter zu finden. Auch die fehlen anderswo, so bleibt zum Beispiel die Schädlingsbekämpfungsverordnung liegen. Das lässt sich aber nicht vermeiden, meint Dr. Marlen Suckau, die Infektionsschutzbeauftragte des Landes Berlin:
"Also wir konzentrieren uns jetzt ganz, ganz eindeutig auf die Vorbereitung der weiteren Ausbreitung von H1N1 in Berlin."
Die Wachsamkeit lohnt sich. Als am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium erst vier, dann 13 Schüler erkrankten, reagierte Berlin schnell. Die Betroffenen und ihre Angehörigen erhielten das Grippemedikament Tamiflu, die Erkrankten wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben. Kontrollen gab es aber keine. Zusätzlich blieb die Schule eine Woche lang geschlossen. Die Zeugnisse durften aber schon wieder verteilt werden. Marlen Suckau:
"Dadurch, dass wir jetzt auch keine weiteren Meldungen explosionsartig bekommen haben, sondern dass es sich auf diese 13, vielleicht noch ein, zwei weitere Fälle beschränken wird, spricht dafür, dass es eine vernünftige Maßnahme war und dass dann aber auch der Ausbruch erst mal beendet ist."
Dieser Ausbruch ist vorbei, doch die Zahl der Infizierten steigt langsam aber beständig weiter an. Berlin zählt über 20 Infizierte, deutschlandweit sind fast 800 Menschen erkrankt, und für den Globus insgesamt berichtet die WHO schon von rund 120.000 Fällen der Schweinegrippe. Etwa 700 Menschen sind gestorben. Die meisten in den USA, Mexiko und Argentinien, aber auch in England und Spanien hat die Schweinegrippe erste Opfer gefordert. Jeder Einzelfall ist zu beklagen. Trotzdem: Das neue Virus H1N1 scheint nicht gefährlicher zu sein, als die ganz gewöhnliche Influenza. Die saisonale Grippe fordert jeden Winter zwischen 5000 und 11.000 Menschenleben allein in Deutschland. Ist die Gefahr, die von der Schweinegrippe ausgeht von der Weltgesundheitsorganisation und den deutschen Behörden also völlig übertrieben dargestellt worden? Dr. Wolfgang Becker-Brüser von der pharmakritischen Zeitschrift Arzneitelegramm aus Berlin:
"Am Anfang muss man grundsätzlich vorsichtig sein, das ist richtig, aber man sollte auch die Kirche im Dorf lassen und nicht zu sehr auf Panik machen."
Wolfgang Becker-Brüser bemängelt, dass die WHO bei ihrer Warnung vor einer Pandemie rein formal vorgeht. Laut Definition ist eine Pandemie eine neue Infektionskrankheit, die sich auf mindestens zwei Kontinenten ausbreitet - ganz gleich, wie mild oder tödlich die Krankheit verläuft.
"Es wird dabei nicht genügend berücksichtigt, inwieweit die Virusgrippe wirklich gefährlich ist. Also da reicht es nicht formal vorzugehen, sondern da muss man auch inhaltlich gucken, wie gefährlich ist der Virus denn überhaupt."
Die Gefährlichkeit eines Erregers kann sich aber von Region zu Region unterscheiden. Anders als die meisten Menschen reagieren etwa die Inuit in Alaska auf die Schweinegrippe mit schweren Symptomen. Es ist deshalb sinnvoll, wenn sich die WHO für ihre Pandemieplanung auf formale Kriterien stützt, so Dr. Gerard Krause. Der Leiter der Abteilung Infektionsepidemiologie am Berliner Robert-Koch-Institut will den Bürgern vermitteln, dass eine Pandemie nicht automatisch so dramatisch wie die spanische Grippe verlaufen muss, die zwischen 1918 und 1919 über 25 Millionen Opfer forderte:
"Insofern ist, glaube ich, das Missverständnis eher, dass man sich unter Phase sechs immer ein Horrorszenario vorgestellt hat, wie das 1918 vielleicht war, aber so wie 1918 wird es nie mehr kommen, das wissen wir ganz gewiss. Also wir haben ein besseres Gesundheitssystem, wir haben die ganzen Instrumente zur Verfügung, also so eine schwere Situation werden wir nicht mehr erleben. Aber wahrscheinlich war die Wahrnehmung, dass eben diese Pandemiephase sechs gleichzusetzen ist mit so einem schweren Szenario, hat vielleicht mit dazu beigetragen, dass man sich jetzt wundert, wo bleibt das schlimme Szenario, wenn wir jetzt schon Phase sechs haben. Es ist aber richtig, dass wir Phase sechs haben."
Anders als bei der spanischen Grippe erlaubt ja gerade die weltweite - von der WHO koordinierte - Pandemieplanung eine Vorbereitung auf eine mögliche dramatische Entwicklung der Schweinegrippe. Deutschland ist im Moment noch in der Frühphase der Epidemie, sie beginnt aber langsam, sich zu verändern. Während anfangs die Krankheit meist von Urlaubern importiert wurde, stecken sich inzwischen mehr als die Hälfte der Neuinfizierten im Lande selbst an.
"Es ist also keine reine reisemedizinische Krankheit mehr. Das haben wir aber so erwartet, und das wird sich auch weiter in diese Richtung entwickeln. Was wir noch nicht beobachten in Deutschland - zum Glück - ist eine eigenständige Übertragung innerhalb Deutschlands über dritte und vierte und fünfte Fälle hinaus. Wir konnten bis jetzt noch immer jeden Fall, der hier aufgetreten ist, zurückführen auf einen konkreten anderen Fall, der importiert war."
Das wird sich aber irgendwann ändern. Die Ausbrüche an den Schulen sind dafür erste Anzeichen. Deutschland ist es bislang gelungen, durch die Isolierung der Erkrankten und ihrer Angehörigen die Ausbreitung des Virus jeweils wieder zu stoppen. In Ländern, die bereits länger mit der Schweinegrippe konfrontiert sind, ist das nicht mehr möglich, so Marlen Suckau, die Infektionsschutzbeauftragte von Berlin.
"Deswegen schauen wir uns natürlich auch an, was passiert in den Vereinigten Staaten, was passiert in Großbritannien, und da ist es schon so, dass sie sich gar nicht mehr in dieser Tiefe um Kontaktpersonen kümmern können, dass sie einfach mit dem Management der Erkrankungsfälle wirklich ausreichend beschäftigt sind und sich also auch von der Strategie her schon ein anderes Vorgehen überlegen mussten."
Dieser Wechsel der Strategie, weg von der intensiven Kontrolle jedes einzelnen lokalen Ausbruchs hin zu einer Versorgung einer größeren Zahl von Erkrankten hält Gerard Krause vom Robert-Koch-Institut auch in Deutschland für unausweichlich. Sobald sich der Erreger beginnt in der breiten Bevölkerung auszubreiten wird es seiner Ansicht nach auch hierzulande die ersten Todesfälle geben:
"Wenn die Zahl der Infizierten insgesamt steigt, dann steigt auch die Gefahr oder das Risiko, dass Vorerkrankte, die normalerweise nicht in den Schulen sind, die normalerweise nicht nach Mexiko oder sonst wohin reisen, dass die auch betroffen sind. Und bei denen wiederum ist das Risiko schwer zu erkranken größer. In dem Maße, in dem die Zahl der Gesamtinfektionen steigt, steigt auch das Risiko oder steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir mit einer nennenswerten Zahl von schweren Erkrankungen zu tun haben werden, dass befürchten wir für den Herbst."
Zu Beginn hatte Allgemeinmediziner Thomas Georgi Patienten mit Grippesymptomen gefragt, ob sie Kontakt zu Reisenden aus Mexiko oder den USA hatten. Heute nimmt er gleich einen Abstrich:
"Das wird dann zum Labor eingesendet, und das geht relativ fix, und dann bekommen wir mindestens ein Ergebnis zurück: Liegen Grippeviren vor oder nicht. Das ist so die erste Entscheidung."
Einige Stunden dauert dieser Test. Ob es sich dann wirklich um die Schweinegrippe handelt, zeigen weitere Untersuchungen, die etwas mehr Zeit benötigen. Diese zusätzliche Information ist entscheidend für das Robert-Koch-Institut, um beurteilen zu können, wie sich die Infektion weiter ausbreitet. Für die Behandlung der Grippepatienten spielt sie aber keine Rolle. Denen verschreibt Thomas Georgi so schnell es geht das Medikament Tamiflu.
"Wenn die Symptome 24 bis maximal 48 Stunden alt sind und dann der Patient bekommt, dann kann es den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst, das heißt, der Krankheitsverlauf ist leichter. Und das berichten auch die Patienten, die sagen, gut, nach drei vier Tagen, jetzt geht es mir wieder deutlich besser. Allerdings ist es nicht so, dass Tamiflu dann eben hundertprozentig heilen kann, und ich denke, es wird in seiner Wirkung auch etwas überschätzt."
Pharmakritiker Wolfgang Becker-Brüser betont:
"Die Infektion wird verkürzt, wenn man es therapeutisch anwendet, aber man bekommt den relevanten Effekt nicht, den man sich erhofft hat, dass nämlich weniger Menschen sterben oder dass die Folgeerkrankungen, die bedrohlichen Folgeerkrankungen reduziert werden", "
Es ist zwar plausibel, dass Tamiflu auch die Sterblichkeit senkt, aber es gibt dazu keine wissenschaftlichen Studien. Der Effekt bleibt letztlich eine Vermutung. Deshalb, so Wolfgang Becker-Brüser, gaukele die in Deutschland mit großem Aufwand betriebene Einlagerung der Grippemedikamente nur eine Scheinsicherheit vor.
""In Deutschland, was die Informationspolitik bezogen auf die Wirksamkeit der verwendeten Mittel angeht, ist die Informationspolitik eine schlichte Katastrophe, weil sie eigentlich nicht informiert über Nutzen und Risiken der Produkte, die verwendet werden können."
Das sieht Gerard Krause vom Berliner Robert-Koch-Institut ganz anders. Auch er weiß, dass die Medikamente keine Wunder bewirken. Für den einzelnen Patienten seien sie aber die beste verfügbare Behandlung, und für die Bevölkerung insgesamt könnten sie dazu beitragen, die Ausbreitung des Erregers zu verlangsamen. Schließlich würden die Medikamente ja nicht nur den schon Erkrankten, sondern auch ihren Kontaktpersonen und den Medizinern gegeben.
"Also, wenn man zum Beispiel im Laborbereich arbeitet, wenn man konkret einen Patienten untersucht hat, der sich herausstellt als influenzaerkrankter Mensch, dann würde man unmittelbar die antivirale Medikation als Prophylaxe geben."
So soll einer Ansteckung und damit auch der weiteren Ausbreitung von H1N1 vorgebeugt werden. Wolfgang Becker-Brüser hält aber auch den Sinn dieser Anwendung für nicht ausreichend belegt und sieht die Einlagerung der Medikamente sehr kritisch:
"Man muss sich vorher überlegen, wofür man Millionen von Euro, in diesem Fall Hunderte von Millionen, ausgibt. Da gibt es ja mehrere Probleme. Das eine ist, dass letztendlich der tatsächliche Nutzen - also weniger Sterben weniger schwere Folgeerkrankungen - gar nicht belegt ist. Anderseits kommt noch hinzu, dass es inzwischen Resistenzen gegen Tamiflu gibt. Dass also das Produkt zunehmend seine Wirksamkeit verliert."
Die Berliner Infektionsschutzbeauftragte Marlen Suckau gibt zu bedenken:
"Ja, ich denke, dass man heute natürlich vortrefflich darüber debattieren kann, ob diese Entscheidungen richtig waren. Ich denke, man muss in jedem Fall fairerweise berücksichtigen, dass die Entscheidung für eine Bevorratung in den Jahren 2005, 2006, 2007 getroffen wurde, vor dem Hintergrund eines aggressiven H5N1-Virus."
Die Vogelgrippe sei für die damalig Erkrankten deutlich gefährlicher gewesen, als die aktuelle Schweinegrippe. Von daher habe auch die Kosten-Nutzen-Relation anders ausgesehen. Auch sie aber verfolgt aufmerksam die Meldungen der WHO zu Resistenzen. Bislang gab es weltweit drei isolierte Fälle, in denen der Erreger der Schweinegrippe nicht mehr auf Tamiflu ansprach. Das Virus reagierte aber auch bei diesen Erkrankten auf Relenza, das zweite antivirale Medikament. Die resistenten Viren haben sich bislang auch nicht weiter ausgebreitet. Trotzdem, je häufiger die Medikamente verschrieben werden, desto schneller wird es zu weiteren Resistenzen kommen. Auf Dauer kann deshalb nur ein Impfstoff der Schweinegrippe wirksam Einhalt gebieten. Im Prinzip sieht das auch Wolfgang Becker-Brüser so.
"Es kann einen Sinn machen, einen Impfstoff zu produzieren und auch zu verimpfen, wenn wirklich eine gravierende Pandemie eintritt. Im Moment sieht es ehrlich gesagt nicht so aus. Man muss auch wissen, dass, wenn jetzt der Pandemieimpfstoff hergestellt wird, sehr wahrscheinlich der normale Impfstoff nicht oder weniger produziert werden kann. Weil die Kapazitäten einfach nicht da sind."
Fakt ist: Es kann nicht gegen jedes Grippevirus geimpft werden. Entweder bereiten sich die Hersteller auf die normale, saisonale Grippe vor, oder auf die Schweinegrippe. Gerard Krause vom Robert-Koch-Institut hält die Produktion eines Pandemieimpfstoffs aber für sinnvoll, auch wenn die Schweinegrippe derzeit eher leichte Krankheitsverläufe verursacht:
"Also es ist in der Tat vergleichbar mit der saisonalen Influenza. Wir haben im Moment keinen Anhalt, dass es eine schwerere Krankheit ist. Es ist vielleicht sogar ein bisschen leichter, mit dem was wir im Moment wissen. Aber bei der saisonalen Influenza müssen wir daran erinnern, da impfen wir auch."
Von der Gefährlichkeit sind beide Grippeformen zurzeit gleichwertig. Die Viren der saisonalen Grippe ähneln sich aber von Jahr zu Jahr. Die Bevölkerung hat deshalb zumindest eine Teilimmunität, die es gegen die Schweinegrippe nicht gibt. Ein wichtiges Argument für die Umstellung auf einen Pandemieimpfstoff. Die WHO hat den Herstellern Saatviren zur Verfügung gestellt, die jetzt an die Produktion angepasst werden müssen. Ende Herbst, Anfang Winter sollte dann der Impfstoff fertig sein. Gerard Krause:
"Weltweit wird ganz sicher nicht genug Impfstoff zur Verfügung stehen. Deutschland hat eine besonders gute Situation, dadurch, dass zwei Hersteller in der Lage sind, den Impfstoff herzustellen und auch ihre Werke in Deutschland haben, und dass auch entsprechende Vorabsprachen getroffen wurden, sodass wenn der Bedarf besteht, entsprechend an Deutschland geliefert werden kann."
Gut für Deutschland, schlecht für viele Entwicklungsländer, die befürchten, keinen Impfstoff zu erhalten, weil er ihnen schlicht weggekauft wird. Dabei würde er dort zurzeit am dringendsten benötigt. Südlich des Äquators ist Grippesaison, H1N1 deshalb auf dem Vormarsch, erläutert Prof. Jörg Hacker, Präsident des Robert-Koch-Institutes:
"Im Moment gucken wir mit Sorge auf die südliche Halbkugel Australien und auch Südamerika, Chile, Argentinien, wo sich das neue Virus ausbreitet. Wir haben erste Berichte, dass es neben den saisonalen Viren auftritt bzw. saisonale Stämme verdrängen könnte. Also insofern müssen wir hier damit rechnen, dass möglicherweise das Virus sich verändert, sein Erbmaterial verändert und im Herbst in veränderter Form auf die nördliche Halbkugel und damit auch nach Deutschland zurückkommt."
90 Prozent der Grippefälle auf der Südhalbkugel werden durch das H1N1-Virus verursacht. Das ist keine Überraschung, schließlich kann es gegen ein neues Virus noch keinerlei Abwehrkräfte geben, es breitet sich deshalb schneller aus, besetzt sozusagen die ökologische Nische Mensch, bevor die saisonale Grippe Fuß fassen kann. Dass das Virus dabei an Aggressivität gewinnt, ist für die Virologin Prof. Regine Heilbronn von der Freien Universität Berlin aufgrund der historischen Erfahrungen durchaus wahrscheinlich:
"Das hat man häufig im Nachhinein festgestellt, dass es ein Vorläufervirus gab, in den Jahren zuvor eine relativ harmlosere Vorvariante, die dann an Aggressivität hinzugewonnen hat. Je mehr sich dieses neue Virus ausbreitet, desto höher ist die Chance entweder spontan zu mutieren oder in Kontakt mit anderen kursierenden Grippeviren neue Eigenschaften hinzuzugewinnen, im schlimmsten Fall eben sehr stark krankmachende. Insofern muss man damit rechnen im schlimmsten Fall, dass in einer zweiten Welle dann deutlich mehr Krankheitsfälle und auch Todesfälle auftreten können."
Ob eine bedrohlichere Schweinegrippe schon in diesem Winter oder erst ein Jahr später oder vielleicht gar nicht auftreten wird, das kann derzeit niemand verlässlich sagen. Offen ist auch, welche Auswirkungen eine solche aggressive Grippe hätte. Einerseits ist das Gesundheitssystem viel leistungsstärker als 1918, andererseits kann das Virus heute per Flugzeug schnell alle Ecken dieser Welt erreichen. Für den Fall der Fälle gibt es die Pandemiepläne, die alle Nationen, alle Bundesländer in der Schublade haben. In Berlin wie überall achten die Behörden auch darauf, dass wichtige Betriebe wissen, wie sie auf einen massiven Grippeausbruch reagieren müssen. Marlen Suckau:
"Gasversorger, die sollten dafür achten, dass selbst wenn bei ihnen die erwarteten Krankheitsausfälle von 30 Prozent auftreten, dass sie trotzdem weiter funktionieren. Und dann müssen sie eben die entsprechenden Strukturen schaffen mit Umschichtungen und Verstärkungen von Schlüsselpersonal, dass so ein Kernbereich eben für Berlin trotzdem aufgestellt bleibt."
Der Einzelne kann sich auf eine Grippeepidemie kaum sinnvoll vorbereiten. Für Panik besteht zurzeit trotzdem kein Anlass. Der Arzt Thomas Georgi rät Menschen mit Grippesymptomen, in den Ärmel zu niesen und zu husten und nicht einfach die Viren im Raum zu verteilen. Und für Kranke und Gesunde gleichermaßen gilt: häufig die Hände waschen und zwar gründlich mit Seife. Vielleicht wirkt die Schweinegrippe ja erzieherisch und macht diese einfachen Hygieneregeln zu einer Selbstverständlichkeit. Thomas Georgi:
"Also, wenn man mal auf einer öffentlichen Toilette beobachtet, wie lange sich die Leute dort die Hände waschen, dann sind das selten über zehn Sekunden. Um eine Kontamination zu verhindern, ist es schon notwendig, sich doch circa 30 Sekunden sich die Hände zu waschen. Ich hoffe auch, dass sich vielleicht in unserer Gesellschaft durch die Warnung vor bestimmten Erkrankungen auch sich langsam und sachte bestimmte Verhaltensweisen ändern. Das wäre durchaus ein positiver Effekt, der uns natürlich auch bei der sogenannten ganz normalen jährlichen Grippewelle helfen würde."
Marlen Suckau ist in jedem Fall zufrieden mit dem Stand der Vorbereitungen:
"Wir haben das getan, was man im Moment tun kann. Gelassenheit habe ich dabei trotzdem nicht, weil der Erreger einige Anzeichen zeigt, dass er nicht zu unterschätzen ist, dass er uns vermutlich noch eine ganze Weile beschäftigen wird, und insofern erwarte ich einfach auch spätestens für den Herbst, dass wir hier mit einer sehr interessanten epidemiologischen Situation konfrontiert sein werden."